# taz.de -- Neuer Roman von Szczepan Twardoch: Im Eis und in der Sowjetunion
       
       > Szczepan Twardoch lässt seine Hauptfigur im Nordmeer stranden. Im Eis
       > denkt er über die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nach.
       
 (IMG) Bild: Immerhin ist man im Eis weit weg von den Kriegen und Gulags. Ein Bewohner der Polarregion gleitet in eine Eishöhle
       
       Seinen Erzähler lässt Szczepan Twardoch in der Vorrede seines neuen Romans
       sagen: „Ich komme aus Polen. Aber ich bin kein Pole.“ Und sein Gegenüber
       antwortet: „Der Ozean ist meine einzige Heimat.“ Die ältere Dame mit
       norwegischem Pass weiß: Wer aus Polen kommt, aber kein Pole ist, ist
       Schlesier.
       
       Twardoch, ein in viele Sprachen übersetzter polnischer Literaturstar, kommt
       aus dem niederschlesischen Dorf Pilchowice und lebt dort immer noch. Der
       Schriftsteller Szczepan, der in dem Roman mit der älteren Dame auf
       Segeltörn geht, um die Siedlung „Cholod“ (russisch Kälte) zu finden, kommt
       natürlich auch aus diesem Ort.
       
       Später stellt sich außerdem heraus, dass der Vater der Dame aus demselben
       Dorf stammt. Twardoch lässt in seinem neuen Roman, „Kälte“, die Fäden, die
       Vergangenheit und Gegenwart miteinander verweben, immer wieder in
       Pilchowice, dem ehemaligen Pilchowitz, zusammenkommen. Während sein erster
       Schlesienroman, „Drach“, zwei Familien durch ein ganzes Jahrhundert
       begleitete und das spezifisch schlesische Dilemma beschrieb, sich nach dem
       Ersten Weltkrieg als deutsch oder polnisch bezeichnen zu müssen, und das
       bei historisch uneindeutigem Grenzverlauf, konzentriert sich der 49-Jährige
       in „Kälte“ auf Konrad Widuch, den Vater der segelnden Seniorin.
       
       Der verließ mit 14 Jahren Pilchowitz und seine alleinerziehende Mutter,
       arbeitete im Kohlebergbau, ging im Ersten Weltkrieg zur
       preußisch-kaiserlichen Marine und wurde dann Bolschewik. Wir lernen ihn
       durch seine Tagebuchnotizen kennen, die Twardoch ins Zentrum seines Romans
       stellt. Konrad Wilgelmowitsch Widuch, die Nennung des Vatersnamens
       (Wilhelm) ist ihm nach 25 Jahren Aufenthalt in der Sowjetunion in Fleisch
       und Blut übergegangen, schreibt seine Notizen 1946.
       
       Er ist Anfang fünfzig, steckt allein mit einem fremden Schiff im Nordmeer
       fest und lässt sein Leben Revue passieren. Es ist ein von Twardoch klug
       gesteuerter Bewusstseinsstrom und gleichzeitig ein Zwiegespräch mit einem
       imaginären Gegenüber, der „unbekannten Leserin“.
       
       ## Indigene Völker des fernen Ostens
       
       Twardoch lässt seinen Protagonisten zwischen verschiedenen Sprachen
       mäandern, von Deutsch, Polnisch über Russisch bis zu den Sprachen der
       indigenen Völker des russischen fernen Ostens. Widuch muss sich zwangsweise
       mit Sprachen auseinandersetzen, dort, wohin ihn das Leben wirft. Überall
       ist Fremdsprache, nur nicht in Pilchowitz. Immer wieder lässt ihn Twardoch
       von „unserer Sprache“ sprechen, wenn Widuch sich an seine Kindheit
       erinnert. Sentimental aber wird dieser Widuch nie, bevor es so weit kommt,
       beschimpft er sich selbst.
       
       Dieser Widuch kommt einem gleichzeitig nahe und bleibt einem doch fern, das
       zeichnet ihn als literarische Figur aus. Denn was er aus seinem Leben
       erzählt, ist in seiner Selbstbefragung aufrichtig und klingt doch
       streckenweise wie ein archaischer Science-Fiction-Roman. Denn Twardoch hat
       hier ein nordisches indigenes Volk mit eigener Sprache und eigenen Bräuchen
       erfunden (was der Übersetzer Olaf Kühl kongenial ins Deutsche übertragen
       hat). Er lässt Widuch in Cholod, bei den Cholodzern stranden.
       
       In seinem Rückblick bezeichnet Widuch die Zeit dort als die schönste seines
       Lebens. Denn nur in Cholod war er dem Zugriff der „großen Politik“
       entzogen, nach Krieg, Bürgerkrieg und dem Gulag, aus dem er floh.
       
       Als zwei sowjetische Wissenschaftler die Siedlung entdecken und mit einem
       Wasserflugzeug landen, sagt er zu den Cholodzern: „Russland ist nicht
       imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb
       verwandelt es alles in Russland, das heißt in Scheiße.“ Twardoch lässt
       Widuch über seinen Anteil an den [1][Verwerfungen des 20. Jahrhunderts]
       nachdenken. Und so endet dieser Konrad Widuch aus dem niederschlesischen
       Dorf Pilchowice in seinen Tagebuchaufzeichnungen immer wieder bei der
       Frage: Bin ich noch ein Mensch?
       
       ## Brennglas der Geschichte
       
       Twardochs Schreibrhythmus ist im Vergleich zu seinen vorangegangenen
       Romanen, [2][„Der Boxer“] oder „Morphium“, ruhiger. Dort fing er das
       Lebensgefühl einer Führungsfigur der Warschauer jüdischen Unterwelt in den
       1930er Jahren und während der deutschen Besatzung ein. Hier spiegelt die
       Sprache die Situation des fiktiven Tagebuchautors Widuch wider.
       
       Der sitzt in seiner Kajüte und hat unendlich viel Zeit. Der Schriftsteller
       streut atemlos geschriebene Erzählinseln ein, wenn sich sein Protagonist
       etwa an seine Zeit als Politkommissar während des sowjetischen Bürgerkriegs
       erinnert.
       
       Definitiv ist der Roman auch ein Beitrag zum Dekolonialisierungsdiskurs mit
       seiner fiktiven Beschreibung der indigenen Lebenswelt, die er der
       antihumanen sowjetischen Zivilisation gegenüberstellt. Vor allem aber hat
       Twardoch mit diesem Roman das außergewöhnliche Porträt eines sich
       schmerzhaft hinterfragenden Menschen erschaffen, der in der ersten Hälfte
       des 20. Jahrhunderts Täter und Opfer zugleich war.
       
       Konrad Widuch, der Europäer aus Pilchowitz, funktioniert wie ein Brennglas
       und wie ein Spiegelbild unserer Geschichte, zu dem man sich positionieren
       muss.
       
       23 Jun 2024
       
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