# taz.de -- Auswirkungen der Coronapandemie: Literatur und Systemrelevanz
       
       > Wie hart trifft die Pandemie die Kulturschaffenden? Einige von ihnen
       > sprechen darüber am Donnerstag im Berliner Brecht-Haus. Vier Protokolle
       > vorab.
       
 (IMG) Bild: Die Pandemie ist auch für die Kulturschaffenden ein großer Balanceakt
       
       Corona hat das Unterste zuoberst gekehrt und umgekehrt. Was bis dato nicht
       allzu hoch in der gesellschaftlichen Anerkennung stand, etwa die Arbeit von
       Pflegern und Supermarktkassiererinnen, erwies sich auf einmal als
       „systemrelevant“. Ohne sie wäre die Gesellschaft kollabiert. Der Begriff
       der „Systemrelevanz“, der zuvor auf bestimmte Banken oder andere
       Großkonzerne bezogen war, bekam eine neue Konnotation. Welches „System“ ist
       eigentlich gemeint? Und was ist – angesichts des Ausnahmezustands, in dem
       die ganze Welt sich befand und letztlich immer noch befindet – überhaupt
       Relevanz und wer befindet darüber? 
       
       Gerade Kulturschaffende fanden sich in einer prekären Lage wieder. Auf
       essenzielle Weise drängte sich die Frage auf, welche Bedeutung Literatur
       und Kunst in unserer Gemeinschaft eigentlich besitzen. Zwei Autorinnen, ein
       Literaturwissenschaftler und eine Soziologin diskutieren im Berliner
       Brecht-Haus darüber: Wie „systemrelevant“ ist Literatur? Hier geben sie
       Statements dazu ab. 
       
       ## Arme alte Autorinnen
       
       Zu den unumstrittenen Verlierer:innen der Coronakrise gehören (neben
       Prostituierten) Kulturschaffende. Schon zuvor lebten viele in einem
       Wohlstand auf Widerruf, krebsten mitunter am Rande des Existenzminimums.
       Prekarisierung auf hohem Niveau lautet das Stichwort. Das gilt insbesondere
       für die Soloselbstständigen unter ihnen, da sie kaum Rücklagen für
       Verdienstausfälle oder die Altersvorsorge bilden können.
       
       Eine in der Krise wenig beachtete Berufsgruppe von Kulturschaffenden sind
       die Literat:innen. Doch auch sie sind schwer getroffen, auch wenn der
       Buchmarkt laut Bundeswirtschaftsministerium im Zeitraum 2019–2021 „nur“
       einen Umsatzrückgang von etwa 13 Prozent verzeichnet. Stellt man jedoch das
       von der Künstlersozialkasse für das Jahr 2021 ermittelte durchschnittliche
       Bruttojahreseinkommen von etwa 20.000 Euro dagegen, springt nur noch eine
       geringfügige Erwerbstätigkeit heraus – zumal ohnehin fast jede:r zweite
       Literat:in nicht in einem normalarbeitsähnlichen
       Beschäftigungsverhältnis tätig ist. Vielmehr arbeiten laut
       Bundeswirtschaftsministerium etwa 40 Prozent selbstständig. Anders gesagt:
       Infolge der coronabedingten Einkommenseinbußen ist die Mehrheit der
       freischaffenden Wortkünstler:innen in die Kategorie der
       Miniselbstständigkeit und damit in die Prekarität gerutscht.
       
       Angesichts der Altersstruktur dieser Berufsgruppe trifft das vor allem
       ältere Kulturschaffende in der zweiten Lebenshälfte: Mehr als die Hälfte
       aller in der KSK versicherten Wortkünstler:innen sind älter als 50
       Jahre. Jedoch sind die Auswirkungen von Covid-19 auch im Literaturbereich
       nicht geschlechtsneutral. Denn während Männer dieser Altersgruppe im
       Literaturbetrieb ein Durchschnittseinkommen von gut 27.000 Euro haben,
       beträgt es bei Frauen weniger als 20.000 Euro. Neben rein ökonomischen
       Ungleichheiten manifestiert sich darin die allgemeine Arbeitszeitlücke
       zwischen den Geschlechtern. Teilzeit ist auch im Literaturbetrieb offenbar
       Frauensache, während umgekehrt im weiblich segregierten Buchmarkt nur ein
       Bruchteil der leitenden Managementpositionen von Frauen bekleidet wird.
       
       Da wundert es kaum, dass der [1][Gender Pay Gap] bei ihrer altersmäßig
       größten Gruppe, den 40- bis 50-jährigen Wortkünstler:innen, fast 30
       Prozent ausmacht. Offenbar sind die geschlechtsspezifischen ökonomischen
       Ungleichheiten im Literaturbetrieb noch stärker ausgeprägt als im
       Kulturbereich generell, der ja in dieser Hinsicht ohnehin rückständiger ist
       als die Gesamtwirtschaft. Corona hat vieles verändert – die Dominanz des
       männlich geprägten Künstlersubjektes aus dem 19. Jahrhundert aber nicht.
       
       Alexandra Manske , Soziologin in Hamburg 
       
       ## Die Welt von unten
       
       Wie jeden Tag im [2][Lockdown] saß ich auf der Couch und wartete, dass M.
       von der Arbeit nach Hause kam. Wieder hatte ich den ganzen Tag mit
       niemandem gesprochen, M. arbeitete auf der Coronastation. Während es so
       aussah, als tat ich nichts, arbeitete mein Körper daran, einen neuen
       Menschen zu produzieren. Anfang Januar 2021, sechs Wochen vor dem
       Geburtstermin, wurde M. als einer der ersten 10.000 in Sachsen geimpft, und
       ich war froh, dass wenigstens einer von uns als systemrelevant galt.
       
       Neben dem Baby produzierte ich auch einen neuen Roman, den die Leute in
       Lockdown X lesen können würden. In einem Erziehungsratgeber lese ich, man
       soll einmal versuchen, die Sicht des Babys einzunehmen und sich auf den
       Rücken auf den Boden legen. Also tue ich das und schau die Welt von unten
       an.
       
       Weder Schriftstellerin noch Mutter sein gilt in diesem System als relevant.
       Doch die Frage muss nicht lauten, wie systemrelevant ist Literatur,
       sondern: Welches System? Für das Rentensystem produzierte ich einen neuen
       Körper und ich tat, was der Staat von mir wollte: Ich als weiße gebildete
       Akademikerin sollte Babys produzieren. Der Staat nennt das
       Demografiepolitik und meint Bevölkerungskontrolle, in der die einen Kinder
       bekommen sollen und die anderen bloß nicht. Das System Kapitalismus braucht
       diese zukünftige Arbeitskraft, die ich ihm gab.
       
       Das System Mensch braucht, wenn es die Welt erblickt, das Stillen der
       Grundbedürfnisse: Nahrung, Schlaf, Wärme, Pflege, Nähe und Anregung. Nähe
       und Anregung fehlen uns in der Pandemie, wenn wir Glück haben, haben wir
       wenigstens eine Person, mit der wir unter der Decke eine Serie schauen oder
       uns gegenseitig ein Buch vorlesen.
       
       Ein anderes Wort für Nähe und Anregung ist Kultur. Der Kapitalismus denkt,
       ohne sie könne er gut funktionieren, und das kann er auch eine gewisse Zeit
       lang, nur wir können es nicht.
       
       Bettina Wilpert, Autorin, zuletzt erschien von ihr der Roman „Nichts, was
       uns passiert“
       
       ## Über Verteilungsfragen sprechen
       
       Wäre es nach meinen Eltern gegangen, wäre ich nicht freie Autorin und
       Dramaturgin geworden. Vielmehr wäre ich (möglichst unbefristet) angestellt,
       egal ob in einer Verwaltung oder im Krankenhaus. Denn die 1990er Jahre, in
       denen ich die Schule beendete und studierte, erlebten sie als Krisenzeit:
       Viele Menschen in ihrem Umfeld wurden arbeitslos, Betriebe und soziale wie
       kulturelle Infrastrukturen verschwanden, die Unsicherheit wirkte weit in
       das persönliche Leben hinein. Damals wünschten sie mir vor allem einen
       krisensicheren Beruf.
       
       Der [3][Kunst- und Kulturbereich] ist alles andere als krisenfest, das hat
       sich in der Pandemie erneut gezeigt. Doch auch in einem strukturell
       prekären Feld gibt es verschiedene Lebensrealitäten und damit ungleiche
       Möglichkeiten, Notlagen abzufedern. Kinder oder keine Kinder,
       Festanstellung oder Freiberuflichkeit, viele oder zu wenig Aufträge,
       Rücklagen oder Minus auf dem Konto, Garten oder beengte Wohnverhältnisse,
       krank oder gesund, antragsberechtigt bei Neustart Kultur oder nicht,
       antragserfahren oder nicht, in Netzwerke eingebunden oder nicht, Erbe im
       Rücken oder freier Fall. Es gab Hilfsprogramme, digitale Formate,
       Kurzarbeiter:innengeld und den Weg zum Arbeitsamt.
       
       Ich mag den Begriff „Systemrelevanz“ nicht, und immer, wenn ich
       aufgefordert werde, den Wert von Kunst und Kultur mit Hilfe dieses Begriffs
       zu bemessen, fallen mir sofort Menschen ein, die in ganz anderen Berufen
       arbeiten, sowie jene, die aus gewohnten Relevanzrastern eher herausfallen.
       Gibt es systemrelevante Arbeit, „nur“ relevante Arbeit und nicht relevante
       Arbeit? Wollen wir so sprechen? Ich möchte über Wechselwirkungen in
       Systemen sprechen, über Bedingungen und Strukturen, die gutes Arbeiten und
       Leben ermöglichen, über Verteilungsfragen. Über Bündnisse des Kunst- und
       Kulturbereichs mit dem Gesundheitsbereich und anderen aktuellen
       Arbeitskämpfen. Über die Wandelbarkeit von Systemen, über die Lust an
       Veränderung und das Bedürfnis nach Sicherheit.
       
       Peggy Mädler, Autorin, zuletzt erschien von ihr der Roman „Wohin wir gehen“
       
       ## Eigentlich nicht zum System gehören
       
       Wir Teilnehmer:innen am mitunter sehr ernsten Spiel „Literatur“
       wünschen uns sicher, dass Literatur (wie alle Kunst und Kultur überhaupt)
       systemrelevant sei. Auch wenn wir vor der raschen Karriere des Begriffs nie
       darüber reflektiert haben, in welcher Weise und für welches System sie in
       welcher Funktion relevant sein könnte. Und wir alle fürchten wohl
       insgeheim, dass es mit dieser Systemrelevanz im starken Sinne nicht sehr
       weit her sein könnte, desto lauter behaupten wir natürlich: Literatur ist
       systemrelevant!
       
       Aber welche Literatur ist eigentlich gemeint, wenn ihre [4][Relevanz]
       beschworen wird? Vermutlich eher nicht eine massenhaft produzierte und
       rezipierte Schemaliteratur, die alles bestätigt, was an dominanten
       Einstellungen und Vorurteilen über die Welt kursiert, die die vorgängigen
       Geschlechterrollen reproduziert, reichlich traditionelle Werturteile
       transportiert und ästhetische Verfahren nur in Anführungszeichen nutzt.
       Populärkultur jedoch ist das, was alle angeht, und so werden ihre
       Produzent:innen zwar niemals auf der Liste systemrelevanter Berufe
       landen, wenn diese wieder auf uns kommen sollte, ihre auf Affirmation der
       bestehenden Verhältnisse abzielende Wirkungsabsicht wird sie aber erreichen
       – und insofern „systemrelevant“ sein.
       
       Diejenigen Werke allerdings, um die es uns wohl zu tun ist, wenn wir nach
       der richtigen Literatur im falschen Leben fragen, nimmt ja eine häretische
       Stellung zum ästhetischen wie ethischen Status quo ein und will
       entsprechend eigentlich nicht zum System gehören, sondern will es
       irritieren, subvertieren und dergestalt letztlich transformieren. Klar
       identifizieren lässt sich der Einfluss solcher Strategien auf das „Wesen“
       einer Gesellschaft nicht, aber wir können doch, um nicht allzu hoffnungslos
       zu klingen, davon ausgehen, dass das, was erst für die happy few verfasst
       ist, in the long distance zur breiten Sinn- und Wertebildung beiträgt.
       
       Christoph Jürgensen, Literaturwissenschaftler in Bamberg
       
       18 Nov 2021
       
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