# taz.de -- Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit: Die Lager waren nicht zu übersehen
       
       > In Schöneweide wurde 2006 das bundesweit erste Dokumentationszentrum zur
       > NS-Zwangsarbeit eröffnet. Ein Rundgang durch die Open-Air-Ausstellung.
       
 (IMG) Bild: Nach dem Krieg wurden die Baracken der Zwangsarbeiterlager für andere Zwecke genutzt
       
       „Wer sich nicht mehr wäscht, stirbt zuerst.“ Es sind Sätze wie dieser, die
       hängenbleiben nach einer Führung durch das [1][Dokumentationszentrum zur
       NS-Zwangsarbeit in Schöneweide]. Das Zitat stammt von einer namenlos
       gebliebenen Zwangsarbeiterin, gerichtet an ihre Mutter. Die hatte keine
       Kraft mehr, morgens um 4 Uhr aufzustehen, um sich vor der Arbeit noch an
       einer der wenigen Waschanlagen waschen zu können. Ihre Tochter hat sie
       jeden Morgen dorthin geschleppt. Beide Frauen haben überlebt.
       
       Die Historikerin Daniela Geppert führt durch die Gedenkstätte und
       erläutert die Situation: Die ZwangsarbeiterInnen lebten in großen Räumen
       Bett an Bett. Sie verrichteten schmutzige Arbeiten. Hygiene war Luxus.
       „Wanzenjagd war eine wichtige Beschäftigung.“ Aber: Wer in der Fabrik oder
       auf dem Arbeitsweg als „polnisches Schwein“ beschimpft wurde, für den war
       Waschen oft trotz miserabler Sanitärräume ein Stück Selbstwert. Solange man
       dazu noch die Kraft hatte.
       
       Bei Zwangsarbeiterinnen blieb wegen des Hungers und der schweren Arbeit
       fast immer die Menstruation aus. Die Ukrainerin Raissa Stepiko, deren
       Erinnerungen von HistorikerInnen in Schöneweide aufbewahrt sind, nannte es
       ein Glück, dass sie sich nicht auch noch mit der monatlichen Blutung
       herumschlagen musste. Allerdings bekam sie erst zwei Jahre nach Kriegsende
       wieder eine Regelblutung und konnte sich erst dann ihren Kinderwunsch
       erfüllen.
       
       Knapp 500.000 ZwangsarbeiterInnen aus 20 Nationen lebten in den
       Kriegsjahren in Berlin. Die TschechInnen, FranzösInnen und LettInnen wurden
       als Zivilkräfte verschleppt oder als Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit
       verpflichtet. Die Anwesenheit so vieler Nicht-Deutscher im Deutschen Reich
       widersprach eigentlich der NS-Rassenideologie, wurde aber der Bevölkerung
       als vorübergehend und kriegsnotwendig erklärt. 17 Millionen deutscher
       Männer waren schließlich in der Wehrmacht, weitere in der Waffen-SS. Ihre
       Arbeitskraft in der Rüstungsindustrie, der Landwirtschaft oder im
       Energiesektor musste ersetzt werden. Dazu wurden ausländische
       ZwangsarbeiterInnen nach Deutschland verschleppt.
       
       Die Machthaber im Dritten Reich machten sich nicht die Mühe, die
       Zwangsarbeitslager vor der Bevölkerung zu verstecken. In das offene
       Barackenlager in Schöneweide konnten die BewohnerInnen der umliegenden
       Häuser von ihren Fenstern aus hineinschauen.
       
       Anders als man meinen könnte, waren Zwangsarbeitslager auch nicht umzäunt.
       Die BewohnerInnen mussten das Lager selbständig zur Arbeit verlassen. Ihre
       tägliche Arbeitszeit war länger als die ihrer deutschen Kolleginnen. Hatten
       die ZwangsarbeiterInnen danach noch Kraft, konnten sie in Berlin spazieren
       oder von ihrem geringen Verdienst einkaufen gehen. Sie waren dabei im
       Straßenbild als ZwangsarbeiterInnen erkennbar: An ihren Kragen waren
       Aufnäher befestigt. Darauf stand beispielsweise ein „P“ für „Polen“ oder
       ein „Ost“ für „Ostarbeiter“, das bezeichnete Menschen aus der Sowjetunion.
       
       Die Grenzen der ihnen zugewiesenen Kommunen durften sie nicht verlassen.
       Wurden sie dabei erwischt, wie beispielsweise die Polin Maria Kawecka, die
       ihren Bruder außerhalb Berlins besuchen wollte, kamen sie in ein
       Arbeitserziehungslager. Die Bedingungen dort waren mit Konzentrationslagern
       vergleichbar. Der Unterschied: Der Aufenthalt war zeitlich befristet. Als
       Maria Kaweczka nach drei Monaten nach Schöneweide zurückkehrte, wog sie nur
       noch 28 Kilo. Auch ihre Erinnerungen sind durch Historiker dokumentiert.
       
       Riesige Barackenlager wie in Schöneweide standen auch in Adlershof,
       Lichterfelde Süd, Tempelhof, Kaulsdorf und Rudow. Andernorts waren es
       Einzelbaracken, winzige Kellerbehausungen oder umfunktionierte Läden.
       Insgesamt zählte die Reichshauptstadt 3.000 Zwangsarbeitslager.
       
       Deren Bauten wurden nach Kriegsende nicht einfach abgerissen, sondern
       angesichts der Wohnungsnot umfunktioniert. Handwerksbetriebe zogen dort
       ein, Kindergärten, Betriebsschulen oder – wie in Schöneweide – ein
       Forschungsinstitut für Impfstoffe und eine Ambulanz für
       Röntgenuntersuchungen. Über die Jahrzehnte verschwand die Erinnerung daran,
       wozu die Baracken einmal gedient hatten. Das Thema geriet in Vergessenheit.
       Wer nach Kriegsende geboren wurde, nahm sie als selbstverständlichen Teil
       seines Wohnumfeldes wahr, als Ort, wohin man zum Friseur geht oder einen
       Computerkurs belegt hat, aber nicht als das, wofür sie einmal gebaut
       wurden: als Orte der Zwangsarbeit. Erst 2006 wurde in Schöneweide die
       bundesweit erste Gedenkstätte zur NS-Zwangsarbeit eröffnet.
       
       Daniela Geppert sieht die „Nachnutzung“ der Baracken aber nicht nur
       kritisch, sondern auch als Chance: Über Jahrzehnte hätten die Nachnutzungen
       Architektur und sogar Ausstattungsgegenstände teilweise erhalten. Auch
       heute sind in Schöneweide lediglich sieben Baracken Gedenkort. In den
       anderen haben beispielsweise ein Autohaus, ein Grabsteinhandel und eine
       konfessionelle Kita ihren Sitz. Dass die Baracken massiv gebaut wurden und
       nicht nur aus Holz waren, geht auf einen Goebbels-Erlass zurück: In
       Wohngebieten war in Kriegszeiten aus Brandschutzgründen die Steinbauweise
       vorgeschrieben.
       
       Daniela Geppert hat sich nach der Wende im Rahmen der Berliner
       Geschichtswerkstatt dafür stark gemacht, dass die Baracken, die durch die
       Abwicklung des Institutes für Impfstoffforschung frei wurden, unter
       Denkmalschutz gestellt wurden. Das geschah 1995. Noch im selben Jahr
       eröffnete eine Open-Air-Ausstellung. Die Geschichtswerkstatt hat Interviews
       mit ZeitzeugInnen geführt, mit ZwangsarbeiterInnen wie mit den
       AnwohnerInnen, die noch Erinnerungen hatten.
       
       „Das waren nicht viele“, erinnert sich Geppert. „Man muss berücksichtigen,
       dass im Krieg viele Berliner Kinder verschickt wurden. Und wer damals schon
       erwachsen war, lebte oft nicht mehr.“
       
       Im Jahr 2006 öffnete die Gedenkstätte dann erst einmal nur mit zwei
       Baracken. „Immer, wenn wir Fördermittel auftreiben konnten, haben wir
       weitere Baracken in Ausstellungsräume verwandelt“, sagt die Historikerin.
       Heute gibt es beispielsweise Sonderausstellungen zu italienischen
       Kriegsgefangenen und zu sogenannten Rotspaniern, also zu Spaniern, die im
       Bürgerkrieg unterlegen waren, nach Frankreich flohen und nach dem Einzug
       der Wehrmacht 1940 inhaftiert oder verschleppt wurden.
       
       18 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.ns-zwangsarbeit.de/home/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marina Mai
       
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