# taz.de -- Postkolonialismus und Shoah-Forschung: Wege aus der Dichotomie
       
       > Seit dem 7. Oktober tobt ein Pingpong der Vorwürfe: „Ihr seid
       > Antisemiten“ versus „Ihr seid Rassisten“. Ein Plädoyer für mehr
       > Differenzierung.
       
 (IMG) Bild: Wie groß ist der Abstand der Shoah zu anderen Massenverbrechen? Besichtigung des Vernichtungslagers Auschwitz, 1964
       
       Seit dem Massaker der Hamas am 7.Oktober 2023 und dem Beginn von Israels
       zerstörerischer Kriegsführung in Gaza haben in Deutschland nicht nur die
       antisemitischen Vorfälle dramatisch zugenommen. Auch antiarabischer
       Rassismus und Abschiebeforderungen haben Hochkonjunktur. On top of that
       wird „der Postkolonialismus“ quer durch die Feuilletons als intellektuelle
       Brutstätte von Antisemitismus und Rechtfertigungsinstanz für die Untaten
       der Hamas dargestellt.
       
       Derartige Beschreibungen kritischer Kolonialismusforschung, zu der neben
       postkolonialen Studien und dekolonialer Theorie vor allem die Imperial-
       und Kolonialgeschichte gehören, werden weder der Heterogenität des Feldes
       noch ihren riesigen Verdiensten für das Verständnis von Kolonialismus wie
       auch dessen Nachwirkungen gerecht.
       
       Dennoch ist eine kritische Reflexion angebracht. Ich möchte folgende
       Ambivalenz betonen: Teile des Feldes totalisieren den Kolonialismus und
       seine Nachwirkungen zum „Hauptwiderspruch“, was zu einseitigen Sichtweisen
       auch auf Israel führt, an die Antisemitismus andocken kann. Gleichzeitig
       existieren zu allen strittigen Punkten Positionen, die deutlich
       differenzierter und progressiver sind als der deutsche Debatten-Mainstream.
       
       Im Historiker:innenstreit 2.0, der bis vor Kurzem die Feuilletons
       beschäftigt hat, ging es maßgeblich darum, wie die Shoah aus
       kolonialismuskritischer Perspektive betrachtet wird. Autoren wie Michael
       Rothberg oder Dirk Moses wurde [1][schon früh vorgeworfen, die Shoah zu
       relativieren.]
       
       Die Frage aller Fragen lautet in diesem Zusammenhang, wie groß der Abstand
       zwischen der Shoah und anderen Massenverbrechen ist.
       Imperialhistoriker:innen halten ihn für nicht groß genug, um die
       Shoah als unvergleichbar oder als eigene Kategorie jenseits der etablierten
       Verbrechenstypen des Völkerstrafrechts anzusehen. Dennoch ist die Differenz
       auch für sie bedeutsam. Dirk Moses und Jürgen Zimmerer etwa verstehen die
       Shoah als Extremfall von Massenverbrechen und betonen, dass sie gerade kein
       Verbrechen unter anderen war.
       
       ## Richtung Extremfall
       
       Dabei haben sich in den letzten 30 Jahren die Shoah-Historiografie, die
       (nichtdeutsche) Singularitätsdiskussion wie auch die Globalisierung der
       Shoah-Erinnerung allesamt in Richtung Extremfallkonzeption bewegt. Kaum
       jemand in diesen Bereichen bestreitet mehr, dass die Shoah substanziell ein
       Genozid war – also ein Exemplar einer übergeordneten Kategorie. Als
       singulär kann sie damit nur noch im Sinne des Extremfalls aufgefasst
       werden.
       
       Vor diesem Hintergrund versteht die kritische Kolonialismusforschung die
       Shoah nicht als Bruch mit einer zuvor heilen Zivilisation. Vielmehr ist die
       von Anfang an vorhandene Gebrochenheit der westlichen Zivilisation in der
       Shoah auf die Spitze getrieben worden (Horkheimer und Adorno lassen
       grüßen). Statt eine Dichotomie von Gegenrationalität (Shoah) und
       Zweckrationalität (alle anderen Genozide) zu konstruieren, wird der
       Erlösungsantisemitismus der Nazis am Ende eines Kontinuums paranoider
       Feindkonstruktionen verortet, die den allermeisten Massenverbrechen
       zugrunde liegen.
       
       Während derartige Shoah-Deutungen eine wichtige Bereicherung der deutschen
       Erinnerungskultur darstellen, wird es beim Verständnis von Antisemitismus
       (noch) komplizierter. Innerhalb der kritischen Kolonialismusforschung
       lassen sich zwei Sichtweisen auf Antisemitismus unterscheiden, die in der
       deutschen Diskussion regelmäßig durcheinandergeworfen werden.
       
       Beide finden sich bereits in Frantz Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“
       von 1952: einerseits die Auffassung, bei Antisemitismus handle es sich um
       eine „Familiengeschichte“ zwischen Weißen; anderseits die Position,
       Antisemitismus sei ein genuiner Rassismus, der mit derselben
       Entschiedenheit bekämpft werden muss wie der anti-Schwarze Rassismus.
       
       ## Antisemitismus betrifft nur Weiße?
       
       Die Konzeption der Familiengeschichte setzt voraus, dass Jüdinnen:Juden
       als weiß betrachtet werden. Damit werden nicht nur die Lebensrealitäten von
       Jewish People of Color übergangen. Da Weißsein mit Privilegien und Macht
       verbunden ist, schafft seine Verknüpfung mit Jüdinnen:Juden einen
       Resonanzraum für antisemitische Zuschreibungen jüdischer Übermacht. Wenn
       Antisemitismus ein Verhältnis zwischen Weißen ist, wird es auch unmöglich,
       islamistischen oder arabischen Antisemitismus in den Blick zu nehmen.
       
       Dagegen hat W.E.B. Du Bois, nachdem er die Trümmer des Warschauer Ghettos
       besichtigt hatte, für ein Verständnis von Rassismus jenseits der „color
       line“ geworben, das Antisemitismus einschließt. Im (deutschen) Insistieren
       darauf, dass Antisemitismus kein Rassismus ist, wird regelmäßig eine
       Dichotomie zwischen „dem“ Antisemitismus und „dem“ Rassismus konstruiert,
       die weder antisemitischen Dynamiken noch der Heterogenität der
       verschiedenen Rassismen angemessen ist.
       
       Zudem fehlt ein Argument, warum es innerhalb eines weiten Rassismusbegriffs
       nicht möglich sein sollte, Spezifika des Antisemitismus wie seinen
       verschwörungstheoretischen Exzess zu berücksichtigen. Dass Antisemitismus
       nicht in Rassismus aufgeht, ist trivial. Kein einziger Rassismus geht in
       seinem Allgemeinbegriff auf.
       
       Zum Konflikt in Israel/Palästina existieren innerhalb der kritischen
       Kolonialismusforschung ebenfalls zwei unterschiedliche Tendenzen. Die von
       der australischen Erfahrung geprägten Settler Colonial Studies etwa
       betrachten Israel einseitig als Siedlungskolonie und messen seinem
       Charakter als Staat der Shoah-Überlebenden und Zufluchtsstätte vor
       Antisemitismus keine Relevanz bei.
       
       In der politischen Verwendung legt ein derartiger Fokus eine
       Täter:innen/Opfer-Dichotomie nahe. Auf deren Grundlage sind nicht nur
       Rechtfertigungen des Hamas-Terrors möglich, auch dessen antisemitische
       Gehalte kommen nicht in den Blick.
       
       ## Im Gefolge von Edward Said
       
       Dagegen hat Edward Said bereits 1979 in „The Question of Palestine“ die
       Täter:innen/Opfer-Dichotomie überwunden, indem er die
       Palästinenser:innen zu „victims of victims“ erklärte. Said war in der
       Lage, seine Parteinahme für die palästinensische Sache mit einer
       Anerkennung jüdischen Leidens und der Bedeutung der Shoah zu verbinden.
       
       In seinem Gefolge verstehen heutige palästinensische Intellektuelle wie
       Rashid Khalidi oder Raif Zreik den Konflikt genauso, wie es auch der sicher
       nicht „des Postkolonialismus“ verdächtige Dan Diner tut: Es handelt sich
       basal um einen zugleich nationalen und kolonialen Konflikt, wobei je nach
       historischer Situation mal die eine, mal die andere Dimension überwiegt.
       
       Antisemitismus war dabei nicht nur Auslöser für den Zionismus als
       nationaler jüdischer Befreiungsbewegung in Europa. Seit den 1930er Jahren
       ist er auch zu einem inhärenten Bestandteil des Konflikts vor Ort geworden
       und hat nach 1948 zum Exodus von circa 900.000 Jüdinnen:Juden aus den
       arabischen Ländern und dem Iran beigetragen.
       
       Die koloniale Dimension wiederum beschränkt sich keineswegs auf das
       Offensichtliche: die gewaltförmige Landnahme und segregierte Rechtsprechung
       im Zuge der israelischen Besatzung des Westjordanlandes seit 1967. Vielmehr
       hat sie den Konflikt seit Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt: Die
       zionistische Praxis des Landkaufs implizierte, indem das moderne Recht
       traditionelle Gewohnheitsrechte aushebelte, eine Verdrängung der
       ortsansässigen arabischen Bevölkerung. (Das Modell dafür war im Übrigen die
       „innere Kolonisierung“ von Westpreußen und Posen Ende des 19. Jahrhunderts
       mit ihrem Ziel, eine deutsche Bevölkerungsmehrheit zu schaffen.)
       
       ## Das zentrale Argument
       
       Diese sachlich vermittelte Gewalt schlug im Zuge des israelischen
       Unabhängigkeitskrieges von 1947/8 in unmittelbare Gewalt um, was zur Nakba,
       der Flucht und Vertreibung von circa 750.000 Palästinenser:innen
       führte.
       
       Diner hat jüngst sogar Zreiks zentrales Argument übernommen. Die stärkste
       Legitimation Israels ist weder die Bibel noch die Shoah, sondern die
       Tatsache, dass mittlerweile Generationen von Jüdinnen:Juden dort
       geboren wurden. Siedler:innen, so Diner/Zreik, werden allerdings erst dann
       zu Natives, wenn sie den bisherigen Natives politische Selbstbestimmung und
       gleiche Rechte einräumen.
       
       Seit dem 7.10. erleben wir in Deutschland ein Pingpong von Straße und
       Feuilleton: „Zionismus ist Kolonialismus und daher böse“ vs. „Zionismus ist
       gut und kann daher nichts mit Kolonialismus zu tun haben“, „Ihr seid
       Rassist:innen“ vs. „Ihr seid Antisemit:innen“. Die Diner-Zreik-Position,
       [2][die auch schon in dieser Zeitung vertreten wurde], hat das Potenzial,
       die Konfrontation zu beenden. Sie schafft einen Rahmen, in dem sowohl für
       die jüdische Erfahrung von Antisemitismus und Shoah als auch die
       palästinensische von Kolonisierung und Nakba Platz ist.
       
       2 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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