# taz.de -- Kunst nach dem 7. Oktober: Im Notfall Trial and Error
       
       > Der Kulturbetrieb in Deutschland ist an einem Tiefpunkt. Es wird
       > aggressiv gestritten, verbal aufgerüstet, zum Boykott aufgerufen. Was tut
       > not?
       
 (IMG) Bild: Holzkiste, wenn der Künstler streikt: Blick in Ausstellung „Poetics of Encryption“ in den KW Institute for Contemporary Art, Berlin 2024
       
       Im Berliner Kunsthaus KW – Institute for Contemporary Art steht inmitten
       eines Ausstellungsraums eine Holzkiste. Darin soll ein Kunstwerk aus
       Leuchtstoffröhren enthalten sein, so informiert ein Label an der Wand, sein
       Verfasser: „American Artist“. Vielleicht ist in der Kiste gar nichts drin
       und sie suggeriert nur, man verpasse hier etwas. „American Artist“
       bestreikt das KW als deutsche Kultureinrichtung, hat seine Teilnahme an der
       [1][Ausstellung „Poetics of Encryption“] zurückgezogen. Und das KW schließt
       sich auf eine Art dem Streik an und straft das Publikum mit dieser
       Holzkiste ab.
       
       Was ist passiert im deutschen Kunstbetrieb, für das diese Kiste nun ein
       Symptom ist? Viel, seit dem 7. Oktober, sehr viel. Und es scheint, als
       wären die Ausstellungshäuser an einem Tiefpunkt angelangt. Fragt man bei
       Kurator:innen und Museumsleiter:innen nach, wie es hierzulande um
       die Kunst und das Ausstellungmachen steht, wird nur zögerlich geantwortet.
       Am liebsten möchte man gar keine öffentlichen Aussagen mehr machen.
       
       In den letzten Monaten hatte es viele Absagen gegeben, und ihr Symbolgehalt
       ist fatal. Die Hashtags „Censorship“ oder „McCarthyismus“, mit denen in den
       sozialen Medien von streikenden Künstler:innen derzeit öffentlich
       geförderte Kulturinstitutionen markiert werden, sie sind schon andernorts
       in ein festes Narrativ übergegangen. Ganz selbstverständlich leitet der
       Autor Eugene Yiu Nam Cheung auf der US-amerikanischen Onlineplattform
       e-flux seinen Text über die so desaströs geendete [2][Lesung von Tania
       Bruguera im Hamburger Bahnhof] damit ein, dass „in Deutschland ein
       zunehmendes Klima der Zensur“ herrsche.
       
       Viel Aufsehen erregte international der Fall der [3][südafrikanischen
       jüdischen Künstlerin Candice Breitz]. Sie hätte jetzt im Saarlandmuseum
       ihre Videoarbeit zu Prostitution in Südafrika zeigen sollen, doch die
       Ausstellung wurde im November mit der Begründung abgesagt, Breitz würde
       damit auch ihren politischen Äußerungen zum Nahostkonflikt eine Plattform
       bieten. Die Künstlerin hatte zuvor in sozialen Netzwerken und bei
       öffentlichen Kundgebungen Kritik an Israel geübt, provozierte mit Begriffen
       wie „Apartheid“ und „Genozid“, nannte die israelische Regierung
       „sadistisch“.
       
       ## Verweben von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit
       
       In dieser Woche hat die saarländische Museumschefin Andrea Jahn nun
       vorzeitig ihren Posten geräumt, anscheinend eine Folge der Absage. Im
       Saarland wird diskutiert, ob Kulturministerin Christine Streichert-Clivot
       (SPD) zu starken Druck auf Jahn ausgeübt hat.
       
       Doch der Fall Candice Breitz ist vielleicht exemplarisch für eine längere
       Entwicklung in der Kunst, die seit den aggressiven Diskussionen um den
       Nahostkonflikt für Ausstellungshäuser zu einem paralysierenden Dilemma
       geworden ist. Denn die im Kulturbetrieb so viel debattierten Begriffe
       Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit sind schon lange in der Kunst
       miteinander verwoben. Die politisch aktive Breitz und ihre Kunst sind kaum
       zu trennen.
       
       „Ich bin skeptisch, ob Kunst das richtige Mittel ist, politisch etwas in
       Gang zu setzen“, hatte Künstler Tim Eitel einmal gesagt. „Meistens ist
       Kunst ja ein Symptom gesellschaftlicher Prozesse.“ Das stand 2010 in Texte
       zur Kunst, als das Magazin in einer Ausgabe die Frage nach dem Politischen
       in der Kunst stellte. Noch verortete Tim Eitel das Politische in den
       materiellen Verhältnissen.
       
       Autor Helmut Draxler äußerte in der gleichen Ausgabe bereits die Sorge,
       dass eine politische Kunst ihre Autonomie verliere und sich unter
       Ideologieverdacht stelle. Heute spricht man längst davon, dass die Kunst
       ihre Autonomie aufgegeben habe. Schon auf der documenta 2017 ließ sich
       beobachten, dass Identität und Autorschaft überhaupt erst den Wert eines
       Kunstwerks legitimieren.
       
       In den sozialen Medien hat in den letzten Monaten ein regelrechtes
       Aufrüsten stattgefunden, durch Bilder und durch Worte, durch verkürzte
       Parolen dank Hashtags wie „Genozid“, „Apartheid“ oder „Rassismus“. Die
       Fronten sind hart, auch aufgebaut von Künstler:innen und
       Kurator:innen. Jene, die meinen, sich mit einfachen politischen Formeln
       auf eine vermeintlich gute Seite zu stellen, wenn sie sich für die
       palästinensische Sache einsetzten, in einem Konflikt, der so komplex ist,
       dass er auch erfahrene Politikexpert:innen überfordert.
       
       ## Boykott als ästhetische Form?
       
       Die Venedig-Kunstbiennale steht an, und jüngst kursierte im Internet ein
       Boykottaufruf. Mit grafischer Guerillataktik täuschte eine Website den
       offiziellen Auftritt der Biennale vor und rief dazu auf, den israelischen
       Pavillon zu stoppen. In kurzer Zeit hatten 18.000 Personen aus dem
       internationalen Kunstbetrieb unterschrieben, darunter bekannte und
       unbekannte Namen.
       
       Die Künstlerin Hito Steyerl hat einen Begriff für derlei Vorgänge gefunden:
       „Boycottism“. Das Boykottieren in den sozialen Medien und den realen Räumen
       wie bei „Strike Germany“ deutet Steyerl so als künstlerische Performance.
       Damit wäre vielleicht ein Umgang gefunden. Man müsste all die
       Unterschriften und Postings nicht mehr als politisches Handeln ernst
       nehmen, sie wären dann nur Teil einer ästhetischen Kategorie, eines
       gewissen Radical Chic.
       
       Doch ganz so einfach ist es nicht. Das, was verbreitet wird, ist hart,
       feindselig, oft einseitig. Man muss letztlich gegenhalten – durch
       Aufklärung. Die Diskussionen müssen aus der Unterkomplexität des Internets
       herausgehievt werden. Oder man überführt die Diskussionen in den realen
       Raum, zum Beispiel in die paralysierten Museen.
       
       Aber bräuchte es dafür etwa einen Polizeischutz, wie es zuvor die Berliner
       Innensenatorin Iris Spranger (SPD) forderte, nachdem die Performance der
       kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof in Berlin
       schmerzhaft enden musste? Bruguera hatte bei einer geplant 100-stündigen
       öffentlichen Lesung von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse die Grenzen
       der Diskussionsfähigkeit austesten wollen, lud auch israelkritische
       Demonstranten ein.
       
       ## Es entlud sich antisemitischer Hass
       
       Während gerade Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt
       am Main, aus Hannah Arendts Werk las, entlud sich unter ihnen ein Hass, und
       man kann sagen, es war ein antisemitischer Hass, denn er war an die
       Repräsentantin einer jüdischen Einrichtung gerichtet: Wenzel wurde als
       „Rassistin“ beleidigt und mit den Worten „You are committing genocide –
       shame on you“ bedrängt.
       
       Doch Law and Order forderte auch Wenzel nicht, als sie infolge einer
       Sitzung des Kulturausschusses im Bundestag Handlungsempfehlungen für Kultur
       und Politik veröffentlichte, wie dem ansteigenden Antisemitismus im
       Kulturbetrieb zu begegnen sei. Auch administrative Maßnahmen bei
       öffentlichen Förderungen, wie es [4][Berlins Kultursenator Joe Chialo mit
       der Antisemitismusklausel] versuchte, scheinen ihr kein Mittel. Wenzel, die
       Museumsfrau, spricht vielmehr vom „Bereitstellen zusätzlicher Mittel für
       die Fortbildung des leitenden Personals von Kultureinrichtungen zur
       Stärkung ihres antisemitismuskritischen Urteilsvermögens“.
       
       „Eine staatliche Förderung dieser Schulungen begrüßen wir“, antwortet der
       Direktor des Museum Folkwang in Essen, Peter Gorschlüter, auf
       taz-Nachfrage. „Die Schulungen sollten aber auch weiterhin von unabhängigen
       Fachleuten durchgeführt werden und nicht im Auftrag der Politik.“ Das
       Folkwang-Museum war Ende letzten Jahres in die Schlagzeilen geraten, als
       der Kurator Anais Duplan nach BDS-nahen Posts zum Nahostkonflikt von einer
       Ausstellung abzog und in den sozialen Medien den internen Briefwechsel mit
       dem Museum veröffentlicht hatte. Auch jetzt macht Duplan auf Instagram mit
       einem Brief gegen das Folkwang auf sich aufmerksam.
       
       „Antisemitismuskritisches Urteilsvermögen“ ist ein guter Begriff und
       womöglich schwer zu erreichen. Es begegnet wohl auch dem Ansatz der
       [5][Literaturwissenschaftlerin Yael Kupferberg. Die betonte im Zuge der
       Aufarbeitung antisemitischer Verfehlungen während der documenta 2022], dass
       antisemitische und allgemein diskriminierende Feindbilder immer auftauchen
       werden in der Kultur, man müsse aber eine „reflexive Distanz“ zu ihnen
       entwickeln.
       
       ## Die „reflexive Distanz“ zu Feindbildern
       
       Diese reflexive Distanz, ein souveränes Verhältnis zu schwierigen Inhalten,
       ließe sich auch durch Schulungen in den Vorgesprächen zu den „Codes of
       Conduct“, dem Verhaltenskodex im Kulturbetrieb, aufbauen.
       Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) wehrt sich derzeit öffentlich
       gegen [6][solche Verhaltensregeln]. Er trat einst als Oberbürgermeister von
       Kassel für die Kunstfreiheit der documenta ein, indem er in den Siebzigern
       die Findungskommission einführte und so die Weltkunstschau von der Politik
       trennte. Aber schränken „Codes of Conduct“ die Kunstfreiheit ein, oder
       schärfen sie nicht eher das Bewusstsein?
       
       Die Anforderung, Verfehlungen zu erkennen und ihnen mit Haltung zu
       begegnen, dem Druck von Politik einerseits und Aktivist:innen andererseits
       standzuhalten, lastet besonders bei Museumsdirektor:innen oder
       Kurator:innen. Daher sollten sie Boykottforderungen ablehnen, egal aus
       welcher Richtung sie kommen. „Kontroversität muss zugelassen werden“,
       schrieben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel kürzlich in ihrer FAZ-Kolumne.
       Notfalls in einem „Trial-and-Error-Verfahren“, wie Hito Steyerl sagt.
       
       Die Verengung der Diskussion auf Kunst- und Meinungsfreiheit hat noch eine
       andere Wirkung. Was ihr zum Opfer fällt, ist die Kunst selbst. Die taucht
       in den Debatten nicht auf.
       
       17 Mar 2024
       
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