# taz.de -- Abwege des Aktivismus in der Kunst: Vom Pogrom zur „Poetic Justice“
       
       > In der Kunstszene steht politischer Aktivismus hoch im Kurs. Warum sind
       > allein die Palästinenser das Objekt der Begierde?
       
 (IMG) Bild: Installationsansicht von Candice Breitz antirassistischer Bildserie „Whiteface“ im Fotografiska
       
       Der Berliner Kurator Edwin Nasr teilte am 8. Oktober auf seinem
       Instagram-Account ein „Meme“. Es zeigt die [1][vor der Hamas fliehenden
       Festivalbesucher in der Wüste Negev]. Überschrift: „Poetic Justice“. Als
       Kritik aufkam, entschuldigte er sich halbherzig für den Post, um im
       gleichen Zuge den Vorwurf zu formulieren, er sei einer „witch hunt“
       ausgesetzt.
       
       Er, Opfer einer Hexenjagd? Wie kann es zu solch einer Verkehrung kommen?
       Einer Verkehrung, die seit Ausbruch des schrecklichen Kriegs in Nahost auch
       aus einem regelrechten Zwang im Kulturbetrieb hervorgekommen ist, sich zu
       diesem Krieg zu positionieren.
       
       Schon bei der [2][Initiative „GG 5.3. Weltoffenheit“] und dem
       anschließenden offenen Brief „Nothing Can Be Changed Until It Is Faced“
       konnte man 2019 unter Künstlern den rhetorischen Twist beobachten, sich
       selbst als Opfer von BDS-Resolution und Zensur zu begreifen. Heute tragen
       zum Narrativ der vermeintlichen Randständigkeit Demonstrationen wie „We
       Still Still Still Still Need to Talk“ bei.
       
       Zu der versammelten sich in Berlin am 10. November rund 2.000
       Kulturaktivisten, um gegen die Absage der Diskussionsveranstaltung „We
       Still Need to Talk“ durch die Akademie der Künste und der Bundeszentrale
       für politische Bildung zu protestieren.
       
       ## Berechtigte Kritik, konstruiertes Narrativ
       
       Eingeladen hat unter anderem die Künstlerin und Professorin der HBK
       Braunschweig, Candice Breitz. In ihrer Kunst oszilliert Breitz zwischen
       Performance, Fotografie und Video, ihre Werke grenzen auf häufig plakative
       Weise an Aktivismus. Das zeigte sich zuletzt in ihrer
       [3][rassismuskritischen Bildserie „Whiteface“, mit der sie kürzlich das
       neue Privatmuseum Fotografiska] am ehemaligen Alternativort Tacheles in
       Berlin eröffnete.
       
       Wenn derzeit Kulturveranstaltungen ohne unzureichende Begründung abgesagt
       werden, etwa die von Breitz mitorganisierte Konferenz zur politischen Lage
       im Nahen Osten oder die Fotoausstellung von Raphael Malik über muslimisches
       Leben in Berlin, dann ist eine Kritik daran berechtigt – und nötig. Aus
       diesen unbegründeten Absagen wird dann aber ein Narrativ konstruiert.
       
       Das sieht man auf Breitz’ Demo: Im Zentrum der 20 Redebeiträge steht das
       Spekulieren über Repression. Man hat sich unter Gleichgesinnten versammelt.
       In diesem Spektrum äußern sich auch viele israelkritische Jüdinnen und
       Juden.
       
       Sie sprechen vom Redeverbot, das ihnen – Bestseller-Autorinnen wie Emilia
       Roig und [4][Medienintellektuellen wie Deborah Feldman], die in Artikeln,
       Essays und auf Podien in Deutschland sehr präsent sind – von einer Phalanx
       aus Zionisten, der Bundesregierung und deutschen Nazis auferlegt werde. Die
       angebliche Zensur wird mit Schlagwörtern wie „McCarthyismus“ oder mit der
       vermeintlichen „Indienstnahme von Shoa-Toten“ medientauglich verbunden.
       
       ## Leerstelle Gewalt an Juden und Jüdinnen
       
       Da sind dann Aussagen zu hören wie „Juden sind in Deutschland eine
       privilegierte Minderheit“. Insbesondere die Performerin Candice Breitz
       sorgt für die entsprechende Stimmung im Publikum. Dabei nutzt sie auch ihre
       Herkunft als Jüdin aus Südafrika: Nicht nur auf der Protestkundgebung,
       sondern auch in ihren Social-Media-Beiträgen stellt sie ihrer Kritik an
       Israel wie auch an der Bundesrepublik ihre Apartheiderfahrung als weiße
       Südafrikanerin voran. Laut einer Presseerklärung der Stiftung
       Saarländischer Kulturbesitz soll sie etwa „standing on the side of
       genocide“ in Zusammenhang mit den Ereignissen im Gazastreifen gepostet
       haben, die Bundesrepublik rückte sie in die Nähe eines autoritären bis
       faschistischen Systems. Im August 2023 unterzeichnete sie den offenen Brief
       „The Elephant in the room“, der Israels Umgang mit den Palästinensern als
       Apartheid bezeichnet.*
       
       Wer verstehen will, warum dieses verklärende Narrativ so wirkmächtig ist,
       landet schnell beim kommunikativen Clusterfuck [5][„Free Palestine from
       German Guilt“]. Gerade bei jungen Aktivisten aus Kunst und Kultur scheint
       die historische Verkürzung im Trend.
       
       Bei Kulturaktivisten also, deren Schuldbegriff und -gefühl mehr mit Black
       Lives Matter als dem Historikerstreit der 1980er zu tun hat.
       Kulturaktivisten, deren politische Sozialisierung größtenteils in den
       Feedbackschleifen der sozialen Medien erfolgte und deren politischer Drang
       oft schon im Befolgen einer Instagram-Slide endet.
       
       Der Inhalt ist dann oft weniger wichtig als der Appeal und der Sprechort
       des Politfluencers, von dem sie kommt. Warum etwa teilt die mediengeübte
       Künstlerin Anna Uddenberg, die sonst mit ihren Installationen aus
       vermeintlich medizinischem Mobiliar eher Fragen nach Körperlichkeit und
       Warenästhetik aufwerfen will, antiisraelische Posts des US-amerikanischen
       Aktivisten Shaun King oder des Meme-Künstlers und Aktivisten Saint Hoax,
       die beide mehrere Millionen Follower auf Instagram haben? Dabei scheint
       Uddenberg nicht zu registrieren, dass deren Inhalte auch antisemitische
       Stereotype reproduzieren.
       
       ## Kunst und Aktivismus
       
       Die Künstlerin Hito Steyerl attestierte in einem Interview mit dem Spiegel
       kürzlich ihren Kollegen wie Peter Doig, Nan Goldin oder Katharina Grosse,
       den offenen Brief des US-amerikanischen Kunstmagazins Artforum in
       Unwissenheit unterschrieben zu haben. Sie würden schlicht einer „Art
       Herdentrieb“ folgen. Dass Grosse einige Tage später verkündete, sie habe
       einen schlimmen Fehler gemacht, könnte jedoch nicht ihre Einsicht, sondern
       die Folge ökonomischen Drucks gewesen sein.
       
       Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich beschreibt in seinem Buch „Die Kunst
       nach dem Ende ihrer Autonomie“, wie sich Kunst in ihrer postmodernen Hybris
       immer mehr ins Außerkünstlerische verlagert. Ein Hauptziel dieser
       Entgrenzung? Aktivismus. In der Werteskala aktivistischer Kunst und Kultur
       steht derjenige hoch im Kurs, der am radikalsten behauptet, sein
       politisches Engagement sei mehr als Performanz und Rhetorik.
       
       Das zeigt die brasilianische Multimediakünstler:in Cibelle Cavalli
       Bastos. Auch deren aktivistische Arbeiten „gegen gesellschaftliche
       Algorithmen & Konditionierungen“ wurden zwischenzeitlich vom Privatmuseum
       Fotografiska vertreten. Gerade stellt sier – Bastos versteht sich als
       nonbinär – im Berliner KINDL – Center for Contemporary Arts und in der
       Galerie Wedding aus. Bastos’ Instagram-Account füllen seit Wochen
       KI-generierte, recht fröhlich wirkende Bilder von Melonen, die Slogans wie
       „Free Palestine“ abbilden – die Melone ist das Symbol der Bewegung.
       
       ## Inszenierung als Opfer von Zensur
       
       Am 15. November tauchte auf dem Account auch ein erschreckendes Video in
       der Story auf. Darauf verkündet Bastos, das Gesicht dank Bildfilter mit
       Blutflecken und Wunden bedeckt, auf die Videoplattform TikTok zu wechseln,
       da Instagram ihren Content nicht mehr bewerben würde, seit sier sich für
       Palästina ausspreche. Das ist ein Trend, den man seit Jahren auch bei
       Verschwörungstheoretikern beobachten kann.
       
       Bastos inszeniert sich als Opfer von Zensur, Bastos’ Beiträge bekämen trotz
       30.000 Followern nicht genug Likes und letztlich sei die gesamte „Existenz“
       durch das Sprachverbot gefährdet. Die Instagram-Storys enden in Videos, die
       zeigen sollen, warum Zionismus antisemitisch sei, und einem Beitrag des
       deutschen Schriftstellers und Künstlers Ingo Niermann, der ebenfalls den
       Zionismus als eigentliches Übel der Debatte ausmacht.
       
       In dieser Aufmerksamkeitsökonomie verwundert nicht, wenn etablierte Größen
       des Kulturlebens [6][in einer Flut an offenen Briefen], Postings und
       Medienauftritten ganz tief in die linke Mottenkiste greifen, um Parolen wie
       „McCarthy’s redbaiting“ (Ingo Niermann) oder eben die Hexenjagd („witch
       hunt“) hervorzukramen.
       
       [7][Verschwörungserzählungen] scheinen ein probates Mittel zu sein, um
       Radikalität und Zeitgenossenschaft zu behaupten. Warum dabei das
       aktivistische Objekt der Begierde nur die Palästinenser und nicht auch
       Jesiden, Kurden oder Kongolesen sind oder warum nicht Sinti und Roma vom
       rassistischen Klammergriff deutscher Schuld befreit werden müssen, bleibt
       eine offene Frage.
       
       Wem die Performativität seines Aktivismus und seiner aktivistischen Kunst
       wichtiger ist als die Sicherheit von Jüdinnen und Juden, der muss zwar kein
       Antisemit sein, aber das Signal dieses Opportunismus ist so klar wie
       brutal. Und wer im Namen anderer den Zensierten mimt, das sollte man von
       den Rechten doch gelernt haben, will selten Meinungsfreiheit, sondern eher
       selbst Zensur – oder eben „Poetic Justice“.
       
       Hinweis: Der mit * markierte Absatz wurde wegen einer rechtlichen
       Auseinandersetzung geändert.
       
       19 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Angriff-auf-Israel/!5965719
 (DIR) [2] /BDS-Beschluss-im-Bundestag/!5734301
 (DIR) [3] /Zukunft-des-Berliner-Tacheles/!5956889
 (DIR) [4] /Buch-ueber-Juedischsein-und-Identitaet/!5960158
 (DIR) [5] /Free-Palestine-from-German-Guilt/!5967918
 (DIR) [6] /Ueber-Philosophy-for-Palestine/!5969264
 (DIR) [7] /Querdenkerinnen-Demo-in-Hamburg/!5969723
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jonathan Guggenberger
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Anti-Israel
 (DIR) Kultur im Internet
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Palästina
 (DIR) Kunst
 (DIR) GNS
 (DIR) Künstler
 (DIR) Social Media
 (DIR) Martini Shot
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Fotografie
 (DIR) Anti-Israel
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Musik
 (DIR) Bildende Kunst
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Proteste an der Columbia University: Die linke Sorge um Deutschland
       
       Der Nahost-Diskurs ist verrottet. Aber was viele nur für Deutschland
       beklagen, ist anderswo nicht besser. Ein kurzer Blick nach New York und
       London.
       
 (DIR) Kunst nach dem 7. Oktober: Im Notfall Trial and Error
       
       Der Kulturbetrieb in Deutschland ist an einem Tiefpunkt. Es wird aggressiv
       gestritten, verbal aufgerüstet, zum Boykott aufgerufen. Was tut not?
       
 (DIR) Fotograf Ziv Koren über Bilder aus Gaza: „Sie kämpfen gegen ein Gespenst“
       
       Seit dem 7. Oktober begleitet Fotograf Ziv Koren die israelische Armee bei
       Operationen in Gaza. Seine Bilder zeigen einen unsichtbaren Feind.
       
 (DIR) Israelfeindlichkeit im Westen: Groteske Toleranz
       
       Die Ereignisse des 7. Oktober markieren eine Zeitenwende – auch für Linke.
       Wie der Hamas-Terror gegen Israel das Bewusstsein des Westens verändert.
       
 (DIR) Antisemitismus im Kulturbetrieb: Raus aus der Geisterbahn
       
       Die antiimperialistische Linke hat ein Problem: Antisemitismus. Wie kann
       sie aus den Trugschlüssen finden, in die sie sich verstrickt hat?
       
 (DIR) DJ-Plattform wird diffamiert: Dancefloor-Boykott gegen Juden
       
       Sie stoppten Propaganda, die auf die Auslöschung Israels abzielt. Nun wird
       die von zwei Israelis betriebene Berliner DJ-Plattform HÖR angefeindet.
       
 (DIR) Musikerin Mary Ocher im Gespräch: „Lasst uns zusammenbleiben“
       
       Mary Ocher ist russischstämmige Israelin und lebt in Berlin. Ein Gespräch
       über ihr neues Album und wie sie die aktuellen Kriege musikalisch
       verarbeitet.
       
 (DIR) Kunst aus Israel: In Auflösung begriffen
       
       Die Berliner Ausstellung "Who By Fire" ist ungewöhnlich. Sie zeigt
       kritische Kunst aus Israel. 13 Künstler:innen zeichnen ein komplexes Bild
       des Landes.