# taz.de -- Generation Corona: Ein ausgelaugter Jahrgang
       
       > Die Politik hat viel versucht, damit die Pandemie bloß die
       > Schulabschlüsse nicht gefährdet. Das ging auf Kosten der
       > Schüler:innen.
       
 (IMG) Bild: Die Schülerin Lucien Hildesheim, zu Hause in Dornheim
       
       Die Generalprobe ist für Lucien Hildesheim schon mal gründlich
       schiefgegangen. Drei Wochen vor ihren Abschlussprüfungen denkt die
       Realschülerin an die missratene Mathe-Vorprüfung und fragt sich ernsthaft:
       „Klappt das überhaupt mit dem Bestehen?“ Sicher ist sich die
       Zehntklässlerin da keinesfalls. Und das liegt nicht nur an ihrer
       Matheschwäche.
       
       Lucien geht in Stadtilm in Thüringen auf die Gemeinschaftsschule. Mitte
       April kratzte hier im Ilm-Kreis der Inzidenzwert an der 350er-Marke.
       Generell gehört Thüringen zu den Bundesländern, in denen die Schulen mit am
       längsten geschlossen waren. Lockdown, Unterrichtsausfall, Isolation, dazu
       Prüfungsvorbereitungen, Notendruck, Stress – für Lucien und ihre
       Klassenkamerad:innen waren die vergangenen Monate, war dieses zweite
       Coronaschuljahr: eine Belastung. Lucien beschreibt es als permanente
       Ausnahmesituation: „Ich kann mich gar nicht mehr zum Lernen motivieren.“
       Mit dem Realschulabschluss will sie es trotzdem noch probieren.
       
       [1][Rund 1,1 Millionen Schüler:innen machen in diesem Frühjahr und
       Sommer in Deutschland ihre Schulabschlüsse], private und Berufsschulen sind
       da noch nicht mitgerechnet. Während viele Abiturient:innen schon mit
       ihren Prüfungen durch sind, stehen sie an den meisten Förder-, Haupt- und
       Realschulen noch aus. Die 16 Kultusminister:innen in den Ländern
       haben ihre Prioritäten früh erklärt: Alle Schüler:innen sollen, wenn
       irgend möglich, ihre Abschlüsse machen können, bei den Schulöffnungen waren
       Abschlussklassen noch vor den Grundschulen dran.
       
       Manche sprechen schon von einer Generation Corona, einer verlorenen
       Generation. Aber gibt es die überhaupt?
       
       Brüche und Auszeiten sind normal, sie sind Bestandteile jeder Biografie.
       Nach dem Zweiten Weltkrieg starteten mehrere Jahrgänge mit Notabitur und
       wurden schnell Leistungsträger:innen der beiden Deutschlands in Ost
       und West. Vor 30 Jahren wurde der Sommer 89 einer der Anarchie für die
       Jugend der ehemaligen DDR, mit dem Sozialismus brach ein Bildungssystem
       zusammen. Doch in der heutigen Gesellschaft, die Wert auf stringente
       Lebensläufe legt, wird der Bruch schnell zum Makel, die Auszeit
       erklärungsbedürftig.
       
       Die Sozialwissenschaftler Diether Dohmen und Klaus Hurrelmann warnen vor
       einem leichtfertigen Umgang mit dem Begriff „Generation Corona“. Und doch
       konstatieren sie: „Es gibt eine größere Gruppe von jungen Menschen, deren
       Zukunftschancen sich durch die Entwicklungen des vergangenen Jahres
       höchstwahrscheinlich deutlich verschlechtert haben.“ [2][Das ist das Fazit
       ihres gerade erschienenen Buches, in dem sie zahlreiche Untersuchungen zur
       Situation von Kindern und Jugendlichen im Pandemiejahr zusammentragen].
       
       Kein Nachteil, so lautet das Versprechen der Politik, solle den
       Absolvent:innen wegen der Pandemie entstehen. Doch was ist dieses
       Versprechen wert, wenn die Politik in Echtzeit mitverfolgen kann, dass sich
       die Ungleichheiten im Bildungssystem mit jeder Woche Distanz- oder
       Wechselunterricht verstärken? Wenn die Folgen für das Berufsleben der
       Betroffenen heute noch gar nicht absehbar sind?
       
       Die Unsicherheit ist, was den Betroffenen vor allem zu schaffen macht: Ist
       es fair, dass ihnen nach zwei chaotischen Schuljahren dieselben Prüfungen
       abverlangt werden wie den Jahrgängen ohne Corona? Können sie kurz vor Ende
       der Schulzeit die unverschuldeten Wissenslücken alle noch füllen? Haben
       sie die gleichen Chancen auf einen guten Ausbildungs- oder Studienplatz?
       Die taz hat mehrere Schüler:innen kurz vor ihrem Abschluss befragt, wie
       sie das Coronajahr erlebt haben, und wie sie in die Zeit danach starten.
       
       An Lucien Hildesheims Gemeinschaftsschule in Stadtilm scheitert das
       Versprechen der Politik auf Chancengleichheit schon an der
       Internetverbindung. Die Schule habe im ersten Lockdown zwar viel
       umgestellt, um Onlineunterricht möglich zu machen, erinnert sich die
       16-Jährige. „Aber entweder hatten wir Schüler Internetprobleme oder die
       Lehrer.“ Wegen der schlechten Verbindung zu Hause sei sie in die
       Konferenzen gar nicht erst reingekommen. Den Stoff habe sie sich dann
       hinterher von Klassenkamerad:innen besorgen müssen. Mit den
       Internetproblemen kamen die Lernlücken, mit den Lernlücken der Stress und
       mit dem Stress die Selbstzweifel allein vor dem Bildschirm. Als Lucien und
       ihre Mitschüler:innen dann endlich wieder in die Schule durften,
       standen sofort Klausuren an, reihenweise, „manchmal acht in einer Woche“.
       
       Das alles hätte Lucien vielleicht noch bewältigt. Doch die strengen
       Beschränkungen galten ja nicht nur für das Schulleben, auch die Freizeit
       war anders und anstrengend. Keine Freundin, die man mal eben in den Arm
       nehmen kann, und Luciens Hobbys – Schulchor und Tanzunterricht – fielen
       ersatzlos aus.
       
       Dann kam der Januar, die Bewerbungsfristen für Ausbildungsplätze rückten
       näher, die Halbjahreszeugnisse standen an. Als Lucien klar wurde, dass sie
       in Mathe von einer Vier auf eine Fünf abrutschen würde, „da ist die Bombe
       geplatzt und ich bin zusammengebrochen“. Sie habe viel geweint, konnte sich
       nicht konzentrieren, für ein paar Tage war an Lernen nicht zu denken. Von
       der Schule bekam sie keine Hilfe. Die Schulsozialarbeiterin war
       pandemiebedingt nicht im Einsatz. Geholfen haben ihr stattdessen Freunde
       und ihre Familie.
       
       [3][Eine Befragung von 6.000 Abiturient:innen in Deutschland
       zwischen Herbst 2019 und Frühjahr 2021 des Instituts für Arbeitsmarkt- und
       Berufsforschung (IAB)] ergab, dass das Risiko einer Depressions- oder
       Angststörung beim Abiturjahrgang 2021 um 25 Prozent gestiegen ist. „Das ist
       schlimmer als der Effekt, den Erwachsene beim Eintritt in die
       Arbeitslosigkeit erleben“, sagt Alexander Patzina vom IAB, der die
       Befragung mitdurchgeführt hat. Sorgen um die berufliche Zukunft können laut
       dem Sozialwissenschaftler rund 50 Prozent des erhöhten Erkrankungsrisikos
       erklären. Man müsse zudem davon ausgehen, dass die Situation für
       Schüler:innen anderer Schulformen noch belastender sei.
       
       Florim Abdullahu kommt an einem Abend Ende März von der Arbeit. Er hat noch
       schnell geduscht und sitzt nun mit weißem T-Shirt vor dem Bildschirm. Der
       26-Jährige macht eine Ausbildung zum Dachdecker. Den praktischen Teil
       absolviert er in einem kleinen Betrieb und in einem Ausbildungszentrum, den
       theoretischen Teil in der Berufsschule in Karlsruhe. Bald stehen dort die
       Prüfungen an – Deutsch, Fachtheorie und Wirtschaft. Wann genau, ist noch
       nicht klar. Eigentlich fühlt er sich gut vorbereitet, ein wenig nervös ist
       er dennoch. Zur praktischen Prüfung wird nur zugelassen, wer die
       Fachtheorie bestanden hat. „Davor hab ich am meisten Respekt.“
       
       Abdullahu ist im Kosovo aufgewachsen, hat dort angefangen, Pädagogik zu
       studieren. Vor vier Jahren kam er nach Deutschland. Der Liebe wegen. Mit
       Frau und Sohn wohnt er in einem Dorf in Baden-Württemberg. Handwerker sind
       gefragt. Für die Ausbildung hat er sich beworben, weil auch sein Vater den
       Beruf ausübte. „Als Kind war ich oft auf Dächern.“
       
       Alle sechs bis acht Wochen fährt er nach Karlsruhe auf die Berufsschule.
       Die Heinrich-Hübsch-Schule ist ein mächtiger Komplex aus rotem Klinker.
       Über 1.700 Schüler:innen aus 50 Nationen werden dort beschult. Auch 130
       Geflüchtete sind darunter. Sie werden Maurer:innen, Zimmerer:innen,
       Schlosser:innen oder auch Dachdecker:innen. In Handwerksberufen hätten
       Geflüchtete häufig gute Chancen, sagt Schulleiter Hannes Ludwig.
       
       Abdullahu war im zweiten Lehrjahr, als im Frühjahr 2020 der erste Lockdown
       verfügt wurde. Die Heinrich-Hübsch-Schule stieg fast sofort auf
       Onlinelernen um. Das Netz war zunächst überlastet, es dauerte, Aufgaben
       hochzuladen. Der Blockunterricht von kurz vor acht bis halb vier fand über
       ein Streamingportal statt. Anfangs habe er sein Handy genutzt, später
       einen Laptop gekauft, erzählt Abdullahu. Nicht alle seiner 17
       Mitschüler:innen hätten sofort Anschluss gehabt, mittlerweile haben
       alle Endgeräte. Keiner sei während des Coronajahres abgesprungen.
       
       ## Die GEW schlug vor, auf Noten zu verzichten
       
       Als die taz ihn Ende März dieses Jahres interviewt, sind die Schulen
       bundesweit gerade wieder geschlossen, wegen der Bundesnotbremse. Nur die
       Abschlussjahrgänge dürfen zum Präsenzunterricht. Mit Maske und auf Abstand.
       Er habe manchmal Kopfschmerzen und könne sich schwer konzentrieren, sagt
       Abdullahu. Er ist aber dankbar, dass Unterricht in der Schule stattfindet,
       denn das Onlinelernen sei noch anstrengender. Zumal sein Sohn noch nicht in
       die Kita geht. „Der Druck macht uns schon zu schaffen.“ Und er ist froh,
       dass die Prüfungen stattfinden.
       
       Unter anderem die Bildungsgewerkschaft GEW hat vorgeschlagen, auf Noten und
       Prüfungen im Coronajahr zu verzichten. Davon hält Schulleiter Ludwig
       nichts: „Auf jeden Fall soll es Zeugnisse geben. Denn die Schüler:innen
       haben doch viel geleistet.“
       
       Florim Abdullahu will einen guten Abschluss machen, bei Denis Kohl ist das
       schiefgegangen. Der 18-jährige Berliner wurde nicht zu den Abiturprüfungen
       zugelassen. Ausgerechnet kurz vor der Ziellinie hagelte es zu viele
       schlechte Noten. In Politik, in Physik. In Deutsch und Englisch. Vier
       sogenannte Leistungsausfälle erlaubt die Prüfungsordnung in den Grundkursen
       in zwei Jahren Oberstufe. Bei Denis waren es fünf – in einem Jahr. „Es ist
       schon echt ärgerlich“, sagt er am Telefon.
       
       Man hört an seiner Stimme, dass es ihm nicht ganz leicht fällt, über die
       vergangenen Monate zu sprechen. Er erzählt von der Unlust, sich bei den
       Onlinekursen mündlich zu beteiligen. Von den Warnungen der Lehrer:innen,
       dass er sich jetzt reinhängen müsse, um noch auf die rettenden fünf Punkte,
       eine Vier minus, zu kommen. Warum ihm das Lernen zu Hause, allein vor dem
       PC, nicht liegt, kann er sich auch nicht erklären. „Ich hatte immer so
       einen Schnitt von 2,4 oder 2,6“, sagt er. „Wenn ich den Lehrer vor mir
       habe, kann ich mich viel besser motivieren.“
       
       Er ist sich sicher: Ohne den langen Lockdown, die unübersichtlichen
       Onlinetools, mehr direkten Kontakt mit den Lehrer:innen würde er jetzt
       mit seinem Jahrgang das bestandene Abi feiern. Jetzt gehört er zu denen,
       die das Jahr wiederholen müssen.
       
       Das bedauern auch seine Lehrer:innen. Denis sei ein guter Schüler, vor
       allem mündlich, und er liebe Sport, sagt sein Politiklehrer. Die
       Entscheidung habe das Kollegium, habe er sich nicht leicht gemacht. Einen
       Schüler lasse man nie gerne durchrasseln. „Doch ich bin mir unsicher, ob
       man Denis mit einem geschenkten Abitur einen Gefallen getan hätte.“
       
       Er sei in manchen Fächern komplett abgetaucht, war in keinem
       Onlinemeeting, fehlte auch noch, als die Klasse nach den Faschingsferien
       wieder in die Schule durfte. Mehrfach habe er Denis angerufen, so der
       Lehrer. Dem Abiturient sei auch Lerncoaching angeboten worden. Letztlich
       blieb dem Lehrer nichts anderes übrig. Er musste Denis null Punkte
       eintragen. Aber er wünsche ihm, dass er den Frust jetzt in positive Energie
       umwandeln könne. Dann schaffe Denis im nächsten Jahr auch ein gutes Abitur
       – wenn nicht eine vierte oder fünfte Pandemiewelle dazwischenkommt.
       
       Wie viele Schüler:innen wie Denis Kohl dieses Jahr ihren Abschluss
       verpassen, wissen die Ministerien noch nicht. Sind es mehr als erwartet,
       könnten die Bildungspolitiker:innen noch unter Druck geraten. Sie
       haben sich früh darauf festgelegt, dass trotz Pandemie alles so weitergehen
       muss wie immer: Lernen, Zensuren, Prüfungen. Schon im Januar – als die
       Schulen von Garmisch bis Flensburg noch geschlossen waren – erklärte die
       Kultusministerkonferenz: Abschlussprüfungen finden auch 2021 statt. Zu
       diesem Zeitpunkt lag die bundesweite Inzidenz bei über 100 und stieg ab
       Mitte Februar wieder steil an. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek
       sprach von einer „Gratwanderung“.
       
       Die GEW forderte, die Abschlussprüfungen notfalls ausfallen zu lassen, aber
       das wollten die Bildungsminister:innen auf keinen Fall. Nur in Berlin
       verzichtete man auf schriftliche Prüfungen für den Mittleren Schulabschluss
       nach Klasse 10. Die übrigen Länder versuchten, den Druck aus dem Kessel zu
       nehmen. Sie verlegten Prüfungstermine nach hinten, ließen den Schulen mehr
       Auswahl bei den Aufgaben und verlängerten die Zeitvorgaben, um die Aufgaben
       zu bearbeiten. Selbst eine zusätzliche halbe Stunde blieb jedoch oft
       ungenutzt, denn bei gut gelüfteten, eiskalten Räumen glich manche
       Deutschprüfung im Frühjahr 2021 eher einer Polarexpedition mit
       Thermoskanne, Wärmekissen, im Mantel und mit Maske.
       
       Sie hätte für das Pensum an Matheaufgaben im Abitur eigentlich doppelt so
       viel Zeit gebraucht, meint Cora Dobbratz aus Berlin. Sie besucht ein
       Gymnasium mit naturwissenschaftlichem Profil im Bezirk Lichtenberg. „Die
       Aufgaben waren alle machbar. Aber es waren einfach zu viele“, sagt sie. Das
       sei gerade in der derzeitigen Situation unfair, wo viele Schüler:innen
       durch die Pandemie zurückgeworfen seien. „Das komplette zweite Semester
       fand praktisch nicht statt.“ Dobbratz startete deshalb eine Petition im
       Internet. Sie fordert eine Überprüfung der Aufgaben und eine daran
       angepasste Bewertung. [4][Ähnliche Petitionen laufen auch für andere
       Länder.] In Bayern ist es eine Mathelehrerin, die darauf hinweist, dass
       versäumter Stoff nicht nachgeholt wurde und trotzdem Prüfungsbestandteil
       war. 37.500 Menschen unterschrieben, in Berlin hat Dobbratz bislang 600
       Unterschriften gesammelt.
       
       Einen Coronabonus solle es bei der Bewertung nicht geben, antworten die
       meisten Kultusministerien auf Anfragen der taz. Doch einige Ministerien
       appellierten an die Lehrer:innen, „die Bewertungen mit pädagogischem
       Augenmaß vorzunehmen“. So steht es in einem Brief, den das
       baden-württembergische Kultusministerium Mitte Februar an die Schulämter
       verschickte.
       
       In Rheinland-Pfalz begannen die Abiturprüfungen am frühesten, Anfang Juni
       lagen flächendeckende Ergebnisse zu ihnen vor. Sie seien mit denen im
       vorigen Jahr vergleichbar, teilt das Kultusministerium nach einer ersten
       Sichtung der Daten mit. In den anderen Bundesländern werden ähnliche –
       möglicherweise sogar leicht bessere – Ergebnisse erwartet.
       
       Also alles geritzt? Mitnichten, sagt der renommierte Bildungsökonom Ludger
       Wößmann: „Wie hoch die Bildungsverluste wegen der Pandemie wirklich sind,
       weiß niemand.“ Eine bundesweite Lernstandserhebung wie in den Niederlanden
       fehle bislang. Dort kam bei landesweiten Tests in den Kernfächern raus: Im
       Fernunterricht lernten die Schüler:innen so gut wie nichts. Die größten
       Lücken hatten Kinder aus sozial schwachen Familien.
       
       Ob das in Deutschland ähnlich ist, wollen auch Wößmann und sein Team vom
       ifo-Zentrum für Bildungsökonomik in München wissen. [5][Deshalb haben sie
       im vergangenen und in diesem Jahr mehr als 3.000 Eltern gefragt, wie viele
       Stunden deren Kinder zu Hause mit Lernen verbracht haben.] Das Ergebnis:
       Die tägliche Lernzeit hat sich im ersten Lockdown mehr als halbiert, im
       zweiten lag sie nur unwesentlich höher. Die entstandenen Lücken lassen sich
       möglicherweise nicht mehr aufholen, sagt Wößmann: „Ich denke da vor allem
       an die siebten bis neunten Klassen, die am längsten zu Hause lernen
       mussten.“
       
       ## Berufswahl und Sicherheitsdenken
       
       Natürlich gebe es auch dort Schüler:in-nen, die problemlos über einen
       längeren Zeitraum eigenständig lernten. Schwierig sei es jedoch für die,
       die sich ohnehin schwer tun mit dem Lernen oder zu Hause keine
       Unterstützung erhalten. „Wir sehen bei den Bildungsverlusten dieselben
       Ungleichheiten, die das deutsche Bildungssystem seit Langem prägen“, so
       Wößmann: „Erfolg und Misserfolg hängen wieder einmal stark mit dem
       Bildungshintergrund der Schülerinnen und Schüler zusammen.“
       
       Das hat langfristige Folgen für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sagt der
       Volkswirt. Denn ausbleibender Schulunterricht, das zeigten viele Studien
       übereinstimmend, bedeute weniger Einkommen. Wer in Deutschland ein Drittel
       Schuljahr mehr lernt, verdient später statistisch gesehen 3 Prozent mehr.
       Bei denen, die wegen Corona ihre Berufsausbildung nicht beenden, dürften
       die Einbußen noch drastischer ausfallen, schätzt Wößmann. Er rechnet damit,
       dass der Anteil von ungelernten Arbeitskräften in der Bevölkerung in den
       kommenden Jahren steigen werde.
       
       Der Realschülerin Lucien Hildesheim wird dieses Schicksal wohl erspart
       bleiben. Sie hat schon einen Ausbildungsplatz sicher – unabhängig davon, ob
       sie ihre Prüfungen besteht. Zu verdanken ist das dem Hauptschulabschluss,
       den sie vor einem Jahr gemacht hat. Sie hat gleich zwei Zusagen für die
       Ausbildung als medizinische Fachangestellte bekommen.
       
       Lucien hat sich für das Bundeswehrklinikum in Ulm entschieden. Dort wird
       sie Patient:innen betreuen, Blut abnehmen und Infusionen legen. „Ich
       habe mich sehr über die Zusage gefreut – aber man muss eben auch erst mal
       einen Ausbildungsplatz finden.“
       
       Florim Abdullahu blickt ebenfalls optimistisch in die Zukunft. Ende Mai hat
       er die theoretischen Prüfungen bestanden. „Am schwierigsten war
       Fachtheorie.“ Sein Ausbildungsbetrieb hat schon zugesagt, ihn zu
       übernehmen. Sein Ziel: zwei, drei Jahre arbeiten und dann vielleicht den
       Meister machen. Ende Juli stehen aber erst mal die praktischen Prüfungen
       für den Gesellen an.
       
       Wie wenig selbstverständlich heute, in der Pandemie, ein sicherer
       Ausbildungsplatz ist, zeigt die Statistik. [6][Im Jahr 2020 erreichte die
       Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge mit rund 465.200 einen neuen
       Tiefstand.] Auch weil sich viele Betriebe momentan keine Azubis leisten
       können oder wollen. Inwieweit sich die Verdopplung der Ausbildungsprämie,
       die das Bundeskabinett Mitte März beschloss, bemerkbar machen wird, ist
       derzeit noch nicht absehbar.
       
       Lucien ist sich sicher, die richtige Ausbildung gewählt zu haben, denn fürs
       Krankenhaus habe sie sich schon immer interessiert. Allerdings spielte sie
       auch mit dem Gedanken, Köchin zu werden, erzählt sie. „Ich habe den Plan
       aber relativ schnell wieder in den Wind geschossen, weil es eben nicht so
       ein krisensicherer Job ist.“ Bei der Bundeswehr sei man auf jeden Fall
       abgesichert, „ob jetzt Pandemie ist oder sonst was.“
       
       Dass sich junge Menschen in Krisenzeiten für sichere Jobs entscheiden,
       belegt laut Sozialwissenschaftler Alexander Patzina die Forschung. In der
       Pandemie könnte sich die Geschichte wiederholen. Bei einer Befragung von
       Abiturient:innen in Deutschland durch das IAB gab fast jede:r fünfte
       an, dass Corona sie in ihrer Ausbildungs- oder Studiumswahl stark
       beeinflusst habe.
       
       Auch Hamid Haziri, Landesschülervertreter für die thüringischen
       Regelschulen, beobachtet das: „Viele von uns haben Sorge, dass sie ihren
       Wunschberuf nicht ausüben können oder es nicht aufs Gymnasium schaffen,
       weil wir den Stoff aus Klasse 9 und 10 nicht richtig gelernt haben.“ Auch
       bei Hamid sah es im Februar gar nicht gut aus. „Man kann sich vieles selbst
       beibringen, aber nicht alles“ ist sein Resümee nach fast anderthalb Jahren
       Pandemie. Der Zehntklässler darf seit einigen Tagen wieder in den
       Präsenzunterricht und sagt: „Ich bin jetzt richtig am Ackern.“ Hamid möchte
       aufs Gymnasium, studieren, später Ethik- und Philosophielehrer werden.
       
       ## Fatales Signal für den Ruf des Abiturs
       
       Selbst Abiturient:innen, die eine gute Durchschnittsnote erzielen, könnten
       noch von der Pandemie eingeholt werden, warnt der Münchner Bildungsökonom
       Ludger Wößmann: „Ich befürchte, dass einige nicht die
       mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen haben, um ein
       Ingenieurstudium zu packen oder um es sich zuzutrauen.“ An den Unis werde
       man die Lücken beziehungsweise die fehlenden Bewerber:innen sicher
       bemerken. Dann blieben mehrere Möglichkeiten: Die Hochschulen weiten ihre
       Lernangebote vor und neben dem Studium aus – und setzen zusätzlich auf
       Eignungstests für alle Bewerber:innen unabhängig von der Abschlussnote.
       Das aber wäre ein fatales Signal für den Ruf des deutschen Abiturs, so
       Wößmann.
       
       Es ist aber schon Realität. [7][Laut dem Centrum für Hochschulentwicklung
       (CHE) bieten zum kommenden Wintersemester bereits mehr als zwei Drittel
       aller Fachbereiche an deutschen Hochschulen Vor- oder Brückenkurse an], in
       Maschinenbau oder Physik sind es so gut wie alle. Und bei 60 Prozent der
       Studiengänge wird nicht mehr allein die Abiturnote für die Zulassung
       berücksichtigt, es fließen auch persönliche Gespräche, Wissens- oder
       Online-Selbsttests ein. Diese Entwicklung begann zwar schon vor Corona, für
       Studienanfänger:innen sind sie heute jedoch besonders wertvoll,
       meint CHE-Geschäftsführer Frank Ziegele.
       
       Auch Yannick Martens möchte studieren, Biotechnologie in seiner Heimatstadt
       Berlin. Er ist mit dem Abitur eben an der Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule
       fertig geworden und fühlt sich auf das Studium gut vorbereitet, auch dank
       seiner Biologielehrerin. „Sie hat auch in der Pandemie super Unterricht
       gemacht.“ Dass er sich auch ohne enge Betreuung motivieren und Stoff selbst
       erarbeiten kann, hat er in seinen anderen Prüfungsfächern – Englisch,
       Erdkunde, Deutsch – gelernt.
       
       Deshalb findet er es seltsam, dass sein Abi weniger wert sein soll als das
       früherer Jahrgänge. Schließlich hätten sie kein Durchschnittsabitur
       bekommen, sondern alle Prüfungen geschrieben. Einen gewissen Bonus habe es
       zwar schon gegeben: „Wir konnten zwischen mehr Aufgaben wählen, okay.“ Und
       im ersten Lockdown seien sie in den Grundkursen nur mündlich geprüft
       worden, da hätten alle bessere Noten gehabt als sonst. Von den 32
       Halbjahresnoten aus der Oberstufe, die in Berlin in die Abiturnote
       einfließen, fielen ein paar also unerwartet gut aus. „Aber dafür, dass wir
       echt viele Einschränkungen hatten, wurde uns das Abitur nicht geschenkt.“
       
       Wie gut die Prüfungsvorbereitung gelaufen ist, wäre aber reines
       Lotteriespiel gewesen: „Es hing voll vom Lehrer ab.“ Als die Schulen
       geschlossen waren, habe die Biolehrerin beispielsweise nicht nur Aufgaben
       rumgeschickt, sondern Unterricht bei Zoom gehalten und Infos in eine eigene
       Whatsapp-Gruppe gestellt. „In den meisten Fächern haben wir aber über
       Monate nur die Stimme der Lehrkräfte gehört, in Deutsch fand irgendwann gar
       kein Unterricht mehr statt.“ Er schätzt, dass von 90 Mitschüler:innen, die
       mit ihm die Oberstufe begonnen haben, etwa 30 nicht bis zum Abi gekommen
       sind. Für eine Gemeinschaftsschule ist das aber auch ohne Corona nicht
       ungewöhnlich.
       
       Am Montag vor einer Woche hat Yannick seine Noten erfahren, Gesamtschnitt:
       1,8. Das könnte sogar für ein Biotechnologie-Studium an der TU Berlin
       reichen. Vergangenes Semester lag der NC dort bei 1,7. „Wenn nicht, muss
       ich überlegen, was ich mache. Entweder an einer Uni studieren, wo der NC
       niedriger ist, oder die Zeit mit einem Wartesemester überbrücken“, sagt er.
       Eines steht für ihn aber schon fest: „Den langen Sommer will ich erst mal
       genießen.“
       
       13 Jun 2021
       
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