# taz.de -- Antagonistische Konflikte: Eine Kartografie des Hasses
       
       > Streiten hält demokratische Gesellschaften zusammen. Allerdings nur, wenn
       > dieses agonal geschieht und Gegner sich mit Anerkennung begegnen.
       
 (IMG) Bild: Eine Kundgebung gegen sich häufende Gewalt und Angriffe auf Politiker in München, 9. Mai 2024
       
       Was hält eine demokratische Gesellschaft zusammen? Seit den 1970er Jahren
       lautet die Antwort: Der produktive Streit sei das zentrale demokratische
       Medium. Man streitet sich sozusagen zusammen. Man glaubt an die Demokratie
       als eine Ordnung des [1][Streitens]: eine Ordnung zur Hegung und Austragung
       von Konflikten.
       
       In demokratischen Gesellschaften wird der Konflikt also nicht
       stillgestellt. Denn es ist gerade der Konflikt, der uns verbindet. Nicht
       soziale Harmonie, sondern die Form unseres Streitens soll uns
       zusammenhalten. Dissens ist gewissermaßen der demokratische Kitt. Fruchtbar
       sind Konflikte aber nur dann, wenn sie begrenzt werden. Wenn sie – wie
       Chantal Mouffe immer wieder betont – agonal und nicht antagonistisch
       ausgetragen werden.
       
       Agonal bedeutet: Gegner treffen aufeinander, wobei beide Seiten aber eine
       grundlegende Ordnung und ein Prozedere akzeptieren. Damit bestätigen sich
       auch Gegner als Mitglieder derselben Gesellschaft. In antagonistischen
       Konflikten hingegen gibt es keinerlei Anerkennung. Da stehen sich Feinde
       unversöhnlich gegenüber.
       
       Die gesellschaftliche Tendenz geht heute eindeutig in letztere Richtung.
       
       Vielfältige Frontverläufe 
       
       Nicht nur sehen wir überall Antagonismen aufbrechen – die Frontverläufe
       sind zudem so vielfältig, dass man leicht den Überblick über die
       Feindschaften verliert. Es braucht schon eine Kartografie der Hasslinien.
       
       Da gibt es den Antagonismus „Rechte gegen Moslems“. Hier kann man noch mal
       unterscheiden zwischen [2][Upperclass-Rechten] – wie jene Schnöselpartien,
       die von Sylt bis Kärnten grölend, aber mit sicherem Klasseninstinkt das
       vollziehen, was man Klassenkampf von oben nennt: [3][„Deutschland, den
       Deutschen. Ausländer raus“ tönt es durch die Nobelbars]. Der Unterschied zu
       den Straßen-Nazis liegt nicht in der Gesinnung, sondern in der Ausführung.
       Letztere singen nicht nur.
       
       Wie ein Echo dazu gibt es den Antagonismus „Islamisten gegen Rechte“ – der
       zuletzt in Mannheim auf schreckliche Weise aufgebrochen ist. Zur
       Erinnerung: [4][Ein afghanischer Flüchtling, mutmaßlicher Islamist, hat
       dort einen politischen Aktivisten mit einem Messer attackiert], wobei der
       Polizist Rouven L. tragischerweise ums Leben kam. Noch komplexer ist die
       Situation, da der Attackierte bekanntlich vom Verfassungsschutz als
       islamfeindlich eingestuft ist.
       
       Die islamistische Demonstration in Hamburg zur Einführung eines Kalifats
       nimmt sich da wie eine Ausweitung der Feinderklärung aus: Hier galt diese
       der gesamten Gesellschaft.
       
       Sich spiegelnde Antagonismen 
       
       Wirklich unübersichtlich aber wird es jenseits dieser sich spiegelnden
       Antagonismen. Denn da gibt es dann noch den [5][Antisemitismus], den
       wiederum beide Kontrahenten teilen.
       
       Wenn etwa Nazis sich ihres guten alten Judenhasses besinnen (dieser geriet
       ja über die Freude an der rechten israelischen Regierung etwas in
       Vergessenheit) – wie in Sachsen-Anhalt, wo sie Ausgaben des „Tagebuchs der
       Anne Frank“ in alter Tradition verbrannt haben.
       
       Solch einheimischer Antisemitismus wird durch den muslimischen
       gewissermaßen ergänzt. Auch das eine Entladung von Feindschaft, die infolge
       des Nahostkriegs noch einen [6][zusätzlichen Schauplatz an den
       Universitäten] eröffnet hat: Hier stehen sich propalästinensische und
       proisraelische Gruppen unversöhnlich gegenüber.
       
       Aber auch damit sind wir noch nicht am Ende der Auflistung angekommen.
       
       Angriffe auf Politiker 
       
       Denn ein weiterer Bereich kippt vom Agonismus in Antagonismus – und zwar
       der ureigenste Bereich gehegter Konfliktaustragung: die Politik.
       
       Seit Wochen häufen sich in Deutschland tätliche Angriffe auf Politiker.
       Galten die Attacken zunächst Grünen und SPD-Vertretern, so hat sich auch
       dieser Antagonismus ausgeweitet: Kürzlich wurde, wieder in Mannheim, ein
       AfDler attackiert.
       
       Diese Überschreitung der genuinen Form demokratischer Auseinandersetzung
       ist gerade im Bereich des Politischen besonders heikel. Ist doch der
       politische Wettbewerb das Medium, um Konflikte ins Verhandelbare zu
       übersetzen – sie also der Feindschaft zu entziehen.
       
       Wenn Demokratie die institutionalisierte Form des Streitens ist, dann steht
       es um diese gerade nicht sehr gut.
       
       1 Jul 2024
       
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