# taz.de -- Nach den Europawahlen: Verzerrter Volkswille
       
       > Wenn Wahlergebnisse missinterpretiert werden, entstehen „Hochburgen“, die
       > keine sind. Wahlentscheidungen müssen präziser analysiert werden.
       
 (IMG) Bild: Es gibt in der Gesellschaft eine zunehmende Tendenz, kleine Parteien zu wählen
       
       Deutschland in [1][Schwarz und Blau geteilt] – die Bundesrepublik hat nach
       den Europawahlen ein Bild von sich erhalten, das viele seit Längerem
       beschwören. Um diesen grafischen Effekt zu erzeugen, wird der Volkswille
       allerdings verzerrt repräsentiert. Und es zeigt sich ein unheilvolles
       Zusammenspiel zweier Kräfte: Die Kombination aus wahlarithmetischen
       Gepflogenheiten der liberalen Demokratie und der auch effekthascherisch
       skandalisierenden Berichterstattung über das Wachstum der Nationalisten in
       Europa bringt mittlerweile beachtliche Missrepräsentationen des Wahlvolks
       in seiner Gesamtheit hervor, die Konsens für rechts suggerieren.
       
       Von „Hochburgen bei der Europawahl“ ist in der Presse die Rede, wenn sich
       die Deutschlandkarte gemäß den Wahlergebnissen in den Landkreisen und
       kreisfreien Städten einfärbt. Die Partei mit dem größten Stimmenanteil darf
       ihren Kreis oder ihre Stadt nun als ihre „Hochburg“ bezeichnen. Das ist
       effektvoll für Grafiken, fast ganz Ostdeutschland lässt sich damit blau in
       der Farbe der AfD einfärben, fast [2][ganz Westdeutschland schwarz in der
       Farbe der CDU]. Doch die Kollateralschäden zeigen sich in der Suggestion,
       eine schwarz-blaue Welle hätte die Bundesrepublik überspült, aus der nur
       noch wenige grüne und rote Inseln herausragten.
       
       Die „Wahlsieger“ werden auf diese Weise größer gemacht, als sie sind.
       Beispielsweise Leipzig. Seit Ende des 19. Jahrhunderts eine linke Hochburg,
       holte die AfD bei den Europawahlen 18,2 Prozent der Stimmen. Auf der Karte
       verschwindet die Stadt in Sachsen nun jedoch in einem Meer von Blau. Soll
       das eine Hochburg sein, in der nicht einmal jeder fünfte Wähler die Partei
       wählte, die als „Wahlsiegerin“ gilt?
       
       In der sozialwissenschaftlichen Verwendung sind Hochburgen zum einen
       Kreise, in denen [3][eine Partei ihre höchsten Stimmanteile] erhält, ohne
       dass dies bedeuten muss, dass sie diesen Wahlkreis gewinnt. Die AfD hat
       [4][Hochburgen in Görlitz (40,1 Prozent)] und dem Osterzgebirge (39,5
       Prozent). Das bedeutet nicht, dass ganz Ostdeutschland aus AfD-Hochburgen
       besteht. Die CDU indes hat ihre aktuelle Hochburg im niedersächsischen
       Vechta, wo sie bei den Europawahlen über 50 Prozent der Stimmen holte.
       Bayern kann nach wie vor als Land der CSU-Hochburgen gelten, mit Ausnahme
       der Städte. München oder Nürnberg sind keine CSU-Hochburgen, obwohl die CSU
       dort bei den Europawahlen um die 30 Prozent holte und stärkste Kraft wurde.
       Und noch weniger sind Leipzig oder Dresden, wo die AfD mit um die 20
       Prozent stärkste Partei wurde, jetzt plötzlich Hochburgen der AfD.
       
       ## Zunehmende Tendenz, kleinere Parteien zu wählen
       
       Wer überall dort, wo eine Partei stärkste Kraft wird, von einer „Hochburg“
       dieser Partei spricht, riskiert, eine Tradition zu erfinden, die keine ist.
       Unterbelichtet bleiben so die Umstände, unter denen die meisten Parteien
       heute Wahlkreise gewinnen, insbesondere in den Städten, wo nun einmal ein
       großer Teil der Deutschen wohnt: die Zersplitterung des Parteiensystems und
       die zunehmende Tendenz der Wählenden, [5][kleineren Parteien ihre Stimme zu
       geben].
       
       Worin auch immer die Ursachen für dieses Wahlverhalten liegen – die
       öffentliche Wahlberichterstattung muss ihre Sprache und die damit
       verbundenen Repräsentationen des Volkswillens dringend anpassen. Denn wenn
       sich Kreise und Städte oder ganze Staaten in den Wahlgrafiken und anderen
       politischen Selbstbeschreibungen jetzt blau, schwarz, rot oder grün
       einfärben, wenn gerade einmal jeder fünfte Wähler für diese Farbe steht,
       dann werden Minderheiten zu repräsentativen Mehrheiten gemacht.
       
       In Zeiten wachsender Größe des Parteiensystems und wachsender Volatilität
       der Wählenden ist es auch an der Zeit, über die Repräsentation von
       Mehrheiten neu nachzudenken, auch über negative. Negative Mehrheiten sind
       in Deutschland belastet, seitdem die Weimarer Republik kurz vor ihrem Ende
       einer solchen Mehrheit aus Kommunisten und Nationalsozialisten
       gegenüberstand.
       
       Hundert Jahre später haben sich die Bedingungen gewandelt, und man kann
       heute Wahlergebnisse nüchtern als Voten für bestimmte Lösungen auf einem
       diversifizierten politischen Markt begreifen. So würden im Übrigen auch die
       Wählenden ernst genommen. Die Kontroversität der Fragen, wie mit Flucht und
       Asyl umzugehen und wie der Klima- und Energiekrise beizukommen ist, wie
       sich noch das Leben finanzieren lässt, spiegelt sich in der Spreizung der
       Lösungsangebote, denen Wählende heute etwas abgewinnen können.
       
       ## Neben dem CDU-Wahlblock gibt es einen für Rot-Grün
       
       Man muss das Ergebnis der Europawahlen deshalb auch als ein
       europapolitisches Votum lesen – und nicht als bundespolitische Klatsche für
       die Ampel. Eine relative Mehrheit der Deutschen will demnach eine
       EU-Politik, für die Ursula von der Leyen steht. Eine absolute Mehrheit will
       sie nicht. Eine noch kleinere relative Mehrheit will, mit der AfD, raus aus
       der EU. Neben einem Wählerblock für die Union gibt es einen grün-roten, der
       bemerkenswerterweise größer ist als jener für CDU/CSU. Um die AfD mit ihren
       15,9 Prozent zu schlagen, genügt schon eine Allianz aus Grünen und FDP. Die
       haben zusammen 17,1 Prozent – das ist historisch gesehen kein schlechtes
       Ergebnis für Liberale.
       
       Die Wahlberichterstattung in Medien und anderen Teilen der Öffentlichkeit
       muss also präzisere, kreativere und weniger AfD-gebannte Interpretationen
       des Volkswillens entwickeln, wie er sich in Wahlen äußert. Denn sonst
       kreiert sie verzerrte Repräsentationen, aus denen sich [6][selbst
       erfüllende Prophezeiungen] werden können. Sie muss raus aus der Logik der
       alten Bundesrepublik, als sich lediglich drei Parteien um die Wählergunst
       stritten. Parteien müssen sich fragen, wie sie konstruktive Allianzen gegen
       „stärkste“ Kräfte bilden können, die lediglich kleine Minderheiten der
       Wählenden vertreten.
       
       Genau an dieser Aufgabe scheitert die Ampel derzeit: Repräsentationen eines
       Volks zu produzieren, das aufgrund seiner Wahlentscheidungen gar nicht
       anders kann, als sich im Bauen von Allianzen zu üben.
       
       24 Jun 2024
       
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