# taz.de -- Debatte über den Denker Achille Mbembe: Die andere Seite der Gleichung
       
       > Zur Diskussion über Achille Mbembe und die Beziehung zwischen
       > Postkolonialismus und Antisemitismus gehört der kritische Blick auf den
       > Zionismus.
       
 (IMG) Bild: Nachdenken über die Beziehung zwischen Postkolonialismus und Antisemitismus
       
       Die Debatte über den [1][afrikanischen Denker Achille Mbembe] berührt eine
       zentrale Frage: Wie verhalten sich Postkolonialismus und Antisemitismus
       zueinander? Diese Debatte lohnt, geführt zu werden. [2][Saba-Nur Cheema und
       Meron Mendel] haben in der taz kritisiert, dass Mbembe und der
       postkoloniale Diskurs die Besonderheiten des Antisemitismus im Vergleich zu
       anderen Formen des Rassismus ignoriert. Es ist richtig, dieses Thema
       anzusprechen.
       
       Doch in ihrer Kritik fehlt die andere Seite der Gleichung – in der
       deutschen Debatte über Antisemitismus ist kein Platz für die kolonialen
       Aspekte Israels und des Zionismus. Und so ist Cheemas und Mendels Lesart
       des Antisemitismus unbefriedigend, trotz ihrer Sympathie für den
       postkolonialen Diskurs. Sie begreifen den Antisemitismus und Israel als
       eine Geschichte, die isoliert für sich steht. Eine seriöse, wenn auch
       provozierende und mit Affekten aufgeladene Debatte der zentralen Fragen in
       Sachen Israel und Palästina ist somit kaum möglich. Deshalb verstehen sie
       Mbembe falsch.
       
       Es war kein geringerer als Ze’ev Jabotinsky, die charismatische
       zionistische Leitfigur und der Gründer der revisionistischen Bewegung, der
       1923 kühl die kolonialen Aspekte des Zionismus beschrieb. In dem Artikel
       „Die eiserne Mauer“ erklärte er seinem Publikum schonungslos, warum die
       Palästinenser den Zionismus gewaltsam ablehnten: „Meine Leser haben eine
       allgemeine Vorstellung von der Geschichte der Kolonialisierung in anderen
       Ländern. Ich schlage vor, dass sie alle ihnen bekannten Fälle betrachten
       und prüfen, ob es einen einzigen Fall gibt, in dem eine Kolonisierung mit
       der Zustimmung der einheimischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Diesen
       Präzedenzfall gibt es nicht. Die einheimische Bevölkerung hat immer
       hartnäckig Widerstand gegen Kolonisatoren geleistet.“
       
       Haim Kaplan, ein leidenschaftlicher Zionist aus Warschau, beschrieb 1936 im
       gleichen Geiste den sogenannten Großen Arabischen Aufstand in Palästina, wo
       zu jener Zeit seine beiden Kinder lebten. Das Gerede vom wieder
       aufgeflammten arabischen Antisemitismus sei bloß zionistische Propaganda,
       stellte er fest. Denn aus ihrer Perspektive hätten die Araber ja recht: Der
       Zionismus vertreibe sie aus ihrem Land und beginne einen Krieg gegen sie.
       Kaplan schrieb sein Tagebuch auch während des Holocaust weiter. Es ist
       einer der wichtigsten Texte aus dem Warschauer Ghetto. Er kam im August
       1942 in Treblinka ums Leben.
       
       ## Widerstand gegen Kolonialisierung
       
       Es war nicht ungewöhnlich, dass Juden in den 1920er und 1930er Jahren
       erkannten, dass der Krieg, den die Araber gegen die zionistische Bewegung
       führten, nicht im Antisemitismus wurzelte, sondern in dem Widerstand gegen
       die Kolonisierung Palästinas. Und doch rechtfertigten die ehrlichen
       Zionisten Jabotinsky und Kaplan den Zionismus. In Deutschland würden sie
       heute als antisemitisch denunziert, weil sie Verständnis für den
       gewaltsamen palästinensischen Widerstand zeigten und den Zionismus als
       koloniales Projekt bezeichneten.
       
       Solide Forschungen auch von zionistischen Historikern haben gezeigt, dass
       der Zionismus, wenn auch nur teilweise, dem Siedlerkolonialismus glich.
       Zionisten wollten in Übersee eine Gemeinschaft aufbauen, die durch
       Identitätsbindung und eine gemeinsame Geschichte verklammert war. Das Land,
       das sie besiedelten, hielten sie für leer und unbewohnt – oder aber von
       Einheimischen bevölkert, die weniger zivilisiert waren als sie selbst. Sie
       wollten die Einheimischen weniger beherrschen und ausbeuten denn als
       politische Gemeinschaft verdrängen. Die Debatte, wie wichtig der
       Kolonialismus der Siedler für den Zionismus und Israel war, ist noch nicht
       abgeschlossen – das gilt besonders für die Zeit nach 1967.
       
       Wenn wir den Zionismus auch als eine koloniale Bewegung von Siedlern
       begreifen, leugnen wir damit nicht, dass er das legitime Ziel verfolgte,
       eine Heimat für das jüdische Volk zu schaffen. Und wir leugnen auch nicht
       das Existenzrecht Israels. Wer die USA, Kanada oder Australien als
       koloniale Siedlerstaaten beschreibt, stellt ja damit auch keineswegs deren
       Existenzrecht infrage. Aber dieser Blick enthüllt die Zwiespältigkeit des
       Zionismus. Er war eine nationale Befreiungsbewegung, die Juden, die vor dem
       Antisemitismus flohen, einen sicheren Hafen bot. Er schuf einen Ort, an dem
       Holocaust-Überlebende ihr Leben neu und selbstbestimmt in die Hand nehmen
       konnten. Der Zionismus schuf aber auch einen kolonialen Siedlerstaat, in
       dem eine klare Hierarchie zwischen Juden und Arabern herrscht und
       Segregation und Diskriminierung zum Alltag gehören. Solche Phänomene gab es
       häufig in der Geschichte, und es gibt keinen Grund, Israel und Palästina
       nicht in diesem Sinne zu analysieren und zu debattieren, einschließlich des
       Konzepts der Apartheid.
       
       Zionismus zu verstehen bedeutet, zwei komplexe Erzählungen zu erfassen, die
       unvereinbar scheinen, sich aber in Wahrheit ergänzen. Wir müssen die
       Geschichte erzählen, warum Juden vor Antisemitismus und Diskriminierung in
       Europa flohen und in Palästina einwanderten, und wir müssen die Geschichte
       erzählen, welche Konsequenzen dies für die Palästinenser in den letzten
       hundert Jahren hatte.
       
       ## Flüchtling und Siedler
       
       Der palästinensische Intellektuelle Raef Zreik hat diese Ambivalenz in
       poetische Worte gefasst: „Der Zionismus ist ein koloniales Siedlerprojekt,
       aber nicht nur das. Er verbindet das Bild des Flüchtlings mit dem Bild des
       Soldaten, des Machtlosen mit dem Mächtigen, des Opfers mit dem Täter, des
       Kolonisators mit dem Kolonisierten. Er ist koloniales Siedlungsprojekt und
       gleichzeitig ein nationales Projekt. Die Europäer sehen den jüdischen
       Flüchtling auf der Flucht, der um sein Leben ringt. Der Palästinenser sieht
       [3][das Gesicht des kolonialen Siedlers], der sein Land übernimmt.“
       
       Antisemitismus zu verstehen bedeutet also auch, eine komplexe Situation zu
       begreifen: Jüdinnen und Juden werden manchmal auch unter dem Deckmantel des
       Antizionismus attackiert. Sie sind heute in vielen Ländern weltweit
       (potenzielle) Opfer von Antisemitismus, während Israel ein Übeltäter ist.
       Juden können wie alle Menschen sowohl Opfer als auch Täter sein. Das macht
       Juden nicht kleiner und würdigt sie nicht herab. Im Gegenteil: Es macht sie
       mehr und nicht weniger menschlich.
       
       In dieser Lage haben Juden eine doppelte Verantwortung: Sie müssen den
       Antisemitismus weltweit bekämpfen – und sie tragen in Israel die
       Verantwortung für das falsche Verhalten gegenüber den Palästinensern. Jede
       Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt, die zum Ziel hat,
       allen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer wohnen, die vollen
       politischen, nationalen, bürgerlichen Rechte und die Menschenrechte zu
       gewähren (sei es in Form eines Staates, zweier Staaten oder einer
       binationalen Föderation), sollte politisch willkommen sein und nicht als
       antisemitisch gelten.
       
       Deutschland ist in den letzten beiden Generationen ein Modell für
       Vergangenheitsbewältigung geworden. Wir fragen uns, ob dieser Weg nun in
       eine Art Sackgasse geraten ist, die ein vorsichtiges Umdenken erfordert.
       Die derzeitige Situation in Deutschland ist absurd. Jede Kritik an der
       israelischen Besatzungspolitik gilt als antisemitisch. Ist das wirklich die
       Lehre, die die Deutschen aus dem Holocaust ziehen? Dass Juden kein Unrecht
       tun können? Dieser Philosemitismus hat etwas Beunruhigendes.
       
       ## Universeller moralischer Imperativ
       
       Wir beide lehren die Geschichte des Holocaust. Eines der Dinge, die wir aus
       der Beschäftigung mit dem Holocaust gelernt haben, ist, wie wichtig es ist,
       auf die Stimmen der Opfer zu hören. „Die Stimmen der Opfer“ lautete die
       Überschrift einer Kritik in der Zeit, die das Werk des Historikers Saul
       Friedländers lobte. Dessen mehrbändige Studie „Das Dritte Reich und die
       Juden“ zeigt exemplarisch, wie wichtig es ist, die Stimmen der Opfer in die
       historische Analyse einzubeziehen. Eine ähnliche Forderung stellte Gayatri
       Spivak auf dem Gebiet der Postcolonial Studies, wenn sie fragt: „Können die
       Subalternen sprechen?“ Bei beidem, dem Holocaust und dem europäischen
       Kolonialismus, ist auf die Stimmen der Opfer zu hören zu einem universellen
       moralischen Imperativ geworden, auch über den Holocaust hinaus.
       
       Wer sind die Subalternen und die Opfer in den Kontexten, von denen wir
       sprechen? Beim Holocaust und Antisemitismus sind dies Juden. Beim Konflikt
       im Heiligen Land sind dies auf gänzlich andere Weise die Palästinenser. Wir
       sollten auch ihnen aufmerksam zuhören. Sie haben früh erkannt, dass der
       Zionismus koloniale Züge hat. Sie haben darauf hingewiesen, dass arabische
       Zivilisten 1948 vertrieben wurden – und nicht freiwillig ihre Dörfer und
       Städte verließen. Heute sind sie Zeugen der israelischen Besatzung: der
       Plünderung von Land, der Errichtung von Siedlungen, der Tötung
       Unschuldiger, des Abrisses von Häusern und anderem. Sie sind Zeugen wie der
       palästinensische Traum von einem unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967
       von Israel zerschlagen wird – denn Israel plant derzeit die Annexion großer
       Teile des Westjordanlands.
       
       Wir sollten auf diese Stimmen hören. Nicht, weil sie immer recht haben –
       wer hat das schon? Auch wenn diese Stimmen wütend klingen – die Besetzten
       haben ein Recht darauf, wütend zu sein. Wir aber haben die Pflicht, den
       Zeugen der Ungerechtigkeit zuzuhören. Diese Stimmen sind Teil des Gesprächs
       und dürfen nicht reflexartig als antisemitisch bezeichnet werden. Wenn wir
       auf diese Stimmen hören und unserer Verantwortung genügen, macht uns das
       mehr und nicht weniger jüdisch. Es macht uns alle mehr, nicht weniger
       menschlich.
       
       Übersetzt aus dem Englischen von Stefan Reinecke. [4][Der Artikel von
       Saba-Nur Cheema und Meron Mendel] erschien in der taz am 25. April
       
       1 May 2020
       
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