# taz.de -- Israel nach dem 7. Oktober: Von der Welt umzingelt
       
       > Der Autor Ron Leshem legt eine traurige Chronik des 7. Oktober 2023 vor –
       > auch als Betroffener, hat er in seiner Familie doch Tote zu beklagen.
       
 (IMG) Bild: Autor Ron Leshem
       
       Um 6.29 Uhr Ortszeit beginnt [1][der Horror des 7. Oktobers]: Konzertiert
       dringen das Nukhba-Kommando und andere Hamas-Kämpfer auf israelisches
       Gebiet vor; im Kibbuz Nachal Oz, beim Supernova-Festival in Re’im, am
       Zikim-Strand nördlich von Gaza.
       
       In der Chronik, die der israelische Journalist und Schriftsteller Ron
       Leshem in seinem Buch „Feuer. Israel und der 7. Oktober“ vorlegt, kann man
       im Minutentakt verfolgen, wie die Hamas-Soldaten ihre israelischen Opfer
       foltern, Exekutionen auf Facebook live streamen, wie
       Gruppenvergewaltigungen stattfinden, Menschen beim Musikfestival „wie
       Freiwild“ gejagt werden. Leshem zeichnet den für Israel traumatischen Tag
       genauestmöglich nach, die Reihung der Ereignisse endet 45 Seiten später mit
       den Worten: „Wer werden wir sein, wenn wir aus der Asche auferstehen?“
       
       Diese grausamen Details braucht es, um die genozidale Dimension des
       Angriffs deutlich zu machen. Das Schweigen der Linken, das Leshem im
       Anschluss ausmacht, wird dadurch umso lauter: „Ich hoffte, meine
       Gemeinschaft, die globale, die, an deren Seite ich für Menschenrechte,
       soziale Gerechtigkeit, die Zukunft unseres Planeten und gegen Gewalt und
       Hass kämpfe, würde zumindest Empathie für die Opfer zum Ausdruck bringen.
       Doch die gemeinsamen Erklärungen, die Künstler und Kulturvermittler rund um
       den Globus abgaben, erwähnten in aller Regel nicht mit einem Wort das
       Massaker an meiner Familie und meinen Freunden, weder die Entführung und
       Ermordung von Kleinkindern und Greisen noch die Unbarmherzigkeit und
       Unmenschlichkeit der Täter. Kein Satz dazu. Sie verurteilten einzig und
       allein Israels Reaktion in Gaza, vom ersten Tag an.“
       
       Leshem hat seinen Onkel und seine Tante beim Massaker vom 7. Oktober
       verloren, das Schicksal seines Cousins Itai, der als Geisel genommen wurde,
       zeichnet er in diesem Buch nach. Seine ermordete Tante Orit Sabirski war
       [2][übrigens Friedensaktivistin], sie gehörte der israelischen Bewegung
       „Women Wage Peace“ an, die mit der palästinensischen Schwesterorganisation
       „Women of the Sun“ zusammenarbeitete.
       
       Ron Leshem ist Schriftsteller und Drehbuchautor („Euphoria“), er war einmal
       israelischer Geheimdienstoffizier, hat danach lange als Journalist für
       verschiedene israelische Nachrichtenmagazine und für Tageszeitungen
       gearbeitet und wurde später Romanautor. Heute ist er gemeinsam mit seinem
       Lebensgefährten in Boston beheimatet. Er habe eigentlich seine Zuflucht in
       der Fiktion gesucht und gefunden, doch der 7. Oktober habe ihn zwangsläufig
       zum Journalismus zurückgebracht, erklärt er im Buch (auch weil die
       Fake-News-Schlacht unmittelbar einsetzte).
       
       ## Vor- und Nachgeschichte des 7. Oktober
       
       Sein Buch ist eine beeindruckende Analyse der Vor- und Nachgeschichte des
       7. Oktober. Leshem weist auf den Vernichtungswillen hin, den Israel seit
       seiner Gründung ständig ertragen muss, es gebe auf der Welt „neunundvierzig
       muslimische Staaten, darunter zweiundzwanzig arabische, doch nur einen
       einzigen jüdischen, und die Frage ist, wie man seine Vernichtung
       verhindert.“
       
       Er erzählt all jenen, die seit Beginn des neuerlichen Gazakriegs Israel
       dämonisieren, noch mal die ganze Geschichte, von den hunderttausenden
       geflüchteten Juden aus arabischen Staaten der vergangenen Jahrhunderte, von
       Pogromen gegen Juden, zu denen es in der muslimischen Welt zum Beispiel
       schon im 11. Jahrhundert gekommen sei, bis hin zur Verbreitung von Hitlers
       Botschaft in der arabischen Welt im 20. Jahrhundert.
       
       Als Homosexueller ist er auch fassungslos, wie gerade queere Menschen die
       Hamas falsch einschätzen oder verteidigen können, würden sie doch zu den
       ersten Opfern unter einer Ägide eines solchen Regimes zählen.
       
       Leshem leistet zusätzlich eine innerisraelische Bestandsaufnahme. Er
       analysiert den Aufstieg Netanyahus und der Nationalreligiösen, er weiß auch
       um die Eskalationslust der Fanatiker auf dieser Seite. Wie viele Warnungen
       vor einem Massaker von Aufklärer:innen des israelischen Militärs von
       ihren Vorgesetzten und von staatlicher Seite ignoriert wurden: auch das
       kann man hier minutiös nachlesen. Das Buch ist auch eine Abrechnung mit der
       Netanyahu-Regierung.
       
       Den inneren Feinden der Demokratie stellt Leshem die äußeren Feinde des
       israelischen Existenzrechts entgegen. So entrüstet er sich über die
       Legitimierer und Relativierer grausamster Gewalt in postkolonialen Kreisen.
       Israel, konstatiert er, ist heute nicht mehr nur von seinen arabischen
       Nachbarn umzingelt, sondern vom Großteil der Welt.
       
       Israelis sähen sich nun einem „Sechsfrontenkrieg“ gegenüber: „Die
       russische, chinesische, iranische, türkische, fundamentalistische, von den
       südamerikanischen Diktaturen unterstützte Front; die Front amerikanischer
       Institutionen; die in den sozialen Medien; die Front jener demokratischen
       Länder Europas, die Israel aus Tradition feindlich gesinnt sind; die jener
       UN-Organisationen, die auf eine Kritik an der Hamas verzichtet haben; und
       die des physischen und psychischen Terrors der Hamas.“
       
       An keiner Stelle wird Leshem dabei unempathisch für die zivilen Opfer auf
       palästinensischer Seite. An der krassen Schieflage aber, mit der der Staat
       Israel weltweit mehr als je zuvor betrachtet und bewertet wird, lässt er
       auch nicht den geringsten Zweifel.
       
       9 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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