# taz.de -- Film „Living“ von Kazuo Ishiguro: „Eine multiple kulturelle Aneignung“
       
       > Der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat für den Film „Living“ das
       > Drehbuch geschrieben. Ein Gespräch über den Gentleman in uns und Angst
       > vor Gefühlen.
       
 (IMG) Bild: Mr. Williams (Bill Nighy) und seine frühere Mitarbeiterin Margaret Harris (Aimee Lou Wood)
       
       Durch das Hotelfenster in San Sebastián dringen während des Filmfestivals
       Hitze und Geräusche eines quirligen Strandnachmittags, als der
       japanisch-britische [1][Schriftsteller Kazuo Ishiguro], akkurat im Anzug
       mit Hemd und Krawatte, die Suite betritt und sich gleich freundlich
       lächelnd nach dem Wohlbefinden erkundigt. Ein Gentleman durch und durch,
       höflich und distinguiert. Ein solcher steht auch im Mittelpunkt des
       Spielfilmdramas „Living“, zu dem der 68-jährige Nobelpreisträger eines
       seiner raren Drehbücher verfasst hat. Das Remake des Kurosawa-Klassikers
       „Iriku“ handelt von einem Beamten im London der frühen 1950er Jahre, der
       die wenige Zeit nutzt, die ihm noch bleibt, um Sinnhaftes zu tun. Ein
       Gespräch über englische Eigenheiten, die Liebe zum Kino und Erfüllung im
       Leben. 
       
       wochentaz: Herr Ishiguro, was hat Sie bewogen, ein Drehbuch zu einem Remake
       schreiben? 
       
       Kazuo Ishiguro: Ich kam als Fünfjähriger 1960 mit meinen Eltern nach
       England. Kurosawa und Ozu waren lange die einzigen japanischen Regisseure,
       deren Filme regelmäßig im Kino zu sehen waren. Sie waren das Fenster in
       meine Kindheit in Japan. „Ikiru“ hinterließ später auf mich als junger Mann
       einen besonderen Eindruck. Er zeigte mir, wie ich mein Leben als
       Erwachsener führen sollte, das mir so klein und unbedeutend erschien.
       „Ikiru“ tut nicht so, wie so viele andere Filme, dass man Spektakuläres
       schafft und dadurch berühmt wird. Es geht darum zu akzeptieren, wer man
       ist, und seinen Platz in der Welt zu finden. Und sich zu bemühen, ein
       bisschen über sich selbst hinauszuwachsen, ein erfülltes Leben zu führen.
       Das Beste aus dem zu machen, was einem gegeben ist. Mich beflügelte das
       sehr. Und irgendwann fing ich an darüber nachzudenken, wie ein in
       Großbritannien angesiedeltes Remake für eine neue Generation funktionieren
       würde.
       
       Warum? 
       
       Wer sind wir? Was ist unser Verhältnis zur Welt als Ganzes, zur
       Gesellschaft? Wie führen wir ein erfülltes Leben? Viele dieser Fragen
       stellen wir uns, indem wir Romane lesen und Filme schauen, in andere Leben
       eintauchen. Das versuchen wir mit „Living“, ohne sentimental zu werden und
       damit das Publikum zu manipulieren. Der Film tut nicht so, als würde man
       die Welt verändern und dafür gefeiert werden, wenn man sich nur genug Mühe
       gibt. Das wäre gelogen. Er erzählt davon, wie man im Kleinen Gutes tun und
       dadurch Erfüllung finden kann, selbst wenn sich später niemand an einen
       erinnert. Kein Astronautenmärchen, sondern die Geschichte eines
       Alltagshelden.
       
       Hatten Sie keine Berührungsängste in Bezug auf Kurosawa? 
       
       Seine Filme wurden ja auch mehrfach von westlichen Regisseuren adaptiert,
       von „Die glorreichen Sieben“ bis „[2][Star Wars]“. Und Kurosawa selbst
       nutzte unverblümt literarische Vorlagen: Shakespeare, Dostojewski, Gorki,
       ganz ohne falsche Ehrfurcht. Und um ehrlich zu sein: „Ikiru“ ist nur fast
       ein Meisterwerk. Das Drehbuch war großartig, aber Kurosawa inszenierte es
       sehr actionreich, die Schauspieler sind melodramatisch. Ich hätte mir den
       Protagonisten stoischer gewünscht. Ich wollte auch kein reines Remake
       machen, sondern „Ikiru“ mit anderen Themen verschmelzen, etwa dieser sehr
       spezifischen Englishness. So kam ich auf Bill Nighy. Er verkörpert diesen
       Archetyp des britischen Gentleman.
       
       Was verstehen Sie darunter? 
       
       Mr Williams, der Protagonist in „Living“, ist eine Art von Gentleman, wie
       ich ihn aus meiner Kindheit kenne. Viele Eltern meiner Freunde und viele
       Freunde meiner Eltern waren ihm sehr ähnlich. Sie hatten etwas Uniformes,
       nicht nur in der Kleidung, sondern in ihrem ganzen starren Verhalten. Mich
       faszinierte dieser Typus, doch er verschwand in den folgenden Jahren
       zusehends. In „Living“ nutze ich ihn als Metapher, um etwas
       Allgemeingültigeres über die menschliche Natur zu erzählen. Ich glaube, in
       jedem von uns steckt ein solcher englischer Gentleman, es ist eine
       überhöhte Version dessen, was uns als soziale Wesen ausmacht.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Die Angst vor Gefühlen und sie öffentlich zu zeigen. Das
       Pflichtbewusstsein, dem man nie ganz gerecht werden kann. Der Hang zum
       Konformismus. Teil einer sozialen Hierarchie zu sein, aus der man nur
       schwer ausbrechen kann. All das ist in „Living“ sehr orts- und
       zeitspezifisch auf die Spitze getrieben, aber wir sind doch alle davon
       geprägt. Wir identifizieren uns damit, weil wir instinktiv spüren, dass die
       Prinzipien dieser merkwürdigen Welt englischer Bürokraten vor 70 Jahren
       noch immer etwas mit uns zu tun haben.
       
       Inszeniert hat den Film der Südafrikaner Oliver Hermanus. Weil auch er mit
       Distanz auf diese Welt blickt? 
       
       Ich wollte bewusst keinen Regisseur aus Großbritannien. Es sollte nicht
       aussehen wie so viele andere britische Historiendramen, es sollte ein
       frischer Blick von außen sein. Oliver ist 1983 in Kapstadt geboren und PoC.
       Ich selbst bin japanisch-britischer Schriftsteller. Aber bereits das
       Originaldrehbuch zu „Ikiru“ stammt von drei japanischen Autoren einer
       anderen Generation. Und sie ließen sich dabei wiederum von der russischen
       Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Leo Tolstoi inspirieren. Es ist
       also eine multiple kulturelle Aneignung.
       
       Welche Bedeutung hat das Kino für Sie? 
       
       Ich bin ein Cinephiler, ich rede liebend gern über Filme, sie sind ein
       wichtiger Impuls für mich als Schriftsteller. Meine Romane würden nicht in
       der Form existieren ohne meine Liebe zum Kino. Mich interessieren
       Geschichten, die universell und allgemeingültig sind. Für mich ist die
       große Kraft der Fiktion, dass wir nicht nur die Fakten an der Oberfläche
       betrachten, wir versuchen, eine metaphorische Ebene zu finden. Filme können
       etwas über uns und unsere Gesellschaft aussagen, auch wenn es ein
       Historiendrama oder Science-Fiction ist.
       
       Inwiefern unterscheidet sich für Sie das Schreiben eines Drehbuchs von dem
       eines Romans? 
       
       Ich bin immer noch dabei, das herauszufinden. Über 40 Jahre lang habe ich
       Romane geschrieben. Ich bin Schriftsteller, kein Drehbuchautor. Nur hin und
       wieder lasse ich mich überreden, ein Script zu schreiben, und ich bin meist
       nicht sehr gut darin. Etliche davon wurden nie verfilmt, andere leider
       schon. Diesmal scheint sich zum Glück alles gefügt zu haben. Ich scheine
       langsam zu verstehen, worauf es ankommt. Innere Monologe und Rückblenden
       zum Beispiel funktionieren in der Literatur besser.
       
       Wie stehen Sie zu den Verfilmungen Ihrer eigenen Romane wie „Was vom Tage
       übrig blieb“? 
       
       Ich versuche sie als regulärer Kinobesucher zu sehen, aber es fällt mir
       sehr schwer. Meine Einwände sind oft komplett unfair. Ich rege mich über
       eine Szene auf, weil ich denke, die Tür ist auf der falschen Seite. Weil
       ich es beim Schreiben anders vor Augen hatte. Ich versuche, den Film mit
       neuen Augen zu sehen, als hätte ich nicht das Buch geschrieben. Mehr noch:
       als hätte ich es nicht gelesen.
       
       Sie haben bislang nie einen Ihrer eigenen Romane adaptiert. Warum? 
       
       Weil es nicht sonderlich interessant ist für mich. Das sind Stoffe, die ich
       bereits bearbeitet habe, für mich ist die Auseinandersetzung damit beendet.
       Die Vorstellung, sich noch mal an die Arbeit zu machen, nur diesmal mit
       Studioleuten im Nacken, die mir sagen, was ich ändern soll, erscheint mir
       wie ein Albtraum. Ich überlasse das gerne anderen. Auch weil ein frischer
       Zugang guttut. Eine Adaption ist etwas Eigenständiges, man muss da mitunter
       gnadenlos sein im Ändern und Streichen.
       
       Sie reden dann auch nicht rein? 
       
       Ich ermutige Autor und Regisseur, sich den Stoff anzueignen. Die einzige
       wichtige Frage am Ende ist, ob der Film etwas taugt, ob er das Publikum
       berührt. Da steht eine zu orthodoxe Werktreue oft nur im Weg. Und wie
       gewinnbringend ist es letztlich, Buch und Film zu vergleichen? Was ist
       „besser“? Ist das eine Frage, die das Kinopublikum umtreibt? Ich bezweifle
       das.
       
       Im Jahr 2017 erhielten Sie den Literaturnobelpreis. Wie hat die
       Auszeichnung Ihr Leben verändert? 
       
       Angesichts meiner Botschaft der Bescheidenheit in „Living“ eine gewisse
       Ironie, oder? Es war eine große Ehre, aber ich versuche, nicht darüber
       nachzudenken. Ich war 62, als ich ausgezeichnet wurde. Ein bisschen früh
       für den Ruhestand. Just carry on! So werde ich das auch weiter handhaben.
       
       13 May 2023
       
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