# taz.de -- Ausstellung über Bauen mit Bestand: Wider den Abriss
       
       > Warum plattmachen und neu bauen trotz immenser Emissionen? Das
       > Architekturmuseum in Frankfurt zeigt, wie viel besser Bauen mit Bestand
       > ist.
       
 (IMG) Bild: Das ganze Dorf Shangtian wurde durch eine genossenschaftliche Initiative umgebaut und umgenutzt
       
       Die Pointe kommt schon mit dem ersten Schritt in die Ausstellung. Denn
       „Nichts Neues. Besser Bauen mit Bestand“ ist nicht nur Plädoyer für eine
       Alternative zum Abriss, sondern wird auch an einem Ort präsentiert, der in
       drei Jahren aller Voraussicht nach Geschichte sein wird. Das ehemalige
       Telekom-Areal im Frankfurter Ostend, 1951–1954 vom Versandhaus Neckermann
       errichtet, soll einem Neubau weichen.
       
       Dann wird auch das ausrichtende Architekturmuseum aus seinem
       Interimsquartier wieder ausgezogen sein. Zusammen mit einer Vielzahl an
       anderen Mietern von Kreativen und Handwerkern bis zu App-Entwicklerinnen,
       die zeigen, welch mannigfaltige Qualitäten das Gebäude eigentlich noch
       bietet.
       
       Abriss ist ein drängendes Problem. Gerade an diesem Montag rief eine breite
       Koalition aus Architektur und Forschung in einem offenen Brief die
       Bundesbauministerin Klara Geywitz auf, Gebäudeabrisse temporär zu stoppen
       und eine nötige Neuregelung der derzeit gültigen Vorschriften vorzunehmen.
       40 Prozent aller weltweiten Treibhausgasemissionen sollen gemäß einer
       UN-Studie vom April 2022 auf den Bau- und Gebäudesektor fallen. Ein
       Vielfaches des gesamten globalen Flugverkehrs. Dieser Umstand wurde in den
       letzten Jahren medial jedenfalls deutlich weniger prominent aufgegriffen
       als die Frage, wie oft Menschen ihre Familien im Ausland per Flugzeug
       besuchen dürfen sollen.
       
       Bauen ist ein Haupttreiber von Emissionen, und zugleich machen
       Neuemissionen nur einen Teil des Problems aus. Hinzu kommen der gigantische
       Bedarf an Rohstoffen und anderen Ressourcen für Neubauten, die Versiegelung
       weiterer Flächen, die Entsorgung von Abfällen durch Gebäudeabriss. Oder die
       sogenannte graue Energie, eine indirekte, im Bestand gebündelte Energie,
       die unter anderem zu dessen Errichtung genutzt wurde und die in der
       Gesamtbewertung oft unter den Tisch fällt.
       
       Ein unterkomplexer Begriff von Nachhaltigkeit liegt teils auch Verordnungen
       und Förderrichtlinien zugrunde, die einen energieeffizienten Neubau besser
       bewerten als einen Bestandsbau, weil sie nur die Nutzungsphase betrachten.
       So treffen überholte Förderrichtlinien und Bauverordnungen auf massive
       ökonomische Zugzwänge und vielleicht manchmal schlicht Unvermögen, sich mit
       den Herausforderungen bestehender Gebäudestrukturen auseinanderzusetzen.
       
       ## Frauen renovieren abrissbedrohte Reihenhäuser in Baltimore
       
       Dieser Gemengelage setzt „Nichts Neues, Besser Bauen mit Bestand“ nun
       Projekte entgegen, die mit bestehender Bausubstanz kreativ arbeiten – und
       deren Beitrag zur Nachhaltigkeit dabei nur einer von mehreren
       bemerkenswerten Aspekten ist. Zwei Dutzend Beispiele aus aller Welt hat das
       kuratorische Team aus Jonas Malzahn, Katharina Böttger und Mathias Schnell
       für die Schau versammelt: Umbauten, Anbauten, Weiter- und Rückbauten,
       Reaktivierung, Neugestaltung.
       
       Vom Großprojekt wie der experimentell-genossenschaftlichen Umgestaltung des
       chinesischen Bergdorfs Shangtian zu einem touristischen Anziehungspunkt,
       von dessen Einnahmen alle profitieren, bis zur kleinen Architektur – einem
       Kinder- und Jugendtreff in Wiesbaden, geschaffen aus einem alten Stellwerk,
       gebaut mit Althölzern aus der Region. Alle Vorhaben konnten ohne
       gigantisches Budget realisiert werden, das ebenso vermerkt steht wie genaue
       Kennzahlen zur Grundstücks- und Geschossfläche.
       
       So staunt man über ein Beispiel aus dem US-amerikanischen Baltimore, wo die
       Initiative „Black Women Build“ Schwarze Frauen in verschiedenen
       handwerklichen Disziplinen ausbildet, um leerstehende, vom Abriss bedrohte
       Reihenhäuser renovieren zu lassen. Die nach Denkmalschutzrichtlinien, für
       niedrige Wohn- und Energiekosten sanierten Häuser können anschließend von
       den Frauen selbst erworben werden – Kostenpunkt für das gesamte Projekt mit
       zehn Wohnhäusern: gerade mal gut 1,2 Millionen Euro.
       
       Ebenso pragmatisch gedacht und klug gemacht erscheinen die zahlreichen Auf-
       und Anbauten, mit denen fast oder ganz ohne zusätzlichen Flächenbedarf mehr
       Wohnraum und Lebensqualität in die Städte kommt. So in der französischen
       Großwohnsiedlung Cité du Grand Parc. Deren Bewohnerinnen und Bewohner
       konnten in ihrem Zuhause bleiben, [1][während ein Renovierungsprogramm
       durch Wintergärten und Balkone mehr Licht], Luft und Platz in die Wohnungen
       brachte.
       
       Aus Berlin wird das ehemalige Gewerbeareal und Baudenkmal ExRotaprint
       angeführt, in dem sich heute nach umfassender Sanierung mit punktuellen
       Weiterbauten unterschiedlich genutzte Mieteinheiten für Ateliers, Büros,
       Werkstätten und Produktion befinden. Das Haus der Statistik am
       Alexanderplatz ist zwar noch lange nicht fertig saniert und umgestaltet,
       taucht aber in der Ausstellung als Beispiel für einen offenen, die
       Stadtgesellschaft einbeziehenden Planungsprozess auf, das der aktuellen
       Marktlogik deutlich entgegensteht.
       
       ## Eine Sehnsucht nach „Heilung“?
       
       Bauen im Bestand erfordert meist deutlich mehr Einfallsreichtum von allen
       Beteiligten. Das macht die Resultate aber auch ästhetisch interessant. Wie
       die Sala Beckett in Barcelona, um ein besonders prächtiges Beispiel zu
       nennen: 1926 nach Plänen von Josep Masdeu errichtet, wird das Bauwerk heute
       wieder als Theater- und Schauspielschule genutzt. Die originalen
       Gestaltungselemente hat das spanische Büro Flores & Prats
       Arquitecteszunächst eingelagert und dann punktuell in die neue
       Innengestaltung integriert. Die Fassade mit ihrem hohen
       Wiedererkennungswert blieb erhalten.
       
       Lässt sich nicht, dieser Gedanke kommt bei all den Beispielen der
       Ausstellung auf, auch die in der Kunstwelt anhaltende Sehnsucht nach
       „Heilung“ – sosehr Skepsis gegenüber diesem Begriff angebracht ist –, nach
       Reparatur, Flicken, der Arbeit mit Vorhandenem als Äquivalent zu dem
       Prinzip des Bauens mit Bestand verstehen?
       
       Dass ein Abriss meist unkomplizierter ist, daraus macht die Ausstellung
       kein Geheimnis, wie sie überhaupt die Herausforderungen und Ambivalenzen
       des Themas abbildet.
       
       Stadtpolitik, lokale Initiativen, eingebundene Anwohnerinnen und Anwohner,
       engagierte Architekturbüros können Akteure sein, die zum Gelingen
       beitragen. Bestandsaufnahmen aktueller Architekturen in Frankfurt verankern
       die Schau im Regionalen, Videostationen mit Expertinnen-Interviews laden
       zum vertieften Einstieg generell ein. „Die Aussichten sind grandios!“,
       findet da Elisabeth Endres, Professorin für Bauklimatik und Energie der
       Architektur an der TU Braunschweig, allen Widrigkeiten zum Trotz.
       Schließlich hätten wir unheimlich viele Baubestände. Sie rät, sich nicht zu
       sehr von den Fördermittelträgern treiben zu lassen und nicht allein auf die
       Energieeffizienz, sondern auch auf den [2][Bestand als Ressource zu
       blicken].
       
       Insofern ist der Ausstellungstitel bewusst ein bisschen tief gestapelt –
       denn Neues gibt es hier, oft im Gegensatz zu Myriaden an lustlos
       gestalteten Investitionsbauprojekten, an allen Ecken und Enden zu
       entdecken.
       
       22 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina J. Cichosch
       
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