# taz.de -- Drohendes Aus für UNRWA-Hilfswerk: Vereinte Hilfeleistung
       
       > Dem Palästinenser-Flüchtlingswerk UNRWA droht das Ende der
       > Hilfszahlungen. Für die Menschen in den Flüchtlingscamps ist das eine
       > humanitäre Katastrophe.
       
       AMMAN, BETHLEHEM UND JERUSALEM taz | Es sieht nicht so aus, aber all das
       gehört zu Jerusalem“, sagt Ramsi und deutet von seinem Computerladen die
       Häuserschlucht in Shu’afat hinauf. Oben, am Ende der Straße, ist die acht
       Meter hohe israelische Sperrmauer zu sehen, die das palästinensische
       Flüchtlingslager vom Rest der Stadt trennt. „Drüben kümmert sich die Stadt
       um alles, auf unserer Seite vor allem die UNRWA“, sagt der 46-Jährige mit
       dem graumelierten Vollbart. Das Palästinenser-Hilfswerk der Vereinten
       Nationen betreibe hier die Grundschule und das Gesundheitszentrum, „in dem
       meine Mutter ihre Blutdruckmedikamente bekommt“, sagt Ramsi. „Die UNO
       organisiert hier sogar die Müllabfuhr.“
       
       Die [1][Arbeit der UNRWA ist akut bedroht], seit die israelische Regierung
       Ende Januar mehreren Hilfswerk-Mitarbeitern in Gaza eine Beteiligung an den
       Massakern der Hamas am 7. Oktober vorgeworfen hat. 18 Geberländer haben
       ihre Zahlungen eingestellt, darunter die USA, Deutschland und die EU. Rund
       450 Millionen Dollar wurden eingefroren.
       
       Hupend schieben sich die Autos an Ramsis Laden vorbei die Hauptstraße des
       Lagers hinunter. Es wurde 1965 ursprünglich für rund 500 Familien
       errichtet. Heute sind auf einer Fläche von weniger als einem
       Quadratkilometer mehr als 16.000 Menschen bei UNRWA registriert. Die
       tatsächliche Zahl der Bewohner könnte mehr als doppelt so hoch liegen.
       Begrenzt von israelischen Siedlungen im Norden und Süden gleicht das Camp
       einem Dschungel von Hochhäusern mit 15 Stockwerken und mehr, oft ohne
       Planung und Kontrolle errichtet. Viele der Gassen sind nur wenige Meter
       breit.
       
       Die Palästinensische Autonomiebehörde kommt nicht hierher, weil Shu’afat
       offiziell auf dem 1967 von Israel besetzten Gebiet von Ostjerusalem liegt.
       Die Stadtverwaltung stellt lediglich einen Bruchteil der städtischen
       Dienstleistungen für die Exklave, weil sie außerhalb der israelischen
       Sperranlage liegt und nur durch einen schwer befestigten Checkpoint zu
       erreichen ist. „Wenn sie den UN-Leuten jetzt die Arbeit hier verbieten
       wollen, dann müssen sie einen Ersatz schaffen“, sagt der Verkäufer Ramsi.
       
       Bisher ist unklar, wie sehr die UN-Organisation tatsächlich mit der Hamas
       verstrickt ist. Israel wirft mittlerweile mehr als 30 UNRWA-Angestellten
       vor, an dem Überfall am 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein. Unter anderem
       sollen zwei bei der Entführung von Israelis geholfen haben, zwei weitere
       hätten sich an Orten befunden, an denen Massaker verübt wurden. Zudem
       sollen rund 10 Prozent der etwa 13.000 Beschäftigten in Gaza „Verbindungen“
       zur Hamas gehabt haben, davon mehr als 200 zu bewaffneten Gruppen. UNRWA
       hatte die Verträge mit zehn der beschuldigten Mitarbeiter kurz nach
       Veröffentlichung der Vorwürfe beendet. Die UN haben eine Untersuchung
       eingeleitet. Das Hilfswerk weist den Vorwurf der Terrorunterstützung
       zurück.
       
       Einem Bericht des Wall Street Journal zufolge stuft ein
       US-Geheimdienstpapier die Beteiligung einiger Mitarbeiter an dem Überfall
       am 7. Oktober als glaubhaft ein. Die Zusammenarbeit einer größeren Zahl von
       Beschäftigten mit der Hamas sei hingegen nicht verifizierbar, auch weil
       Israel die zugrunde liegenden Informationen nicht geteilt habe. Das Papier
       weise laut einer mit dem Bericht vertrauten Quelle zudem darauf hin, dass
       es aufgrund einer Voreingenommenheit israelischer Sicherheitsbehörden
       Verzerrungen in der Darstellung der Ereignisse gebe.
       
       UNRWA-Generalsekretär Philippe Lazzarini spricht von einer Kampagne gegen
       seine Organisation. Das Hilfswerk, das über Gaza und das Westjordanland
       hinaus auch in Syrien, im Libanon und in Jordanien rund 6 Millionen
       palästinensische Flüchtlinge versorgt, könne bereits im April aus Geldnot
       gezwungen sein, die Arbeit einzustellen.
       
       Fünf Kilometer südlich von Shu’afat schaltet Boaz Bismuth von der
       [2][israelischen Regierungspartei Likud] in seinem Parlamentsbüro in der
       Knesset den Fernseher stumm. Auf dem Bildschirm rennen israelische Soldaten
       zwischen Ruinen im Gazastreifen von Deckung zu Deckung. „Dass Dutzende
       Hamas-Leute für die UNRWA arbeiten, sollte schon für eine Auflösung
       reichen“, sagt Bismuth. „Stattdessen haben unsere Soldaten unter dem
       UNRWA-Hauptquartier auch noch Tunnelsysteme gefunden.“
       
       UNRWA-Chef Lazzarini sagte in einem Interview mit der israelischen Zeitung
       Ha’arez vergangene Woche, seine Organisation habe von den Tunneln in 20
       Metern Tiefe nichts gewusst. Verdächtige Aktivitäten hat UNRWA in den
       vergangenen Jahren tatsächlich mehrfach an Israel gemeldet.
       
       Bismuth glaubt Lazzarini aber nicht: Sein Gesetzentwurf zum Verbot von
       UNRWA in Jerusalem hat eine erste vorläufige Lesung im Parlament passiert
       und liegt nun beim Komitee für Auswärtiges und Verteidigung.
       
       Der rechts-nationalistische Politiker war in der Vergangenheit israelischer
       Botschafter und Chefredakteur der auflagenstärksten Zeitung des Landes, der
       Likud-nahen Zeitung Israel Hayom. Er weiß, seine Botschaften zu verpacken:
       „Ich glaube an Frieden, aber wie soll das gehen, wenn ein palästinensisches
       Kind in einer UNRWA-Schule lernt, dass Terroristen Helden sind?“ Israel
       solle selbst die Aufgabenbereiche Bildung und Gesundheit in Orten wie
       Shu’afat übernehmen. Das würde aber auch eine Stärkung der israelischen
       Souveränität über den 1967 besetzten und 1980 annektierten Ostteil der
       Stadt bedeuten, der zugleich als die künftige Hauptstadt eines
       palästinensischen Staates gilt, wenn es denn im Zuge einer
       Nachkriegsordnung dazu kommen sollte.
       
       Das Hilfswerk steht bereits seit Jahren in der Kritik. Vor allem
       UNRWA-Schulen wurde wiederholt vorgeworfen, in Büchern und durch
       Lehrpersonal antiisraelische und antisemitische Inhalte zu verbreiten. Zu
       diesem Ergebnis kommt auch eine Untersuchung des Georg-Eckert-Instituts für
       Schulbuchforschung im Jahr 2021, wenngleich die Forscher betonten, dass die
       Bücher nicht unabhängig von der Realität der israelischen Besatzung
       betrachtet werden könnten. Allerdings ist das Hilfswerk ohnehin nicht dazu
       befugt, eigene Schulbücher zu verfassen. Es verwende „die Lehrpläne und
       -bücher der Gastländer und ermöglicht so, dass die Abschlüsse dort
       anerkannt werden“, schreibt die Nahostexpertin Bente Scheller von der
       Heinrich-Böll-Stiftung.
       
       Würde UNRWA abgeschafft, würde das aber auch einen Verlust internationaler
       Kontrolle bedeuteten. Ob das zu einer positiveren Einstellung gegenüber
       Israel in Schulen beitragen würde, ist zumindest fraglich. Ein Beispiel aus
       Jordanien lässt eher das Gegenteil annehmen: Dort soll der 7. Oktober bald
       Einzug in die staatlichen Schulbücher der 10. Klasse finden. Zu lesen ist
       dort, Israel „unterdrücke“ das palästinensische Volk, was die
       „palästinensische Widerstandsbewegung im Gazastreifen“ veranlasst habe, „am
       7. Oktober die israelischen Siedlungen um den Streifen zu stürmen und
       israelische Siedler sowie Soldaten gefangen zu nehmen“. Das wiederum habe
       „eine gewalttätige Antwort vom israelischen Feind“ ausgelöst.
       
       Andere Botschaften spricht Bismuth offen aus. Etwa, dass in seinen Augen
       mit UNRWA auch das Problem der rund 6 Millionen registrierten
       palästinensischen Flüchtlinge verschwinde: „Sie geben den Status an ihre
       Kinder weiter. UNRWA will das Flüchtlingsproblem erhalten und damit den
       Kampf um die palästinensische Unabhängigkeit“, sagt er.
       
       Tatsächlich wird auch bei Geflüchteten aus anderen Staaten der
       Flüchtlingsstatus innerhalb von Familien weitergegeben, bis eine dauerhafte
       Lösung gefunden ist. Allerdings: Palästinenser*innen können den
       UNRWA-Flüchtlingsstatus in dessen Mandatsgebiet auch dann weiter behalten,
       wenn sie eine andere Staatsbürgerschaft erhalten haben.
       
       Joost Hiltermann, Nahost-Programmdirektor beim Thinktank International
       Crisis Group, bestätigt: Die Weitergabe des Flüchtlingsstatus sei vielmehr
       durch internationales Recht sowie die Resolutionen der
       UN-Generalversammlung bestimmt, die allen 1948 vertriebenen Palästinensern
       und deren Nachkommen den Flüchtlingsstatus zusichern. Mit anderen Worten:
       Auch ohne die UNWRA geben staatenlose Palästinenser*innen ihren
       Flüchtlingsstatus an die nachfolgende Generation weiter.
       
       „Das ist eine bewährte Strategie der politischen Rechten in Israel“, sagt
       Daniel Seidemann, der für die Nichtregierungsorganisation Terrestrial
       Jerusalem den israelischen Siedlungsbau beobachtet. „Sie nennen das
       Westjordanland nach den biblischen Namen Judäa und Samaria und behaupten
       dann, dass es nicht besetzt sein kann. Sie löschen die Vertreibung der
       Palästinenser*innen 1948 aus den Schulbüchern und sagen dann, dass
       sie so nie passiert sei.“ Ähnlich sieht Seidemann auch die These, dass ein
       Verbot der UNRWA die palästinensische Flüchtlingsfrage lösen würde.
       
       Der Anwalt, der in der Vergangenheit mehrere US-Regierungen seit Präsident
       Bill Clinton zu Friedensgesprächen beraten hat, schätzt, dass ein Verbot
       von UNRWA in Jerusalem eine gefährliche Versorgungslücke reißen würde.
       „Israelische Gerichte haben mehrfach bestätigt, dass die Stadt bereits
       innerhalb des arabischen Ostjerusalems nicht genügend Schulen baut.“
       Insgesamt sind rund 200.000 Palästinenser in der Stadt als Flüchtlinge mit
       Anspruch auf UNRWA-Leistungen registriert, die Organisation betreibt nach
       eigenen Angaben zehn Schulen und vier Gesundheitszentren. In Exklaven wie
       Shu’afat und Kufr Akab hat die Stadt zwar in den vergangenen Jahren mehr
       investiert, dennoch würden dort ohne UNRWA noch immer kaum öffentlichen
       Dienstleistungen existieren, sagt Seidemann. „Und niemand, auch nicht
       Israel, wäre in der Lage, sie in absehbarer Zeit zu ersetzen.“
       
       Das hält den Jerusalemer Vizebürgermeister Arye King nicht davon ab,
       regelmäßig zu Protesten vor UNRWA-Einrichtungen aufzurufen. Anfang Februar
       versammelten sich vor dem Hauptquartier des Hilfswerks rund 50 Teilnehmer
       unter dem Aufruf „Den Feind aus der Stadt entfernen“. Auf ihren Schildern
       war zu lesen: „UNRWA = Hamas“. Von der Bühne rief King an die Adresse des
       israelischen Ministers für Nationale Sicherheit: „Ben Gvir mein Freund,
       komm und mach die UNRWA zu.“
       
       Auch wenn die Teilnehmerzahlen bei den Anti-UNRWA-Demos seither nicht
       maßgeblich zugenommen haben, die Forderungen genießen in weiten Teilen der
       jüdisch-israelischen Bevölkerung Unterstützung. Ministerpräsident Benjamin
       Netanjahu präsentierte vergangene Woche seinen Plan für den Gazastreifen
       nach dem Krieg. Einer von fünf Punkten: die Auflösung der UNRWA.
       
       Lange lehnte das UNRWA-Büro in Jerusalem Presseanfragen ab. Erst gut drei
       Wochen nach Veröffentlichung der Vorwürfe lud Westjordanland-Direktor Adam
       Bouloukos vergangenen Dienstag zu einem Besuch im Aida-Flüchtlingslager in
       Bethlehem ein. Vom Dach des UNRWA-Gesundheitszentrums fällt der Blick auf
       die mit Graffiti übersäte Sperranlage zu Israel. „We can’t live“, ist dort
       zu lesen. In den Stockwerken darunter sitzen Dutzende Eltern mit Kindern
       und warten auf Arzttermine. „Wir sind in einer verzweifelten Lage“, sagt
       Bouloukos. Das Hilfswerk habe bereits zuvor regelmäßig kurz vor dem
       Zahlungsausfall gestanden. Nun sei rund die Hälfte der Gelder weggebrochen.
       
       Anfeindungen gegen seine Mitarbeiter hätten massiv zugenommen. Zwei
       Kollegen seien an einem Checkpoint von Soldaten aus ihren Autos gezogen,
       gefesselt und geschlagen worden. „Einer hat ihnen vorgeworfen, für die
       Hamas zu arbeiten“, sagt Bouloukos. Auf die Vorwürfe will er unter Verweis
       auf die laufenden Untersuchungen der UNO nicht eingehen. „Aber ich habe in
       29 Jahren bei der UNO keinen Einsatzort erlebt, an dem mehr auf Neutralität
       geachtet wird als hier.“
       
       Andere UN-Organe könnten die Arbeit nicht einfach übernehmen. „Die WHO
       unterhält keine Gesundheitszentren, die UNICEF betreibt keine Schulen“,
       sagt Bouloukos. Drastisch seien die Folgen zudem für die humanitäre Hilfe
       im Gazastreifen. Bereits jetzt würden wegen der großen Not viele Konvois
       kurz nach Grenzübertritt geplündert. Das wenige, was noch an Verteilung
       stattfinde, laufe größtenteils über UNRWA, sagt Bouloukos. Und schließlich
       würden die Kürzungen auch die Arbeit in Syrien oder im Libanon gefährden.
       „Wenn ich den Krankenpflegern in Bethlehem ihr Gehalt nicht mehr zahlen
       kann, dann bedeutet das, dass mein Gegenüber in Jordanien dasselbe Problem
       hat.“
       
       Auf der anderen Seite des Jordans, etwa 70 Kilometer von Bethlehem
       entfernt, liegt in der jordanischen Hauptstadt Amman das Wihdat Camp. Es
       ist Mittagszeit und die Kinder strömen aus den Schulen in die engen Gassen
       des Flüchtlingslagers. Sie kichern und lachen, laufen um die Wette. Einige
       Jungs spielen noch Fußball auf dem eingezäunten Schulhof zwischen den
       abgekratzten, vollgeschmierten Gebäuden, die in den vergangenen Jahrzehnten
       immer weiter in den Himmel gewachsen sind.
       
       Das Wihdat Camp ist das zweitärmste palästinensische Flüchtlingslager
       Jordaniens. Hier leben mindestens 61.800 palästinensische Geflüchtete auf
       weniger als einem halben Quadratkilometer Fläche, von ihnen mehr als ein
       Drittel unter der Armutsgrenze. Knapp 25 Prozent der Frauen und 15 Prozent
       der Männer im Camp sind nach Angaben des Hilfswerks arbeitslos.
       
       Sieben Schulen werden hier von UNRWA betrieben, genauso wie das örtliche
       Gesundheitszentrum: Im hellblauen Gebäude hängt ein Geruch von
       Desinfektionsmittel in der Luft. Eine Frau in schwarzem Kopftuch und Mantel
       kommt auf die Journalisten zu, in einer Hand ihren Ausweis, in der anderen
       mehrere Rezepte. „Ich komme aus Gaza und bin hier gestrandet“, erzählt sie,
       sichtlich aufgeregt. „Seit sieben Monaten, ich wollte hier nur meine kranke
       Mutter besuchen. Ich selbst bin chronisch krank, habe aber kein Geld für
       Medikamente. Mein Mann und meine Kinder sind in einem Zelt in Rafah. Allah
       sei dank konnte ich hier Hilfe bekommen“, sagt sie.
       
       Von den zehn UNRWA-Flüchtlingscamps in Jordanien hat Wihdat die höchste
       Anzahl an chronisch erkrankten Menschen. Die meisten Geflüchteten hier, so
       wie auch die meisten palästinensischen Geflüchteten in Jordanien, besitzen
       die jordanische Staatsbürgerschaft. Das hat historische Gründe: Das
       Westjordanland wurde 1950 von Jordanien annektiert und die dort lebenden
       Palästinenser wenige Jahre später eingebürgert. Nach dem Sechstagekrieg
       1967 eroberte dann Israel das Gebiet.
       
       Gut die Hälfte der Wihdat-Bewohner hat jedoch keine Krankenversicherung.
       Das Gesundheitszentrum wird von etwa 43.000 Menschen genutzt, im Schnitt 75
       Patienten täglich, erklärt Khalil Abu Naqira, Seuchenschutzbeauftragter.
       Magen-Darm-Erkrankungen und Atemwegsinfekte, aber auch Bluthochdruck und
       Diabetes seien häufige Besuchsgründe.
       
       Das Hilfswerk übernimmt teilweise die Kosten für Krankenhausbesuche in
       jordanischen Kliniken und führt selbst jährlich im ganzen Land 1,6
       Millionen medizinische Beratungen durch. In Jordanien unterhält UNRWA 25
       Gesundheitszentren und 161 Schulen. Die UN-Agentur ist mit 7.000
       Mitarbeitenden nach eigenen Angaben einer der größten Arbeitgeber im
       Königreich.
       
       Berufsausbildungen gehören ebenso zu den Dienstleistungen. Auf dem Hof der
       Mädchenschule in Wihdat haben sich ein Dutzend Männer und Frauen
       versammelt. So wie Salam Qandil, hellblaues Kopftuch und selbstbewusstes
       Auftreten. Sie erzählt, ihre Schwester habe eine Hörschädigung, ihr Vater
       sei gestorben und es sei an ihr gewesen, die Familie zu ernähren.
       Inzwischen hat Salam eine abgeschlossene Ausbildung als Kosmetikerin und
       einen eigenen Salon.
       
       Oder die 40-jährige Iman, blumiges Kopftuch, wortgewandt. Sie ist im Camp
       aufgewachsen, unter „schwierigen Bedingungen“. Nach der Schule wollte sie
       studieren, Kunst am liebsten, das Geld habe aber nicht gereicht. Jetzt
       lehrt sie Arabisch an ihrer alten Grundschule. „Das verdanke ich UNRWA“,
       sagt sie. Das Dutzend Männer und Frauen sind nicht zufällig hier: Sie
       kennen die aktuelle Debatte um die UN-Agentur und wollen für ihr
       Weiterbestehen plädieren. Das Hilfswerk hat den Besuch organisiert. Denn
       laut Olaf Becker, UNRWA-Direktor in Jordanien, könnte das Einfrieren der
       Hilfsgelder hier bereits ab März die Dienstleistungen gefährden. Wo genau
       im Ernstfall gekürzt werden würde, ist noch unklar.
       
       Etwa 2,4 Millionen registrierte palästinensische Geflüchtete leben in
       Jordanien. Das Land hat insgesamt 11,5 Millionen Einwohner und die
       zweithöchste Anzahl Geflüchteter pro Kopf weltweit. Syrer, Iraker,
       Jemeniten – aus jedem Krisenherd der Region suchen Menschen hier Zuflucht.
       Dabei hat das Königreich schon an sich mit Problemen zu kämpfen: einer
       Arbeitslosenquote von 22 Prozent, 46 Prozent sind es unter jungen
       Erwachsenen. Die Staatsverschuldung beträgt fast 46 Milliarden US-Dollar.
       König Abdullah II. sagte kürzlich, die Arbeit der Agentur sei
       lebenswichtig.
       
       Laut Nahostexperte Hiltermann könnte Jordanien theoretisch in der Lage
       sein, palästinensische Geflüchtete zu versorgen. Allerdings: Würde UNRWA
       kollabieren, käme eine schwierige Aufgabe auf die jordanische Gesellschaft
       zu. Die größten Probleme sei indes politischer und demografischer Natur:
       Laut Schätzungen hat über die Hälfte der Jordanier palästinensische
       Wurzeln. Die Balance zwischen ihnen und den ursprünglichen Stämmen war
       schon immer heikel. Jordanien könnte den Kollaps von UNRWA und die
       vollständige Integration der Palästinenser in der Gesellschaft als „eine
       Bedrohung seines politischen Systems oder sogar als eine existenzielle
       Bedrohung ansehen“, glaubt Hiltermann.
       
       Dies war in dem Königreich schon immer ein delikates Thema. Konservative
       israelische Politiker haben oft vorgeschlagen, Jordanien könne als
       alternative Heimat für Palästinenser dienen. Die meisten palästinensischen
       Geflüchteten sind inzwischen Jordanier, doch nicht alle. Vor allem die
       sogenannten Ex-Gazaner, die nach 1967 aus dem Gazastreifen geflohen sind,
       bleiben heute noch größtenteils staatenlos. Knapp 30.000 von ihnen leben im
       Jerash Camp.
       
       Etwa 40 Kilometer nördlich von Amman gelegen, ist das Jerash Camp das
       ärmste unter den palästinensischen Flüchtlingslagern. Etwas mehr als die
       Hälfte seiner Bewohner lebt laut UNRWA unter der Armutsgrenze, 88 Prozent
       haben keine Krankenversicherung. Für sie ist einiges teurer als für
       jordanische Staatsbürger: Universitätsgebühren, medizinische Ausgaben,
       sogar die Ausstellung ihrer temporären Ausweise. Sie sind eingeschränkt in
       ihrer Berufswahl, beim Kauf von Grundstücken oder Autos. Aber vor allem:
       Sie sind Ausländer in dem einzigen Land, das sie kennen. Denn ihnen wird
       die jordanische Staatsangehörigkeit in der Regel heute noch verwehrt.
       
       So wie Shaima Sallam. Als die taz Shaima vor anderthalb Jahren das erste
       Mal getroffen hat, hatte sie ein Mittagessen im Innenhof ihres Hauses im
       Jerash Camp vorbereitet. Kofta bil Tahini, Fleischbällchen mit Reis in
       Sesam-Sauce, eine in Jordanien sowie Palästina beliebte Speise.
       
       Shaima hatte gerade ihr Englischstudium an einer jordanischen Universität
       abgeschlossen. Dass sie es geschafft hat, eine staatenlose Geflüchtete aus
       dem ärmsten palästinensischen Flüchtlingslager Jordaniens, ist nicht
       selbstverständlich. Ihr Vater, Bauer von Beruf, hat sich stets für die
       Ausbildung seiner Töchter starkgemacht, doch das allein hätte nicht
       gereicht. Ihr Studium hat Shaima auch dank der privaten Hilfe einer ihrer
       ehemaligen Lehrerinnen aus der UNRWA-Schule finanziert.
       
       ## Shaimas Land gibt es offiziell nicht
       
       Shaima ist ein Paradebeispiel für das gute Gelingen der Bildungsprogramme
       in den Flüchtlingscamps. Und doch betrachtet sie westliche NGOs und UNRWA
       kritisch. „Weil sie mich daran erinnern, dass wir Geflüchtete sind“, sagt
       die heute 25-Jährige. Sie mag es nicht, wenn Menschen sie fragen, welchem
       Land sie sich zugehörig fühle. Sie ist Palästinenserin, doch ihr Land gibt
       es offiziell nicht. Sie lebt in Jordanien, gilt aber nicht als Jordanierin.
       
       Damals, vor eineinhalb Jahren, die Reporterin ist unterwegs mit Shaima
       Sallam im Camp: Im Schatten der Häuserwände, vor einem Gebäude aus
       bröckelnden Mauern und Wellblechdach, sitzt eine ältere Frau auf einem
       Holzstuhl, ihr Gesicht von einem schwarzen Schleier umrandet, einen
       knorrigen Holzstock in der Hand. „Ist sie von UNRWA?“, fragt sie Shaima,
       die sie begleitende Journalistin meinend. Als Shaima verneint, sagt sie:
       „Ich muss das Dach von meinem Haus renovieren lassen.“ Sie habe gehört, man
       bekomme dafür Hilfe. Das Haus ist zugleich ein Gemüseladen, hinter der
       eingerosteten Tür, vor den Wänden, in die sich die Feuchtigkeit
       eingefressen hat, stapeln sich Zucchini, Blumenkohl und Zwiebeln. Die
       ältere Frau beschwert sich, das Geschäft laufe nicht so gut.
       
       Einige Dutzend Meter weiter, am Rande des Camps, liegen auf einem Abhang
       unzählige Plastiktüten, leere Flaschen, verrottende Trainingsschuhe, eine
       verwesende Katze. Ein Gestank von Abfall und Tod schwebt über der
       Müllhalde. Shaima wandert durch diese Ruinen mit leichtem Schritt, schaut
       vorsichtig auf die Stelle, auf der sie ihren Mokassin absetzt, zieht den
       Rock ihres langen Kleids ein paar Zentimeter hoch.
       
       Im Camp kümmert sich UNRWA um die Müllabfuhr, doch hier, in diesem
       Grenzgebiet, fühlt sich offenbar niemand dafür zuständig. Eineinhalb Jahre
       später, im Nachhinein, wirken diese erinnerten Szenen wie ein Vorgeschmack
       auf das, was passieren könnte, würde die UN-Agentur von heute auf morgen
       ihre Arbeit einstellen.
       
       Sicher ist, dass derzeit Hunderttausende Menschen in der Region von UNRWA
       abhängen. Für staatenlose Gazaner ist das Hilfswerk ein potenzieller
       Arbeitgeber und Leistungserbringer. Auch Shaima sagt: „Schon jetzt haben
       manche Menschen im Camp im Winter Schwierigkeiten, genug Essen zu finden.
       Einige bekommen Geld von UNRWA. Sollte die Finanzierung stoppen, könnte es
       einen Aufstand geben.“ In den staubigen Gassen des Jerash Camps fasst eine
       Frau es so zusammen: „Wenn UNRWA endet, sind wir verloren.“
       
       29 Feb 2024
       
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 (DIR) Finanzierung der UNRWA nach Vorwürfen: Höchste Zeit
       
       Eine wachsende Koalition von Geberländern hat die Hilfe für UNRWA trotz der
       Vorwürfe wieder aufgenommen. Fünf Gründe, warum Deutschland folgen sollte.
       
 (DIR) Deutsch-Jordanische Beziehungen: Schöne Autos – schlechte Politik
       
       In Jordanien sieht man Deutschland neuerdings deutlich kritischer.
       Zumindest weite Teile der Gesellschaft. Grund ist die Nahostpolitik.
       
 (DIR) Versorgung Gazas aus der Luft: Kläglicher Offenbarungseid
       
       Es müsste nicht nötig sein, Lebensmittel für Gaza aus der Luft abzuwerfen.
       Dass es so ist, verdeutlicht Israels Scheitern.
       
 (DIR) Hilfswerk-Sprecherin zu Vorwürfen: „UNRWA trägt zur Stabilität bei“
       
       Nach Terrorvorwürfen haben Länder wie Deutschland die Zahlungen an das
       Hilfswerk gestoppt. UNRWA-Sprecherin warnt vor den Folgen – nicht nur für
       Gaza.
       
 (DIR) Vorwürfe gegen UNRWA: Viele Prüfungen und wenig Geld
       
       Das in der Kritik stehende UN-Hilfswerk rechnet im März mit ersten
       Untersuchungsergebnissen. Auch die Neutralität von UNRWA soll überprüft
       werden.
       
 (DIR) Vorwürfe gegen UNRWA: Schlechte Helfer
       
       Mitarbeiter des UN-Palästinenserhilfswerks stehen unter Verdacht,
       Verbindungen zur Hamas zu haben. Das ist untragbar, gerade für die
       Hilfsbedürftigen.