# taz.de -- Kritik an Postkolonialen Theorien: Revanchistischer Kulturkampf
       
       > Kritik an postkolonialen Theorien hat Konjunktur. Sie mäandert zwischen
       > Bauchgefühl und revanchistischer Identitätspolitik. Zeit für eine
       > Verteidigung.
       
 (IMG) Bild: Fenster auf, Fenster zu
       
       Ein Gespenst geht um in Deutschland – „die postkoloniale Theorie“. Als
       monolithischer Block gerahmt und fälschlicherweise oft auch als
       „Postkolonialismus“ tituliert, taucht sie in Reden von Politiker*innen
       ebenso auf wie in Artikeln, Tweets und Stellungnahmen von
       Journalist*innen und Wissenschaftler*innen. Zuletzt hat auch Felix
       Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den
       Kampf gegen Antisemitismus, mit seiner Kritik am „Postkolonialismus“
       wiederholt für Schlagzeilen gesorgt.
       
       Kurz zusammengefasst lesen sich die Vorwürfe wie folgt: Postkoloniale
       Theorie leiste dem Antisemitismus von links Vorschub, verbreite eine
       zunehmende „Cancel-Culture“ an Universitäten, vertrete eine binäre
       Konstruktion der Welt in Gut und Böse und drücke sich in Hass auf Weiße
       aus.
       
       Durch diese massiven Angriffe scheint sich hierzulande rasch ein Fenster zu
       schließen, das gerade erst mühsam einen Spalt weit geöffnet wurde: die
       Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte und ihrer historischen
       Zusammenhänge zum rassenideologischen Vernichtungsprojekt des „Dritten
       Reichs“. [1][Geschichtsrevisionistischen Akteuren wie der AfD] kann dies
       nur gelegen kommen, fragte diese doch bereits 2022 im Bundestag, ob die
       Bundesregierung „die Einstellung der Förderung aller Projekte [erwägt], die
       in einem affirmativen Zusammenhang mit der postkolonialistischen Theorie
       stehen“.
       
       ## Bauchgefühlswissenschaft von Diskursunternehmern
       
       Man kann sich den gegenwärtigen Attacken auf postkoloniale Theorien auf
       zwei Wegen annähern. Der eine ist der einer wissenschaftlichen Kritik. Die
       Argumente der „Poko-Kritiker*innen“ werden auf ihre logische Kohärenz,
       Qualität der Argumente und vor allem auch auf ihren Wahrheitsgehalt hin
       überprüft. Im wissenschaftlichen Kontext meint Letzteres vor allem
       Quellentreue und Überprüfbarkeit: Kann die Aussage anhand der Literatur
       belegt werden?
       
       Aber damit ist es noch nicht getan. Wissenschaft lebt auch von
       Kontextwissen. Man kann sich schnell in ein Buch einlesen oder vorgeben,
       dies getan zu haben; das bedeutet allerdings nicht, dass man ein ganzes
       Feld überblickt. Genau aus diesem Grund beschäftigen sich
       Wissenschaftler*innen oft Jahre mit einem Gegenstand. Publikationen
       werden durch kollegiales Feedback, Gegenlektüre und Peer-Review-Verfahren
       überprüft. Dass sie dann immer noch anfechtbar sind, ist ein Kern der
       Wissenschaft.
       
       Gerade diese Qualitätskriterien vermissen wir jedoch in der im Moment sehr
       schrill geführten Debatte über „den Postkolonialismus“. Während verzerrende
       Darstellungen in der Debatte für einige Medienschaffende zum
       Geschäftsmodell gehören, ist die Bauchgefühlkritik an postkolonialen
       Studien besonders besorgniserregend, wenn Wissenschaftler*innen ohne
       verbriefte Expertise zum Thema ein Zerrbild der postkolonialen Studien
       entwerfen.
       
       ## Kein Überstehen wissenschaftlicher Prüfungsverfahren
       
       Dies lässt sich gut an der am 27. Oktober 2023 im Nachgang zum
       Hamas-Massaker vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit veröffentlichten
       Stellungnahme „Ist eine,Dekolonisierung' von Wissenschaft und Forschung
       erforderlich?“ verdeutlichen. Obwohl „postkoloniale Theorie“ noch immer
       eher ein Randdasein in Universitätscurricula fristet, wird sie in der
       Stellungnahme als „hegemoniale Strategie“ bezeichnet. Regelmäßig würden
       ihre Vertreter*innen zudem die Shoa relativieren. Die öffentlichen
       Statements und Buchprojekte einiger an diesem Netzwerk beteiligten
       Kolleg*innen schlagen in dieselbe Kerbe, würden aber sicherlich keine
       wissenschaftliche Peer Review oder andere wissenschaftliche
       Prüfungsverfahren überstehen.
       
       Ein Blick in die Literatur zeigt hingegen, dass es viele wichtige
       Berührungspunkte zwischen postkolonialen Perspektiven auf Rassismus,
       Kolonialismus und Faschismus und der Beschäftigung mit eliminatorischem
       Antisemitismus gibt. Stellvertretend seien hier die Arbeiten von Frantz
       Fanon und Hannah Arendt genannt. Ersterer wurde in seinem radikalen
       Humanismus nicht nur vom Kampf gegen den Faschismus als Soldat der Freien
       Französischen Streitkräfte beeinflusst, sondern auch von Jean-Paul Sartres
       1946 erschienenem Buch „Überlegungen zur Judenfrage“; Letztere wollte ihr
       Hauptwerk, „Die Ursprünge des Totalitarismus“, ursprünglich „Elemente der
       Schande: Antisemitismus – Imperialismus – Rassismus“ nennen.
       
       In der deutschsprachigen Debatte werden diese Zusammenhänge allerdings kaum
       behandelt. Vielmehr sind Kritiker*innen des Postkolonialismus mit ihrem
       Bauchgefühlswissen als Diskursunternehmer*innen überaus erfolgreich.
       Ihre Kampfpamphlete werden als intellektuell bedeutsame Beiträge gehandelt
       und zu Ankerpunkten der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie.
       
       ## Rechte Metapolitik
       
       Ein zweiter Weg der Auseinandersetzung mit den Kritiker*innen des
       Postkolonialismus besteht darin, diese Akteure selbst als Teil einer
       [2][autoritär-illiberalen Wende] zu begreifen, in deren Kontext rechte,
       konservativ-bürgerliche, liberale und teilweise auch linke Stimmen mit
       ähnlichen Argumenten auftreten.
       
       Stilprägend für diese Wende ist der ideologische Star der Neuen Rechten in
       den USA, Christopher Rufo. Der ehemalige Berater von Donald Trump und Ron
       DeSantis hatte zuletzt mit einer [3][massiven Zensur] von Schul- und
       Universitätslehrplänen in Florida von sich reden gemacht. In einem Tweet
       vom 13. Oktober vergangenen Jahres forderte Rufo, man müsse sich die
       Kernbegriffe linker, progressiver Bewegungen herauspicken und diese über
       geschickte assoziative Verkettungen in solcher Weise neu aufladen, dass
       auch Akteure von rechts bis links der Mitte nicht anders könnten, als diese
       Begriffe zu ächten.
       
       Konkret sollen seiner Vorstellung nach „starke Assoziationen“ zwischen
       Hamas, der Bewegung Black Lives Matter, den Democratic Socialists of
       America und wissenschaftlicher „Dekolonisierung“ geschaffen werden – um sie
       daraufhin in einem Zug zu attackieren, zu delegitimieren und zu
       diskreditieren.
       
       Rufos Strategie ist in den USA bereits bestens aufgegangen. Der Philosoph
       Alberto Toscano hat dies jüngst in seinem Essay „[4][The War on Education –
       in Gaza and at Home]“ eindringlich beschrieben. Die politischen
       Verhältnisse der USA lassen sich zwar nicht eins zu eins auf Deutschland
       übertragen. Aber auch bei uns tappen selbst Stimmen, die sich als liberal
       verstehen, en masse in die Diskursfalle der Neuen Rechten.
       
       ## Deutsche Variante der Critical Race Theory
       
       Postkoloniale Theorien ereilt damit hierzulande das gleiche Schicksal wie
       die Critical Race Theory in den USA. Dank Rufo und anderen
       Kulturkämpfer*innen fungiert der Begriff dort längst als leerer
       Signifikant, um Stimmungsmache zu betreiben. Er kann beliebig zu Themen mit
       links-progressivem Bezug eingestreut werden, um einen Punkt gegen „woke“
       Eliten zu erzielen.
       
       Erklärt werden müssen solche leeren Signifikanten nicht weiter, beziehen
       sie doch ihre Bedeutung gerade nicht aus Recherche, Quellen, Wissen und
       Belegen, sondern vor allem aus den Assoziationen mit anderen Wörtern. Diese
       werden dann zu einem vermeintlichen Bedrohungsszenario verdichtet und in
       ein allgemeines Ressentiment umgewandelt. Hier hat die neue „Neue Rechte“
       erfolgreich von der französischen Nouvelle Droite gelernt, die bereits seit
       den 1970ern Jahren einen Gramscianismus von rechts propagiert.
       
       Auch im deutschsprachigen Raum trägt deren [5][assoziative Metapolitik]
       zunehmend Früchte. Wer heute „Postkolonialismus“ hört, hört gleichzeitig
       „Wokeness“, „Antisemitismus“, „Cancel Culture“, „Rassismus gegen Weiße“
       etc. Auch im linken und liberalen Spektrum dürfte nicht immer allen klar
       sein, wessen politischen Strategien sie mit der Umarmung einer
       oberflächlichen Kritik am Postkolonialismus gerade aufsitzen.
       
       Gleichzeitig wäre es zu einfach, die lagerübergreifenden Angriffe auf „den
       Postkolonialismus“ nur als Ergebnis einer erfolgreichen rechten Metapolitik
       zu begreifen. Was die Protagonisten eint, ist die Artikulation einer auf
       Bestandswahrung ausgerichteten Identitätspolitik, die revanchistisch auf
       die unbequemen Fragen postkolonialer Theorien beziehungsweise im Falle der
       USA der Critical Race Theory reagiert. Dieser identitätspolitische Pushback
       ist Ausdruck des Versuchs, mit aller Kraft an den eigenen Privilegien und
       der Deutungshoheit über Geschichte und Gesellschaft festhalten zu wollen.
       
       ## Ohne postkoloniale Theorien kein Frieden
       
       Die mit dem 7. Oktober einsetzende Gewaltexplosion ist die massivste
       Zuspitzung seit Langem eines Jahrzehnte andauernden Konfliktes. Dieser
       Konflikt geht nicht zuletzt auf die Staatsgründung Israels zurück, die –
       obgleich ihrer Notwendigkeit in der Folge der Shoa – im Rahmen einer sehr
       langen Geschichte kolonialer Herrschaftsverhältnisse und Mandatspolitiken
       innerhalb der Region zu verorten ist. Daran erinnert auch der jüdische
       Erziehungswissenschaftler und Erstunterzeichner der
       [6][Jerusalem-Deklaration gegen Antisemitismus] Micha Brumlik in seinem
       Buch „Postkolonialer Antisemitismus?“.
       
       Man kann postkoloniale Theorien freilich auch im Hinblick auf Widersprüche,
       nicht schlüssige oder anderweitig problematische Argumentationen
       diskutieren. Eine friedliche und inklusive Zukunft in Israel/Palästina kann
       aber ohne die Einsichten postkolonialer Theorien nicht realisiert werden.
       Gerade weil ihre Vertreter*innen Fragen der Verteilung und Kontrolle
       von Land, der Entstehung menschenfeindlicher Kategorisierungen,
       Ausschlussmechanismen und multidirektionaler Gewaltverhältnisse ins Zentrum
       ihrer Analysen stellen, bieten sie eine überaus [7][nuancierte Analyse des
       Nahostkonflikts] an.
       
       Sie erinnern uns auch daran, dass insbesondere Deutschland aufgrund der
       Shoa nicht nur eine besondere Verpflichtung gegenüber jüdischen Menschen in
       und jenseits von Israel und dem Kampf gegen Antisemitismus hat, sondern
       auch gegenüber dem palästinensischen Volk.
       
       6 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://africasacountry.com/2020/01/colonial-revisionism-in-germany
 (DIR) [2] /Gefahr-antidemokratischer-Tendenzen/!5937734
 (DIR) [3] https://www.theguardian.com/books/2023/feb/09/ron-desantis-florida-education-censorship
 (DIR) [4] https://inthesetimes.com/article/campus-wars-gaza-higher-ed-christopher-rufo
 (DIR) [5] https://www.cambridge.org/core/journals/perspectives-on-politics/article/abs/metapolitics-and-demographic-anxiety-on-the-new-right-using-and-abusing-the-language-of-equality/77599566FEAD959C2E43B79F1C304CB9
 (DIR) [6] https://jerusalemdeclaration.org/
 (DIR) [7] /Postkolonialismus-und-Shoah-Forschung/!5998108
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Ouma
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Postkolonialismus
 (DIR) Israel
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Antisemitismus-Vorwurf
 (DIR) Kolonialismus
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Festival
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