# taz.de -- Erfolge der extremen Rechten: Regression und Privileg
       
       > Warum war die extreme Rechte bei den Europawahlen so erfolgreich? Als ein
       > Erklärmodell bietet sich die Abwehr des sozialen Wandels an.
       
 (IMG) Bild: Begehren nach „Deutschland. Aber normal“ (AfD)? Reihenhaussiedlung im ländlichen Raum
       
       „Glaub, denen geht’s ganz gut dort“, kommentierte die Wiener DJ Petra
       Kißlinger das Wahlergebnis in ihrer oberösterreichischen Herkunftsgemeinde
       auf Facebook. Größer werdende Einfamilienhäuser, Pools im Garten, mehrere
       Autos, keine Ausländer*innen.
       
       Und mehr als 42 Prozent für die FPÖ. Das ist jene Partei, die in Österreich
       bei den Europawahlen am besten abgeschnitten hat und die mit Herbert Kickl
       zukünftig den „Volkskanzler“ stellen will. Obwohl oder gerade weil man
       weiß, dass das der Name ist, den die Nazis Adolf Hitler gegeben hatten.
       
       Besonders beliebt [1][ist die FPÖ] aber nicht nur in kleinbürgerlichen
       Milieus jenseits der Städte. Auch unter – vor allem männlichen –
       Arbeiter*innen kommt sie gut an, hier holte die Partei satte 45
       Prozent.
       
       Warum? Diese Frage ist nicht nur für Österreich interessant, sondern auch
       im Hinblick auf die [2][Wahlerfolge der AfD] in Deutschland.
       
       Bereits 1933 versuchte der marxistische Philosoph Georg Lukács in seiner
       Studie „Zur Kritik der faschistischen Ideologie“ die „fanatisierende
       Wirkung der faschistischen Weltanschauung auf die wildgewordenen
       Kleinbürgermassen und teils auf die verzweifelten, rückständigen Arbeiter“
       zu verstehen. Auch wenn einige seiner Erklärungen heute etwas
       holzschnittartig erscheinen, die Milieus sind triftig beschrieben.
       
       ## Agitatoren und Schimpfkanonaden
       
       Auch dass den Faschismus ein „eklektisches Nebeneinander widerspruchsvoller
       Gedankengänge“ auszeichne, klingt nach wie vor plausibel. Es gibt
       Faschismus als wirtschaftlichen Protektionismus und in neoliberalen
       Varianten, es gibt ihn mit mehr oder weniger Antisemitismus und mit mehr
       oder weniger Antifeminismus. „Flexiblen Faschismus“ hat das der
       Kulturtheoretiker Drehli Robnik kürzlich genannt. Diese Flexibilität macht
       es nicht gerade einfacher, Faschismen zu verstehen.
       
       Dennoch gibt es einige Ideen, die auch heute noch tragen und die
       Wahlerfolge der Rechten bei den Europawahlen etwas nachvollziehbarer
       machen. Mit und neben Lukács versuchte auch die [3][Kritische Theorie] sich
       einen Reim auf die Konjunkturen des ultrarechten Aufstiegs zu machen und
       seine Politiken zu erklären. Die Faschismusanalyse gehört zu ihrem
       Kerngeschäft. Sie findet sich bei Max Horkheimer ebenso wie zuletzt bei
       Rahel Jaeggi.
       
       In dem Aufsatz „Lehren aus dem Faschismus“ (1950) beschreibt Horkheimer den
       Faschismus rückblickend auch als typisches Phänomen der Moderne: Soziale
       Sicherheit wird prekär und erscheint unerreichbar, die Furcht vor
       realistischen Übeln wie etwa dem potenziellen sozialen Abstieg wächst. In
       dieser Situation haben es Agitator:innen relativ leicht, die ein
       drohendes Verderben heraufbeschwören und mit drastischen Maßnahmen für
       Abhilfe zu sorgen vorgeben.
       
       ## Leute wie Trump und Kickl
       
       Horkheimers Freund und Mitstreiter Leo Löwenthal hat ihnen eine eigene
       Studie gewidmet. In seinem wieder aufgelegten Buch „Falsche Propheten“
       (1949) schreibt er, der Agitator trachte (anders als der Reformer oder der
       Revolutionär) nicht danach, beklagte Probleme anzugehen.
       
       Und tatsächlich sieht man Leute wie Trump und Kickl vor sich, wenn
       Löwenthal schreibt: „Die Diskussion politischer Probleme wird vom Agitator
       ausnahmslos zum Anlass genommen, sich in vagen und leidenschaftlichen
       Schimpfkanonaden und oft irrelevant erscheinenden persönlichen
       Beleidigungen zu ergehen.“ Die Probleme werden nicht angegangen, sondern es
       wird nur die Angst vor ihnen geschürt.
       
       Das streicht auch die Philosophin Rahel Jaeggi für die Gegenwart hervor:
       Sie hat diese Blockade von Problemlösungen in ihrem aktuellen Buch
       „Fortschritt und Regression“ (2023) als zentrales Charakteristikum für die
       Kehrseite des Fortschritts, die Regression beschrieben. Es geht in
       gesellschaftlichen Entwicklungen immer um Prozesse der Problemlösung.
       Fortschritt geht Probleme an (auch wenn offen ist, wo es langgehen soll),
       Regression blockiert sie. Die Regressiven sind die Träger*innen des
       Faschismus.
       
       ## Regression blockiert Problemlösungen
       
       Die Regressionsanalyse erweist sich auch als nützlich dafür, den
       gegenwärtigen Aufstieg der Ultrarechten zu verstehen. Regression ist
       nämlich kein einfaches Zurück zu früheren Maßstäben und Lebensweisen,
       sondern die Abwehr von Veränderungen, die sozialer Wandel mit sich bringt.
       Regression ist die Verleugnung der Tatsache, dass sich frühere hegemoniale
       Familienstrukturen, Staatsbürgerschaftsgesetzgebungen und
       Geschlechtsidentitäten in den veränderten Arbeits- und
       Kommunikationsverhältnissen nicht aufrechterhalten lassen.
       
       Regression als „Verfehlen eines Modus der Welt- und Selbsterfahrung“ nennt
       Jaeggi das. Es hilft, die breite Anhänger*innenschaft der extremen
       Rechten im deutschsprachigen Raum zu erklären: „Deutschland. Aber normal“
       (AfD), eine Normalität ohne Veggi-Day und Gendersternchen, ohne
       Klassenkampf, ohne Migration und ohne trans wird da herbeigesehnt, als sei
       sie eine von kosmopolitischen Minderheiten attackierte Naturnotwendigkeit.
       Und als sei das Normale nicht stets dynamisch, umkämpft und von permanent
       neuen Erfahrungen geprägt. Die wollen sie aber nicht machen, die
       Regressiven.
       
       ## In Ruhe gelassen werden
       
       Wie Jaeggi benennt auch Drehli Robnik ein regressives Moment, wenn er
       schreibt, die sogenannte Politisierung von rechts ziele nicht auf
       „erweiterte demokratische Spielräume der Konfliktaustragung, sondern
       ultimativ darauf, dass demokratische Unruhen und Ansätze von
       Minderheitenrechten verschwinden“. Diese Haltung verbindet wohl auch die
       Pool-Besitzer:innen im ländlichen Oberösterreich mit den rechts wählenden,
       städtischen Arbeiter:innen.
       
       Aber sie sind eben nicht nur verzweifelt, wie Lukács meinte. Ressentiment
       und Rassismus sind nicht bloß Reaktionen auf widrige Umstände. Die
       Rechtswähler:innen erhoffen sich auch etwas: Privilegien behalten zu
       können oder zu bekommen, besser dazustehen als die anderen und von Leuten
       in Ruhe gelassen zu werden, die ihre Lebensweise infrage stellen. Der
       Hinweis darauf, dass die meisten AfD- und FPÖ-Wähler:innen objektiv gegen
       ihre eigenen Interessen wählen, weil die Politiken der Rechten bloß
       ökonomische Ungleichheiten verschärften, ist sicherlich nicht ganz falsch.
       Er kann die große Zustimmung aber nicht erklären.
       
       Dazu bedarf es auch des Blicks auf die Profite. Zumindest affektiv machen
       die Wähler*innen der extremen Rechten ihren Reibach: Die
       Faschist:innen stiften offenbar ein Gefühl der Gemeinsamkeit, das die
       kleinbürgerliche Landbevölkerung und die urbanen Malocher (in Österreich
       Hackler) in ihren Abgrenzungsbegehren ebenso abholt wie in ihren
       Abstiegsängsten.
       
       Dabei ist auch an etwas zu erinnern, was etwa Jaeggi kaum im Blick hat: Die
       Privilegierung der einen hat immer auch das Leid der anderen zur Folge. Das
       wollen sie aber nicht sehen, es wird zum Verschwinden gebracht.
       
       ## Unterdrückte moralische Verantwortung
       
       Neben Auskünften über die Klientel und über die Funktionsweise des
       Diskurses kann die Kritische Theorie schließlich noch Hinweise auf die
       Effekte der Faschisierung geben: Wer eine Partei wie die FPÖ wählt, die auf
       Plakaten für eine „Festung Österreich“ wirbt und für die stete Verschärfung
       der Migrationsgesetzgebung steht, dem und der müssen andere Menschen
       zunehmend gleichgültig sein. Adiaphorisierung nannte der Soziologe Zygmunt
       Bauman diesen Effekt des Faschismus, das Ausschalten der moralischen
       Empfindung anderen gegenüber.
       
       Bauman hatte in seinem Buch über die Shoah die „soziale Unterdrückung
       moralischer Verantwortung“ als zentrales Kennzeichen der
       nationalsozialistischen Politik beschrieben. Die Rechten von heute agieren
       in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar: Die toten Refugees im Mittelmeer
       müssen egal sein, selbst die desaströsen Effekte der Klimakatastrophe, die
       noch viel mehr Menschen direkt betreffen, werden ausgeblendet. Auch für
       diese Verleugnung wählen die Follower ihre Führer.
       
       Vom Autor erschien zuletzt das Buch „Klassifikation und Kampf“ zur
       Aktualität Pierre Bourdieus.Turia + Kant, Wien/Berlin 2024
       
       24 Jun 2024
       
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