# taz.de -- Gewalteskalation in Ecuador: Ein Land am Abgrund
       
       > In Ecuador explodiert die Gewalt. Präsident Noboa setzt auf das Militär,
       > um den Bandenterror zu bekämpfen. Doch das könnte schiefgehen.
       
 (IMG) Bild: Nach der Geiselnahme durch Banden in einem TV-Studio kam es in ganz Ecuador zu Verhaftungen
       
       Ein bärtiger Mann mit breitkrempigem Hut streichelt versonnen einen
       Kampfhahn und begrüßt im Gefängnishof seine Kumpane. Eine Mariachi-Band
       singt [1][im Videoclip „El Corrido del León“] ein Loblied auf ihn: „Er ist
       der Chef und der Patron“. Seine Tochter himmelt ihn auf einem Pferd sitzend
       an, blickt in die Ferne und singt: „In deinen Adern fließt gutes Blut“.
       
       José Adolfo Macías Villamar, genannt Fito, ist der Chef der Choneros, der
       größten Drogenbande Ecuadors. Er sitzt wegen Raubüberfalls, Drogenhandels
       und Mord 34 Jahre ab.
       
       Der Narcocorrido Clip, veröffentlicht im September 2023, war eine Art
       Werbung für die Choneros, mit knapp 20.000 Mitgliedern die größte von fast
       zwei Dutzend kriminellen Banden, die vor allem die Küste Ecuadors seit ein
       paar Jahren mit einem engmaschigen Netz aus Raub, Erpressung, Drogenverkauf
       und Mord überziehen.
       
       Der Clip war im letzten Herbst aber vor allem eine Kampfansage des
       mächtigen Mafiabosses an die Regierung: Ich tue im Knast, was ich will.
       Auch Filme drehen. Dass die Chefs der Drogenbanden ihre blendenden
       laufenden Geschäfte aus den Gefängnissen steuern, ist allgemein bekannt.
       
       Fito ist eine Schlüsselfigur in der spektakulären [2][Gewalteskalation, die
       das Land seit zwei Wochen erschüttert]. Die Banden haben mit Autobomben,
       der Geiselnahme von 200 Gefängniswärtern und Polizisten, [3][der Erstürmung
       eines TV-Studios] und Schießereien auf offener Straße in der Hafenstadt
       Guayaquil bürgerkriegsähnliche Zustände hergestellt. Das Ziel: Zeigen, dass
       sie das Sagen haben.
       
       ## Präsident Noboa hat den Banden den Krieg erklärt
       
       Ein Grund dafür war die geplante Verlegung von Fito in das
       Hochsicherheitsgefängnis La Roca, in dem es schwieriger wäre, Werbeclips zu
       drehen. Doch die Soldaten, die den Mafioso nach La Roca bringen sollten,
       fanden Anfang Januar im Knast in Guayaquil nur eine leere Zelle vor.
       
       Jetzt gibt es viele offene Fragen: Wann hat Fito das Gefängnis verlassen?
       Gerüchten zufolge schon Weihnachten. Warum hielt niemand es für nötig, der
       Regierung mitzuteilen, dass der Staatsfeind Nummer eins geflohen war? Woher
       wusste der Drogenboss, was ihm drohte? Laut „New York Times“ kam der Tipp
       aus der Regierung von Präsident Noboa – ein Hinweis, dass die Frontverläufe
       bei diesem blutigen Kampf komplizierter sind als „Staat gegen Mafia“.
       
       [4][Der junge Präsident Daniel Noboa], Sohn einer der reichsten Familien
       des Landes und erst ein paar Monate im Amt, hat den Banden den Krieg
       erklärt. Nicht metaphorisch, sondern real. Die 22 Banden, die an die 50.000
       Mitglieder haben, werden nun vom Militär bekämpft, das über 35.000 Soldaten
       verfügt. Für Bandenmitglieder gilt nicht mehr ecuadorianisches Recht, sie
       werden wie Gegner in einem Bürgerkrieg behandelt. Nach den Geiselnahmen,
       Gewaltausbrüchen und Fitos Flucht gab es fast 2000 Verhaftungen.
       
       Ecuador war lange ein recht stabiles Land ohne ausgeprägte Gewaltkultur.
       Wohl noch nie hat sich ein leidlich intaktes Gemeinwesen so schnell
       (jedenfalls in manchen Küstenregionen) in einen failed state verwandelt. In
       manchen Orten, wie der Großstadt Durán, haben die kriminellen Banden die
       Herrschaft übernommen. Die Polizei ist verschwunden. Schulunterricht gibt
       es in Durán nur noch online. Der Bürgermeister regiert aus dem Untergrund.
       
       2016 lag die Mordrate in Ecuador ungefähr auf dem Niveau der EU. Heute ist
       sie fast zehnmal so hoch, doppelt so hoch wie in Mexiko. Auch jenseits der
       kriminellen Hotspots an der Küste müssen manche Schulen, Unternehmer und
       Cafés Schutzgeld an Banden bezahlen. Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr
       in Schule – aus der begründeten Furcht, dass sie auf dem Schulhof von
       Narcos angeworben werden. Vor fünf Jahren war all das noch kaum
       vorstellbar.
       
       ## Der ecuadorianische Staat wurde kaputtgespart
       
       Warum diese Gewaltexplosion? Warum jetzt? Es gibt drei Gründe, die alle in
       die gleiche Richtung wirken. Nur alle zusammen erklären Wucht und Tempo
       dieses Verfallsprozesses. Eine tektonische Veränderung im globalen
       Drogenbusiness. Ein absurder, neoliberaler Rückzug des Staates. Und die
       Spätfolgen von Corona und Lockdowns.
       
       Die ökonomische Lage nach der Pandemie ist übel. Das Pro-Kopf-Einkommen ist
       niedriger als vor Corona. Nur ein Drittel der BürgerInnen hat einen
       regulären Job – vor 2020 waren es noch 40 Prozent. Laut Präsident Noboa
       haben zwei Millionen junge Ecuadorianer keinen Job – sie sind das Reservoir
       für die Narco-Gangs.
       
       Zweitens: Der ohnehin fragile Staat ist in den letzten sechs, sieben Jahren
       mit einem radikalen Sparkurs ruiniert worden. Ein geradezu bizarres
       Zerstörungswerk geht auf das Konto von Guillermo Lasso, der 2023 wegen
       Korruptionsvorwürfen als Präsident zurücktreten musste. Polizisten bekamen
       monatelang kein Gehalt. Das Justizministerium wurde bereits 2018
       abgeschafft. Mehr Geld für die Gefängnisse, in denen hunderte von Morden
       geschahen und die teilweise von Banden regiert wurden? Fehlanzeige. Ende
       2023 war – mitten in einer beispiellosen Welle krimineller Gewalt – erst
       ein knappes Drittel des ohnehin gekürzten Etats für Sicherheit ausgegeben.
       
       Last but not least ist Ecuador in den letzten Jahren zu einem zentralen
       Schauplatz von Drogenexporten geworden. Die Cocapflanzen werden in Peru,
       Kolumbien und Bolivien angebaut, teilweise in Ecuador verarbeitet und über
       Guayaquil, mittlerweile einer der wichtigsten Kokain-Exporthäfen der Welt,
       verschifft – vor allem über Antwerpen und Hamburg nach Europa. Die
       ecuadorianischen Banden organisieren den Transport.
       
       Die Choneros sind eine Art Subunternehmen des global agierenden
       mexikanischen Sinaloa-Kartells, andere Gruppen arbeiten mit der
       italienischen Ndrangheta, der albanischen Mafia oder anderen mexikanischen
       Kartellen zusammen. Der Umsatz der heimischen Mafia ist übersichtlich: 120
       Millionen Dollar im Jahr. Das große Business, mehr als drei Milliarden
       Dollar, ist die Geldwäsche. Ecuador ist dafür attraktiv, weil der Dollar
       die Landeswährung ist. Die großen Kartelle sind längst Teil der legalen
       Wirtschaft in Ecuador geworden.
       
       ## Mit Militär gegen Banden – Geht das gut?
       
       Die aktuelle extreme Brutalität spiegelt, so der ecuadorianische Experte
       für Drogengewalt Fernando Carrión, Umbrüche im globalen Drogenhandel wider.
       Lokale Handlanger wie die Choneros „werden nicht mehr mit Dollar bezahlt,
       sondern mit Kokain“. Deshalb erschließen sie lokale Märkte für Kokain.
       Dafür müssen sie sich besser organisieren und wachsen. Das führt zu
       Rivalitäten mit anderen Gangs, Schießereien, Exekutionen – und erklärt den
       sprunghaften Anstieg der Mordrate.
       
       Ein abwesender Staat, brutale Mafia-Revierkämpfe, eine depressive
       wirtschaftliche Lage – wen wundert, dass das eine toxische Mixtur ergibt?
       
       [5][Das Militär zu mobilisieren] war vielleicht die einzige Möglichkeit
       wieder so etwas wie staatliche Autorität herzustellen. Die Opposition
       applaudierte dem 36-jährigen Noboa. Passanten jubelten, als Soldaten
       Jugend-Gangs verhafteten. Das Militär ist in der Tat weniger verfilzt mit
       den Drogenbanden als die Polizei. Spricht also nicht alles dafür, das
       Militär strategisch gegen Narco-Banden einzusetzen?
       
       Genau das wurde in Mexiko vor 15 Jahren mit Unterstützung der USA getan –
       mit grauenhaften Folgen. Die Militarisierung des Kampfs gegen die Narcos
       bedeutete: Aufrüstung auf beiden Seiten. In Mexico setzten die
       finanzstarken Kartelle Landminen ein und bauten sogar Panzer. Die Zahl der
       zivilen Toten in diesem „Krieg gegen die Drogen“ schnellte sprunghaft nach
       oben. Seit 2006 sind weit mehr als 300.000 Menschen in diesem Konflikt
       gestorben. Die Geschäft der Kartelle florieren noch immer.
       
       ## Der Terror geht weiter
       
       Außerdem ist die Vorstellung, dass die Militärs Recht und Ordnung gegen die
       böse Mafia wiederherstellen, etwas schlicht. Einer der Erfinder des „Kriegs
       gegen die Drogen“, der frühere mexikanische Sicherheitsminister [6][Genaro
       García Luna, wurde 2023 in den USA verurteilt]. Er hatte auf der
       Gehaltsliste des Sinaloa-Kartells Million Dollar kassiert und
       hingebungsvoll die Konkurrenz des Kartells bekämpft.
       
       Gegen die wuchernde organisierte Gewalt hilft keine Militarisierung,
       sondern eine Kombination von intakter Polizei, harten Urteilen, Gemeinsinn
       und einem starken (Sozial-)Staat. Mit dem Staatsvertrauen steht es
       allerdings nicht zum Besten. Noboa hat als Präsident als erstes ein Gesetz
       im Parlament eingereicht, das 90 Millionen Dollar Steuerschulden seines
       Familienclans wundersamerweise in Luft auflöst hätte. Die Opposition
       stoppte den Versuch im letzten Moment. Wenn der Präsident den Staat als
       Selbstbedienungsladen nutzt – warum sollen die Bürger dem Staat dann
       trauen?
       
       Und nun? Immerhin haben die Choneros, Los Lobos und die anderen Gangs
       bislang nicht wie befürchtet mit Autobomben und noch mehr Terror auf Noboas
       Militärkurs geantwortet. Das aber, so Kriminalitätsexperte Fernando
       Carrión, sei „kein Waffenstillstand, sondern nur eine Pause“. Am Mittwoch
       wurde der Staatsanwalt, der den Überfall auf den TV-Sender bearbeitete, in
       Guayaquil [7][in seinem Auto hingerichtet]. Der Terror geht weiter.
       
       Karin Gabbert ist Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito.
       
       19 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=vg98ylLkPp8
 (DIR) [2] /Ausnahmezustand-in-Ecuador/!5982436
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 (DIR) [4] /Wahlergebnis-in-Ecuador/!5966469
 (DIR) [5] /Bandenkrieg-in-Ecuador/!5982555
 (DIR) [6] /Drogenkrieg-in-den-USA/!5911711
 (DIR) [7] /Gewalteskalation-in-Ecuador/!5986507
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
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