# taz.de -- Brandanschlag in Lübeck 1996: Hoyerswerda, Solingen, Lübeck!
       
       > Am 18. Januar 1996 starben zehn Menschen bei einem Anschlag auf eine
       > Flüchtlingsunterkunft in Lübeck. Bis heute ist er juristisch nicht
       > aufgeklärt.
       
 (IMG) Bild: Am Tag nach dem Anschlag stehen Überlebende vor der Ruine
       
       Ein Ort, zwei Versuche, das Geschehen präsent zu halten: Die Straßenecke
       mit einem Gedenkstein und einer Gedenkplatte an der Ecke Hafenstraße
       52/Konstinstraße dürfte nicht nur im Winter und zu Coronazeiten trostlos
       wirken. Hier, am Rande der Lübecker Innenstadt im Hafenindustriegebiet,
       kommt einfach kaum jemand vorbei.
       
       Vor 25 Jahren, am 18. Januar 1996, starben in einer Flüchtlingsunterkunft
       an dieser Straßenecke zehn Menschen durch einen Brandanschlag. Die beiden
       Denkmäler stehen für die bis heute politisch nicht abgeschlossene
       Einordnung wie auch für das Fehlen strafrechtlicher Aufarbeitung des
       Geschehens. Auf dem 2000 erreichten Gedenkstein wird an den Brandanschlag
       zwar erinnert, aber erst die 2015 zusätzlich gelegte Gedenkplatte,
       angestoßen vom Lübecker Flüchtlingsforum, ordnet den Anschlag auch als
       einen rassistischen ein. Vielleicht ist gerade diese Ambivalenz einer der
       Gründe, warum der Brandanschlag im bundesweiten öffentlichen Gedächtnis
       kaum verankert ist.
       
       [1][Hoyerswerda], [2][Rostock-Lichtenhagen], [3][Mölln] und [4][Solingen]
       sind die exemplarischen Orte, an die im Zusammenhang mit rassistischen
       Morden erinnert wird. Doch Lübeck, die schmucke Hansestadt an der Ostsee?
       
       Eine Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft Lübeck bestätigt, dass hier
       juristisch nicht viel aufgearbeitet ist: Für „eine rückblickende Bewertung
       der ersten Ermittlungen“ sei „kein Raum“ antwortet eine Pressesprecherin
       der taz. Sie bittet um Verständnis und betont, dass die Staatsanwaltschaft
       gegenüber Journalisten zu dem „komplexen Sachverhalt“ in der Vergangenheit
       umfassend Auskunft erteilt habe. In „der Sache“ seien „keine Ermittlungen
       anhängig“, da „keine neuen Tatsachen“ vorliegen würden.
       
       ## Ein Bewohner wird Hauptbeschuldigter
       
       Gabriele Heinecke überrascht die Einschätzung der Lübecker
       Staatsanwaltschaft nicht. Heinecke ist Anwältin in Hamburg. Sie vertrat den
       Hauptbeschuldigten, einen Geflüchteten, der selbst in dem Haus lebte.
       Heinecke bittet darum, seinen Namen nicht zu nennen. Zwar sei er
       freigesprochen, müsse aber weiter Nachteile hinnehmen.
       
       Die Staatsanwaltschaft ließ den damals 20-Jährigen kaum 24 Stunden nach dem
       Brand festnehmen. Verdacht: besonders schwere Brandstiftung. Eine
       Mutmaßung, die die Ermittler in zwei Gerichtsverfahren nicht belegen
       konnten. Der Mann wurde zweimal freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft
       wollte „damals nicht und will auch heute nicht in Richtung der Rechten
       ermitteln“, sagt Heinecke.
       
       In der Nacht des 18. Januar 1996 erreichte um 3.41 Uhr ein Notruf die
       Polizei. Mit dem Handy rief Françoise Makudila die 110 an. In drei Sprachen
       schrie die 29-jährige Frau. Noch während des Gesprächs erstickte ihr
       dreijähriger Sohn, auch ihre anderen Kinder und sie selbst überlebten den
       Anschlag nicht. Gegen 3.42 Uhr erfolgte ein zweiter Notruf eines Bewohners
       aus einer Telefonzelle. In der Nacht befanden sich 48 Personen, die aus
       Angola, Togo, Libanon und Zaire geflohen waren, in der Unterkunft. Keiner
       der Bewohner konnte sich über die Treppe retten. Der Anrufer war zuvor aus
       einem Fenster im ersten Stock gesprungen. Am Dachsims standen seine Brüder,
       einer wird später zum Hauptbeschuldigten.
       
       Die Brüder auf dem Dach retteten Aida Alias und ihre drei Kinder. Rauch und
       Feuer versperrten in dem dreistöckigen Haus der Diakonie das Treppenhaus
       und zwangen auch João Bunga auf den Dachsims. Bungas Frau Monique und seine
       Tochter Suzanna sprangen aus einem Dachfenster und starben. Um 3.47 Uhr
       erreichte der erste Löschzug das ehemalige Seemannsheim. Als Letzter stieg
       der Beschuldigte auf die Feuerwehrleiter. „Er hatte Angst, durch sein
       Gewicht die Leiter zu beschädigen und damit die Rettung der anderen zu
       gefährden“, sagt seine Anwältin und schiebt nach: Allein dieses Verhalten
       hätte Zweifel an dem Vorwurf aufkommen lassen müssen.
       
       ## Die Opfer
       
       In dieser Nacht sterben die drei Erwachsenen Monique Bunga, Sylvio Amoussou
       und Françoise Makudila und die sieben Kinder Suzanna Bunga, Rabia El Omari
       und Jean-Daniel, Christine, Christelle, Miya und Legrand Makudila. 38
       Menschen werden schwer verletzt.
       
       An einer Notsanitätsstelle berichtete der Beschuldigte einem Polizeibeamten
       gleich, was sein Vater gesagt hatte: „Wir wurden angegriffen, wir wurden in
       Brand gesetzt.“ Dem wurde keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Ein anderer
       angeblich von dem Beschuldigten gesagter Satz blieb bei den Ermittlern
       hingegen hängen – unumstößlich: „Wir waren’s“, soll er bei der
       Notversorgung gesagt haben.
       
       Knapp zehn Minuten vor dem ersten Notruf hatten jedoch Mitarbeiter eines
       anliegenden Nahrungsmittelunternehmens drei Männer an einem parkenden Wagen
       gesehen – rechte Skinheads. Die Polizei kannte zu diesem Zeitpunkt schon
       die Namen der jungen Männer, weil sie zuvor in eine routinemäßige
       Polizeikontrolle vor Ort geraten waren. Aus dem
       mecklenburgisch-vorpommerschen Grevesmühlen waren sie nach Lübeck gefahren,
       um ein Auto zu klauen. An einer Tankstelle hatten sie kurz vor der
       Kontrolle einen Liter Cola und fünf Liter Benzingemisch 1:50 gekauft.
       
       Am nächsten Morgen vernehmen Ermittler die drei. René B. beteuerte, nicht
       beteiligt gewesen und neutral gegenüber „Juden, N***, Ausländern oder auch
       Wessis“ zu sein. Beteiligt wollte auch Heiko P. nicht gewesen sein.
       Allerdings hatte er sich versteckt, als die Polizei kam. Rechtsextrem und
       gar Brandstifter sei er nicht, beteuerte ebenso Maik W., der sich auch mal
       „Klein Adolf“ nennen ließ, erzählt die Anwältin Gabriele Heinecke. Die
       Ermittler hätten alles getan, um den massiven Verdacht, in dem die drei
       standen, wegzuwischen, sagt sie. Nach der Festnahme stellten
       Gerichtsmediziner bei ihnen Brandlegespuren fest: versengte Haare,
       Augenbrauen und Wimpern. 2012 [5][schreibt Wolf-Dieter Vogel in der taz]:
       Einer der Männer hatte „offenbar vor seiner Festnahme einen Draht zu
       Staatsschützern des LKA“.
       
       ## Die Anklage bricht zusammen
       
       In den folgenden Wochen widerlegte die Verteidigung die angeblichen
       Tatbeweise gegen den hauptbeschuldigten Hausbewohner. So war der Brandherd
       nicht, wie die Staatsanwaltschaft dargelegt hatte, im ersten Stock, sondern
       im Erdgeschoss. Am 2. Juni 1996 zweifelte die Jugendkammer des Lübecker
       Landgerichts fast alle Beweise gegen den Beschuldigten an und entließ ihn
       aus der Untersuchungshaft.
       
       1997 brach die Anklage von dem Landgericht Lübeck endgültig zusammen. Das
       Gericht sprach ihn frei. Zwei Jahre später hielt auch das Landgericht Kiel
       die Beschuldigungen für unhaltbar. Gabriele Heinecke, die Anwältin des
       Beschuldigten, versuchte, vor dem Oberlandesgericht Schleswig mit einer
       Klage ein neues Verfahren zu erzwingen, um den Brandanschlag doch noch
       aufzuklären – sie scheiterte.
       
       In der Öffentlichkeit wurde damals schnell der Version von einem Anschlag
       aus dem Inneren des Hauses geglaubt. Der taz-Reporter Vogel erlebte, wie
       vor der Brandruine deutsche Passanten schimpften: „Und wer entschuldigt
       sich jetzt bei uns?“ Zu Unrecht seien Deutsche als Täter verdächtigt
       worden. Nun machte sich kollektive Erleichterung breit. Nach Jahren des
       rechten Terrors, nach Angriffen und Anschlägen seit Anfang der 90er, die
       heute auch als „[6][Baseballschlägerjahre]“ bezeichnet werden, sollte nicht
       schon wieder sein, was ist.
       
       Dass der Brand nicht der erste Anschlag in Lübeck war, wurde kaum erwähnt.
       Bereits 1994 hatten vier Rechte einen Brandanschlag auf die Synagoge
       verübt. Ein zweiter Anschlag folgte 1995. Am 13. Juni des Jahres wurde eine
       Briefbombe an den damaligen Bürgermeister Michael Bouteiller (SPD)
       geschickt, einer seiner Mitarbeiter wurde schwer verletzt. Hintergrund war
       wohl Bouteillers Auftreten gegen den Rassismus in der Stadt.
       
       ## Der Bürgermeister steht bei den Betroffenen
       
       Bouteiller zeigte in der Brandnacht vor dem Haus, wo er stand – bei den
       Betroffenen. Er erlebte, wie Menschen ihre Angehörigen sterben sahen, unter
       Tränen sprach er in die Fernsehkameras. Bouteiller sagte, was auch seine
       eigene Partei nicht hören wollte: „Wir müssen die Gemeinschaftsunterkünfte
       auflösen, das unmenschliche Asylgesetz ändern, zivilen Ungehorsam leisten,
       um die Menschen vor Abschiebung zu schützen.“ Medien und Politik feindeten
       ihn stark an. Die Lübecker Nachrichten schrieben, der Bürgermeister habe
       der Stadt mehr als jeder andere Politiker Schaden zugefügt. „Ein Sendbote
       des Betroffenheitskultes“, ätzte es aus der CDU.
       
       25 Jahre später: Die Initiative „Hafenstaße 96“ klagt in einen Aufruf an,
       „dass der Brand nicht offiziell als rassistischer Brandanschlag deklariert
       ist und eine Anerkennung als schwerwiegendster Brandanschlag in Deutschland
       aussteht“. Die Hansestadt Lübeck habe bis heute keine Erinnerungskultur für
       Opfer und Betroffene rechter Gewalt etabliert. „Mit einer Petition für
       einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss wollen wir den politischen
       Druck erhöhen“, sagt Britta Kloss von der Initiative. Zwei der
       Erstunterzeichnenden: Michael Bouteiller und Gabriele Heinecke. Für den
       Abend des 18. Januar 2021 ist ein Gedenken vor Ort geplant.
       
       18 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Speit
       
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