# taz.de -- Über „Philosophy for Palestine“: Mainstream der Avantgarde
       
       > Namhafte Philosoph:innen solidarisieren sich mit den
       > Palästinenser:innen gegen Israel. Über die Misere der Philosophie
       > als Parole.
       
 (IMG) Bild: Trauer in Tel Aviv
       
       Kein Tag, an dem nicht ein neuer offener Brief seinen Weg in die Welt
       findet. Ob in Kunst, Film oder Philosophie, alle wissen genau, was zu tun
       ist. Man wähnt sich als Avantgarde – Autoritäten, die einlenken,
       wachrütteln und eine Bewegung gegen ein Unrecht lostreten wollen.
       
       Aber was, wenn es eine solche Bewegung längst gibt auf den Straßen und die
       vermeintliche Avantgarde einem fashionablen Mainstream hinterhängt? Wenn
       sie bloß uralte Dichotomien herausposaunt, dem Gerücht statt den Fakten
       folgt, ahistorisch und selektiv kontextualisiert, gar den theoretischen
       Antihumanismus beim Wort nimmt? Dann sind die posenhaften
       Vordenker:innen in der Parole angekommen.
       
       Der [1][prätentiös „Philosophy for Palestine“ getitelte offene Brief] von
       vergangener Woche ist hier ein herausragendes Beispiel. Lanciert wurde er
       von linken Philosoph:innen wie Angela Davis, Nancy Fraser, Étienne
       Balibar und natürlich [2][Judith Butler], um nur die prominentesten zu
       nennen. Liest man den Brief, fällt einem unweigerlich die Aussage Karl
       Jaspers’ ein – „Wer meint, alles zu durchschauen, philosophiert nicht
       mehr“.
       
       Dort sieht man es anders: Die philosophische Disziplin habe in letzter Zeit
       „bewunderswerte“ Fortschritte gemacht in der direkten Auseinandersetzung
       mit „drängenden und dringenden Ungerechtigkeiten“, heißt es in dem Brief.
       Deshalb gelte es auch jetzt, die „Komplizenschaft“ und das „Schweigen“ zu
       überwinden. Was folgt, ist nicht weniger als eine totale Bankrotterklärung
       dieser linken Denker:innen.
       
       ## Falsche Prämissen
       
       Apartheid, Genozid, Boykott, das ganze Programm der „Free
       Palestine“-Bewegung wird aufgerufen. Dabei könnte man von professionellen
       Denker:innen mit viel Zeit fürs Denken erwarten, dass sie den
       Unterschied zwischen Massaker, Pogrom, Krieg und Genozid kennen. Tun sie
       aber nicht. Oder wollen sie nicht.
       
       Allein ein Blick in die demographischen Daten würde reichen, um zu sehen,
       dass es keinen Genozid an den Palästinenser:innen gibt. Und das,
       soweit wir bisher sehen, auch nicht unter den jetzigen, zweifellos
       schrecklichen Bombardierungen durch Israel. Krieg ist nie gerecht und jedes
       Leid ist absolut. Das Wort Genozid aber ist zu einem modischen Kampfbegriff
       geworden, der den Blick auf die Taten verstellt.
       
       So ist es kaum verwunderlich, dass die Philosoph:innen des Briefes ein
       „Massaker“ an den Palästinenser:innen zu sehen glauben, das
       genozidale Pogrom der Hamas vom 7. Oktober aber nur als „Angriff“
       bezeichnen. Gerade so, als wären ein paar bewegte Teenager auf Skateboards,
       mit Pfeil und Bogen in die Kibuzzim eingefallen.
       
       Die Schuldfrage war für die Denker:innen wohl schon geklärt, bevor die
       Hamas mit Zivilist:innen im Schlepptau Frauen und Mädchen
       vergewaltigten, die Genitalien von Männern verstümmelten, Babies in Öfen
       verbrannten oder köpften, Körper massakrierten, Leichen schändeten, Eltern
       zwangen, die Misshandlungen an ihren Kindern mit anzuschauen. Letztlich, so
       sind die Denker:innen zu verstehen, habe Israel „als
       ethnisch-suprematistischer Staat“ und sein Apartheidssystem die Bedingungen
       für Gewalt erzeugt.
       
       ## Ist das wirklich Apartheid?
       
       Dass die Situation mindestens komplexer ist, zeigt schon allein die
       Tatsache, dass 20 Prozent der Israelis arabische Muslime sind, zwei
       arabische Parteien in der Knesset sitzen, muslimisch-arabische Israelis
       Teil der israelischen Armee sind und zwei arabisch-israelische Richter am
       Obersten Gerichtshof sitzen, davon einer muslimisch. Ist das wirklich
       Apartheid?
       
       Es gibt Rassismus, Diskriminierung, Unrecht, Rechtsradikale wie Ben Gvir in
       der aktuellen Regierung und fanatisch-nationalistische Siedler im
       Westjordanland, die mobartig Palästinenser:innen angreifen. Aber
       nichts von all dem kann das genozidale Pogrom vom 7. Oktober erklären oder
       legitimieren. So auffallend die Kälte, mit der viele den Zivilisationsbruch
       hinnehmen, so laut die Anteilnahme für Gaza und die Forderung nach einem
       Waffenstillstand.
       
       Auch in diesem Brief. Diese Forderung mag richtig klingen und im warmen
       Raum der Universität ein gutes Gewissen machen. Für Israel jedoch würde sie
       bedeuten, weiterhin mit der Hamas und ihrem dschihadistischen Terror
       konfrontiert zu sein. Richtig wäre stattdessen die Freilassung der
       israelischen Geiseln und die Befreiung Gazas von der Hamas zu fordern.
       
       Auch von Seiten der Palästinenser:innen müsste diese Forderung jetzt
       kommen.
       
       ## Menschen in Gaza
       
       Auf Keshet 12 News gibt es eine sehenswerte Dokumentation eines
       israelischen Journalisten über Menschen, die aus Gaza nach Europa geflohen
       sind. Alle wollen anonym bleiben, weil sie sogar im Exil noch Angst vor
       der Hamas haben. Die Interviewten erzählen, wie Millionen von Dollar, die
       ins Land kommen, an die Hamas und ihre Familien gehen und die Bevölkerung
       in Armut lebt. Ein Mann sagt: „Für die Hamas sind wir nur ihre
       Einkommensquelle.“
       
       Sie berichten von den Demonstrationen von 2017, als 10.000 Menschen im
       Flüchtlingslager Jabaliya im nördlichen Gazastreifen auf die Straße gingen
       und riefen: „We want life!“ und „Oh, Haniya und Abbas, wir werden mit Füßen
       getreten“. Sie waren zu den Elektrizitätswerken marschiert, weil
       Steuerstreitigkeiten zwischen der Hamas und der Palästinensischen
       Autonomiebehörde zu Stromausfällen geführt hatten. Die Hamas eröffnete das
       Feuer auf die friedlichen Zivilist:innen, verhaftete viele, brach ihnen
       Arme und Beine.
       
       Der Hamas-Funktionär Khalil al-Hayya sagte kürzlich ganz offen, das Ziel
       sei nicht, Gaza zu regieren, sondern Israel in einen dauerhaften
       Kriegszustand zu verwickeln. Was er nicht sagte, aber offenkundig ist: Die
       ganze arabische Welt soll in den Krieg gegen Israel ziehen.
       
       Und während auch Israel noch immer von Gaza und zuletzt auch aus Jemen
       beschossen wird, machen sich die Philosoph:innen jenes offenen Briefes
       Sorgen um ihre Steuern, mit denen nicht die Unterdrückten, so der Wortlaut,
       sondern die Unterdrücker – Israel – finanziert würden. Man stelle sich nur
       umgekehrt vor, jemand forderte die Steuergelder für ihre Professuren zu
       streichen, weil sie die Hassrede von der Straße für Philosophie halten. Das
       wäre doch seltsam.
       
       ## Eine Gegenrede von Seyla Benhabib
       
       Die türkisch-amerikanische Philosophin [3][Seyla Benhabib legte in einem
       Text, mit dem sie sich an die Kolleg:innen wandte], umgehend einige
       falsche Prämissen jenes Briefes offen: Dass die Philosoph:innen „den
       Konflikt in Israel-Palästina allein durch die Brille des
       ‚Siedlerkolonialismus‘ betrachten und die Gräueltaten der [4][Hamas vom 7.
       Oktober 2023] zu einem Akt des legitimen Widerstands gegen eine
       Besatzungsmacht hochstilisieren“, hält sie für einen „kolossalen Fehler“.
       
       Hier fehle „jegliches Gespür für Geschichte“. Benhabib macht auf die
       Widersprüche und das Leiden auf beiden Seiten aufmerksam, erinnert an
       Yitzhak Rabin, der von einem jüdischen Extremisten getötet, und an Anwar
       Sadat, der wegen seiner Bemühungen im Friedensprozess mit Israel von den
       ideologischen Vorläufern der Hamas ermordet wurde. Auch die
       Netanyahu-Regierung kritisiert sie hart – zu Recht.
       
       Seyla Benhabib fragt ihre Kolleg:innen: „Die Hamas hat sich der Zerstörung
       des Staates Israel verschrieben; das unterstütze ich nicht. Und Sie? Welche
       moralische oder politische Logik liegt Ihrer Argumentation hier zugrunde?“
       
       Hinter diese zentrale Frage werden die Unterzeichner:innen des offenen
       Briefes nicht zurückkönnen, wollen sie nicht in der antizionistischen
       Parole verharren, die aktuell allerorten gefährlichen Antisemitismus
       hervorbringt. Es geht dabei nicht um Bekenntniszwang, sondern um eine
       politische Frage. Den Raum dafür haben die Philosoph:innen mit ihrem
       Brief selbst geöffnet.
       
       10 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://drive.google.com/file/d/1N22Q0oCpwmIrCiW6yZYe1JunyPr1Tt0r/view
 (DIR) [2] /60-Geburtstag-von-Judith-Butler/!5280144
 (DIR) [3] https://medium.com/amor-mundi/an-open-letter-to-my-friends-who-signed-philosophy-for-palestine-0440ebd665d8
 (DIR) [4] /Nahost-Diskurs-seit-7-Oktober/!5967886
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tania Martini
       
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