# taz.de -- Kunstfreiheit und ihre Institutionen: Tief sitzt der Argwohn
       
       > Ausstellungen sind derzeit ein politisches Kampffeld, ihre öffentliche
       > Förderung gerät seit dem 7. Oktober ins Wanken. Wie steht es dann um die
       > Kunst?
       
 (IMG) Bild: Auch ein Verbot, komplett von der Kunstfreiheit gedeckt: Boris Lurie, „Stenciled NOs“, 1969 (Ausschnitt)
       
       Es ist leider gerade so: Kunstausstellungen sind ein politisches Kampffeld.
       Das könnte noch radikale Kräfte auf den Plan rufen. Die Künstlerin Sophia
       Süßmilch erhielt letzte Woche Morddrohungen, nachdem ein CDU-Lokalpolitiker
       zum Boykott ihrer Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück aufrief, Süßmilch
       provoziert dort mit Motiven des Kannibalismus. Und wer weiß, was sich die
       AfD in Sachsen noch auf eine abgesagte Schau im Dresdener Albertinum
       einfallen lässt, weil eine Kuratorin dort mit dem Wording über den
       Massenmord an die Ovaherero und Nama nicht einverstanden war.
       
       Die Angriffe kommen aus unterschiedlichen Richtungen. In Beschuss geraten
       die öffentlichen Ausstellungshäuser und Kunsträume. Sie müssen derzeit
       gegen viele Seiten ihre Autonomie behaupten. CDU-Lokalpolitiker, [1][die
       auf eine drastische Kunst mit einem verengten Moralismus reagieren], sind
       da womöglich leicht abzuwehren. Viel prekärer ist die Situation
       öffentlicher Kunstinstitutionen, wenn es um ihre Rolle als Mittler zwischen
       Staat und Kunst geht.
       
       Denn seit den antisemitischen Verfehlungen der Documenta 2022 und mehr
       noch, seitdem Teile des Kunstbetriebs den Terrorangriff der Hamas auf
       Israel für einen postkolonialen Protest umdeuten, gibt es tiefes Misstrauen
       in einem System der öffentlichen Kulturförderung, in dem zuvor lang eine
       „grundsätzliche Synchronizität von demokratischem Staat und
       zeitgenössischen Künsten“ vorgeherrscht hatte, wie Mark Siemons es kürzlich
       in der FAS beschrieb. „Beide schienen ja eine Ausrichtung auf
       Individualismus, Liberalität, Diversität zu teilen“. Und das tun sie
       offenbar jetzt nicht mehr.
       
       [2][Für den Staat stellt sich die Frage, wie er vermeiden kann], durch die
       Kunst auch antisemitische Positionen zu fördern. Dass die Berliner
       Justizsenatorin Felor Badenberg von der CDU anstrebt, [3][die
       Verfassungstreue von Künstler:innen, die Förderanträge stellen, notfalls
       mit Hilfe des Verfassungsschutzes zu prüfen,] zeugt dafür, wie gefährlich
       tief der Argwohn sitzt.
       
       ## Die Nichtdefinition der Kunst
       
       Gegen dieses Misstrauen müssen die öffentlichen Ausstellungshäuser jetzt
       anarbeiten. Das können sie auch gegenüber dem Staat tun, wenn sie auf der
       anderen Seite ihre Autonomie gegenüber dem Kunstbetrieb verteidigen, sich
       nicht für seinen Aktivismus instrumentalisieren lassen. Das Albertinum
       Dresden hat genau das versucht, als es einen Instagram-Post seiner
       Kuratorin Zoé Samudzi über die „gegenwärtige genozidale deutsche
       Außenpolitik“ als persönliche Meinungsäußerung kennzeichnen lassen wollte.
       Samudzi kündigte ihren Ausstellungspart auf.
       
       Schwieriger wird es, wenn es um die Frage der Kunstfreiheit geht, um die
       gerade in der Debatte um Kulturförderungen so sehr gerungen wird. Der
       Kunstfreiheit sind die Ausstellungshäuser ihrem Selbstverständnis nach
       verpflichtet. Aber wann ist etwas Kunst, wann persönliche Meinung? Das ist
       nicht leicht auseinanderzuhalten, denn die Kunst ist aus gutem Grund nicht
       definiert. Das Grundgesetz sieht zwar in Artikel 5 die unbedingte Freiheit
       der Kunst vor, doch liefert der Gesetzgeber keine Definition darüber, was
       Kunst eigentlich ist.
       
       Wenn etwa [4][Adorno in der Minima Moralia] schrieb: „Aufgabe von Kunst
       heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“, und ganz gegenteilig der
       neue Direktor des ZKM in Karlsruhe, Alistair Hudson, eine „usefulness“,
       eine gesellschaftliche Nützlichkeit von Kunst, einfordert, so handelt es
       sich jeweils nur um einen Kunstbegriff. Und der kann selbst innerhalb eines
       Kunstwerks variieren.
       
       Das zeigt sich derzeit in den Hamburger Deichtorhallen, wo das
       US-amerikanische Kollektiv New Red Order ein autonomes Kunstwerk in
       künstlerischen Aktivismus umkippen ließ. Seiner politisch-humoristischen
       Installation, in der sich ein animierter Baumstamm und ein Biber comichaft
       über die Ressourcenausbeutung in den USA austauschen, fügte New Red Order
       kurzerhand noch ein alarmrotes Protestplakat hinzu. Der pamphletartige Text
       darauf zieht eine krude Verbindungslinie von der Kolonisierung Amerikas
       über den Holocaust zum Krieg in Gaza. Das Plakat deklarierte New Red Order
       als Teil des Kunstwerks. Es zu entfernen hätte bedeutet, die Kunstfreiheit
       zu missachten.
       
       ## Kein gesitteter Debattierclub
       
       Die Deichtorhallen nutzen nun ein institutionelles Werkzeug, das den
       öffentlichen Kunsträumen seit der Documenta-Debatte in die Hand gelegt
       wurde: Auf einem Infozettel neben der Installation von New Red Order
       distanzieren sie sich „ausdrücklich von den Inhalten und Ausdrücken der
       Künstler im Textteil der präsentierten Arbeit“. Das ist formal korrekt,
       aber ziemlich schmallippig.
       
       Kontextualisierung von schwieriger Kunst ist ein häufiges Schlagwort: Warum
       ist das Protestplakat ein Problem? Hat New Red Order die Kunstfreiheit für
       seine Parolen ausgehöhlt? Mit solch Diskussionsmaterial ausgestattet,
       können die Ausstellungshäuser auch ein anderes Ideal verteidigen, das sie
       als autonomer Mittler zwischen demokratischem Staat (so lang er
       demokratisch ist) und Kunst anstreben: der Kunstraum als Ort des Streits.
       
       Doch leider sind Kunstausstellungen derzeit kein gesitteter Debattierclub.
       Sie sind ein Kampffeld. Hier geht es um Parolen, um Boykott, um Dogmen.
       
       Was nun den Kunstbegriff und die dazugehörige Frage nach der Kunstfreiheit
       angeht, so kann man beobachten, dass dieser Kampf vor allem in den
       öffentlichen Ausstellungshäusern stattfindet. Kürzlich [5][war auf der
       Messe art basel zwar viel politische Kunst] zu sehen – Faith Ringgolds
       Schwarzer Trauermarsch „The Wake and Resurrection of the Bicentennial
       Negro“ las sich dort als Anklage an den US-amerikanischen Rassismus – aber
       von roten Protestplakaten und Boykottaufrufen war auf einer Schau des
       privaten Kunstmarkts keine Spur.
       
       ## Spiel mit dem Staat?
       
       Man könnte dann glatt denken, es ginge einigen Künstler:innen in den
       öffentlichen Ausstellungen nicht mehr um die Kunst selbst, sondern um ein
       Spiel mit dem deutschen Staat, dessen Grundfesten der Kulturförderung
       gerade ins Wanken geraten. Für die öffentlichen Ausstellungshäuser bedeutet
       das viel Arbeit.
       
       30 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sophie Jung
       
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