# taz.de -- Neue Erzählungen von Andreas Stichmann: Denkmal für eine junge Punkerin
       
       > Klemmende Kommunikationssituationen, sonderbar über Heimat nachdenken: In
       > „Loreley“ lässt Andreas Stichmann den Rhein durch die Erzählungen
       > fließen.
       
 (IMG) Bild: Das Urdeutsche wird seltsam und leicht: das Rheinufer in Bonn
       
       Auf seine Einfälle und seine Sätze kann Andreas Stichmann sich verlassen.
       Viele Motive seines Erzählbandes „Loreley“ atmen etwas nahezu
       Lehrbuchhaftes, fast Klassisches. In der Erzählung „Einblick“ –
       aufflackerndes Begehren im Vorort – gibt es etwa diese Flasche Grappa. Den
       damals neuen Nachbarn zum Einzug geschenkt, dann offenbar vergessen, aber,
       als die jeweiligen Ehepartner verstorben sind, wird sie wieder
       hervorgeholt.
       
       „Seit zwanzig Jahren waren sie Nachbarn. Seit zwei Jahren sie und seit
       einem halben Jahr er: verwitwet.“ Paul heißt er, Beate sie. „Sie zog sich
       brav und langsam aus, und dann – was sollte man jetzt noch herumreden,
       nachdem man geschlagene drei Stunden unten bei Grappa und Brahms über
       Gärten und Brahms geredet hatte – schliefen sie miteinander.“
       
       Genau so muss man so etwas erzählen. Wie eine schnurrende Maschine
       funktioniert diese Kurzgeschichte. Da ist dieses Lakonische. Und da ist
       aber auch so ein schillerndes Requisit wie dieser Grappa, der das
       Unausgelebte genauso enthält wie das Irritierende dieser Situation, in der
       zwei Menschen, die sich Jahrzehnte über den Weg gelaufen sind, jeweils ihre
       Einsamkeit vergessen wollen.
       
       Es gibt in diesem Band viele solcher Details und auch eine ganze Reihe
       solcher in ihrer Lakonik simmernden Sätze: „Sie sahen aus dem Fenster. Dort
       gab es allerdings nichts zu sehen. Nur ein Viereck Nacht.“ Was den Band
       wirklich auszeichnet, ist aber noch etwas anderes. Es sind die Wendungen,
       die eher neben der Spur liegen, die man eigentlich als Erzähler so gar
       nicht hinschreibt und bei denen man beim Lesen auch erst mal nicht recht
       weiß, wo sie jetzt herkommen.
       
       Der letzte Satz der ersten Erzählung, „Heimatgedicht“, ist so ein Satz.
       „Jedenfalls hat es einmal, da unten am Rhein, ein Mädchen namens Motte
       gegeben“, lautet er.
       
       ## Am Brunnen vom Kaiserplatz in Bonn
       
       Was passiert hier? Ein erzählerischer Sprung. Bis dahin war die
       Kurzgeschichte aus der Perspektive von Motte erzählt. Sie ist ein 15 Jahre
       altes Punkermädchen, das von zu Hause abgehauen ist und in einem Zelt am
       Rheinufer schläft. Sie hat eine Freundin gefunden, die aber so hübsch ist,
       dass sie vermutlich nicht lange bei Motte bleiben wird. „Sie sieht nicht
       mal nach einem Problemkind aus.“
       
       Abhängen am Brunnen vom Kaiserplatz, die anderen Punker – Helmut, der
       Penner, Farhad, der Perser, Marlene, die Gehbehinderte, Röhre, die Röhre -,
       Zoff mit der Polizei, die schöne Freundin betrinkt sich und verschwindet
       S-Bahn-surfend aus der Geschichte. Das ist alles.
       
       Oder fast alles. Am Schluss schreibt die pubertierende Motte noch ein
       Gedicht auf den Rhein: „rhein / du sülze / ach du dumme suppe / stur
       grummelst du an allem vorbei …“ Sie hatte sich ein Buch gekauft: „Treffen
       junger Autoren 1993 – Die Gewinnertexte“, auch darin waren viele Gedichte
       in Kleinschreibung verfasst. Man will beim Lesen schon schwer seufzen. Ohne
       den letzten Satz wäre das alles vielleicht ganz lustig, aber womöglich auch
       nicht viel mehr gewesen.
       
       Doch dann kommt eben der letzte Satz und rahmt die ganze Erzählung zu einem
       Erinnerungsbild ein. Das macht den Sprung dabei aus. Er bewirkt ein
       plötzliches Verstehen und Einverstandensein. Die ganze Geschichte ist ein
       Denkmal an eine jugendliche Punkerin am Rhein im Bonn der neunziger Jahre.
       
       ## Rheinschlick Höhe Alter Zoll
       
       Zusammen mit schönen Details – es gibt das Wort „wellensittichschnell“, es
       gibt die Haarfarbe „Rheinschlick Höhe Alter Zoll“ – lässt das diesen Text
       geradezu funkeln. Man bewundert beim Lesen die Präzision, mit der Stichmann
       vorgeht – und man ist zugleich auch schlicht verknallt in diese Hauptfigur
       und in das Jungsein (leichte Isa-Herrndorf-Vibes kommen auf). Und Bonn und
       der Rhein, das Urdeutsche daran kommt einem mit einemmal ganz leicht vor.
       Was könnte man von einer elfseitigen Kurzgeschichte mehr erwarten!
       
       Acht Erzählungen enthält der Band insgesamt. Die Bücher, die [1][Andreas
       Stichmann,] Jahrgang 1983, davor geschrieben hat, strebten eher in die
       große, weite Welt. Der Roman [2][„Das große Leuchten“] führte zum
       Kaspischen Meer, der Roman [3][„Eine Liebe in Pjöngjang“] nach Nordkorea.
       
       Auch in „Loreley“ gibt es eine Geschichte, die wie von ausgedehnten Reisen
       mitgebracht wirkt, „Dynamitfischen“ heißt sie, sie spielt in Indonesien.
       Eine andere Geschichte, „Gooftown“, dreht ins Unbestimmt-Absurde und
       irgendwie leicht Verstrahlte ab. Bestimmend ist aber eine erzählerische
       Bewegung hin zu bundesrepublikanischen Alltagsszenen, man hat den Eindruck,
       hier schreibt jetzt einer, der von weit weg zurück nach Hause gekommen ist,
       über das einst Vertraute, das ihm zwischendurch fremd geworden ist.
       
       Dass Motte „sonderbar über Heimat nachdenken muss“ wird ausdrücklich in der
       ersten Erzählung erwähnt, in einer anderen ist eine Figur „plötzlich Teil
       der Kommunikationssituation, die weiterhin klemmt“. Klemmende
       Kommunikation, sonderbar über Heimat nachdenken und dabei den Rhein immer
       wieder durch die Erzählungen fließen lassen – damit hätte man diese
       Geschichten ganz gut charakterisiert.
       
       ## Herzumdrehend böse Liebesgeschichte
       
       Eine Gefahr gibt es bei diesem Erzählen. Wenn Andreas Stichmann sich
       allzusehr auf das sympathisch Schräge vieler seiner Einfälle verlässt, ist
       der Punkt nicht fern, an dem das humoristisch Spielerische seines
       Schreibens ins Niedliche kippt. Doch sobald sich diese Gefahr andeutet,
       kriegen einen diese Geschichten gleich wieder.
       
       Gegen Ende der Geschichte „Entlassen“, die vom letzten Tag einer jungen
       Patientin in einer Psychiatrie erzählt, denkt diese Sarah über Bert nach,
       ihren Freund, der zu ihr gehalten hat: „Der Rest der Geschichte ist, dass
       es immer so weitergeht, mit Bert und mir. Wenn einer stolpert, zerrt der
       andere ihn weiter, und wenn der andere stolpert, wird umgekehrt ein Schuh
       draus. Wir leben und leben, und eines Tages kommen wir auf eine Anhöhe und
       sehen über grünes Land, und das ist das Ende und das Glück.“ Solche
       sentimentalen Sätze darf nur schreiben, wer sie erzählerisch motivieren
       kann. Stichmann kann. Man ist ihm dankbar dafür.
       
       In der Geschichte „Warum schon wieder zu Watan?“ setzt Andreas Stichmann
       einem grasdealenden Flüchtling ein Denkmal. Der Feierwille deutscher Kids
       und die auf Leben und Tod gehenden Flüchtlingsschicksale aus dem Iran
       reiben sich hier aneinander, inklusive einer nur angedeuteten, aber
       herzumdrehend böse endenden Liebesgeschichte mit einer jungen Frau namens
       Asfael. Das ist einer der Momente, in denen Andreas Stichmann nicht nur
       erzählerisch genau hingesehen, sondern auch die Wirkungen seiner Mittel
       sorgfältig taxiert hat.
       
       Jedenfalls, lest doch einfach mal wieder mehr Kurzgeschichten, Leute!
       
       30 Jun 2024
       
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