# taz.de -- Gewerkschafterin über Bildungschancen: „Viele Kinder leiden psychisch“
       
       > Der Fokus muss auf Kindern liegen, die von Schulschließungen besonders
       > benachteiligt sind, fordert Ilka Hoffmann. Lehramtsstudierende könnten
       > helfen.
       
 (IMG) Bild: Gehört wohl noch eine Weile zum Familienalltag: Homeschooling
       
       taz: Frau Hoffmann, immer wieder wurde in den letzten Wochen und Monaten
       argumentiert, dass die Schulen geöffnet bleiben sollen, um
       Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Was ist da dran? 
       
       Ilka Hoffmann: Man muss ganz klar sagen: Das suggeriert, dass es vor Corona
       eine Bildungsgerechtigkeit gegeben hätte. Aber wir wissen aus vielen
       nationalen und internationalen Studien, dass der Bildungserfolg in
       Deutschland stark [1][an das Einkommen der Eltern und den sozialen
       Hintergrund gekoppelt] ist. Jetzt so zu tun, als ob erst durch den Lockdown
       Bildungsungerechtigkeit entstanden wäre, vermittelt ein völlig falsches
       Bild.
       
       Haben die Schulschließungen Bildungsungerechtigkeit dennoch verschlimmert? 
       
       Die eklatanten Probleme, die ein gegliedertes Bildungssystem hat, [2][haben
       sich im Lockdown verschärft]. Soziale Probleme wirken sich beim
       Fernunterricht noch stärker auf die Bildungsbiografie der Kinder aus – wenn
       sie beispielsweise den einzigen Berührungspunkt mit Lernen und
       Schriftsprache in der Schule haben und nun davon abgeschnitten sind. Ein
       weiteres Problem ist, dass Armut, enge Wohnverhältnisse und Gewalt in der
       Familie noch mehr durchschlagen.
       
       Die Kultusminister*innen wurden zuletzt vielfach für ihre Schulpolitik
       kritisiert. Was erwarten Sie von ihnen nach den neuen
       Bund-Länder-Beschlüssen? 
       
       Wir wünschen uns klare Leitlinien, die dann regional und schulisch
       angepasst werden können, sowie ein Monitoring des Infektionsgeschehens in
       Schulen. Eine gute Abwägung zwischen Bildungsrecht und Gesundheitsschutz
       ist notwendig. Das heißt, dass ab einem Inzidenzwert von 50
       Wechselunterricht angeboten, bei hohen Infektionszahlen auf Fernunterricht
       umgestellt werden sollte. Aber die gesamte Gesellschaft, auch die
       Unternehmen, sind gefragt, Familien in der Betreuungsfrage zu unterstützen.
       Die Verantwortung kann nicht wie bisher allein auf die
       Bildungseinrichtungen abgewälzt werden.
       
       Mit welchen konkreten Maßnahmen können Schüler*innen in schwierigen
       Situationen jetzt unterstützt werden? 
       
       Der Fokus darf jetzt nicht auf der Einhaltung von Lehrplänen und dem Prüfen
       von Leistungen liegen. Er muss auf den Kindern liegen, die tatsächlich
       besonders stark von Schulschließungen benachteiligt werden: Das sind die
       jüngeren Kinder und diejenigen, die zu Hause nicht lernen können. Der
       Wechselunterricht, bei dem jeweils kleinere Gruppen unterrichtet werden,
       bietet die Möglichkeit, mehr auf die einzelnen Bedürfnisse und Probleme
       einzugehen. Für Kinder, die noch im Erwerb der Zweitsprache Deutsch stecken
       oder zu Hause Gewalt und Vernachlässigung ausgesetzt sind, müssen
       zusätzliche Angebote geschaffen werden. Hier könnten beispielsweise
       Lehramtsstudierende zum Einsatz kommen, die einzelne Kinder und Jugendliche
       oder kleine Gruppen beim Lernen unterstützen. Dies sollte auf die
       Studienleistung angerechnet und auch honoriert werden.
       
       Was ist in der Unterrichtsgestaltung wichtig, um möglichst wenige Kinder
       abzuhängen? 
       
       Wichtig ist eine gute Verzahnung von Präsenz- und Fernphasen. Der
       Präsenzunterricht dient der Vor- und Nacharbeitung der Fernlernphasen. Es
       muss auch über das Lernen reflektiert werden: Was hast du gemacht? Warum
       hat das geklappt und warum nicht? Das ist sehr arbeitsintensiv, aber
       hilfreich.
       
       Und wenn kein Präsenzunterricht mehr stattfindet? 
       
       Dann ist der persönliche Kontakt zentral: Es muss feste Zeiten und Wege
       geben, um einen Kontakt zur Lehrperson oder zu anderen Schüler*innen
       aufrechtzuerhalten. Und wenn Probleme auftreten, muss es auch die
       Möglichkeit geben, mit Schulsozialarbeiter*innen zu sprechen.
       
       Welche Rolle können Schulsozialarbeiter*innen spielen? 
       
       Sie sind extrem wichtig, weil sie einen lebensweltbezogenen Ansatz haben,
       während die Schulpädagogik eher auf die formale Bildung abzielt.
       Schulpädagogik und Sozialpädagogik können sich sehr gut ergänzen. Aber nur,
       wenn die Schulsozialarbeit ausreichend ausgestattet, institutionell in der
       Schulleitung verankert und damit ein fester Teil jeder Schule ist. Es muss
       also feste tariflich gesicherte Anstellungsverhältnisse und feste
       Zuordnungen zu einer Schule geben.
       
       Was können Schulsozialarbeiter*innen gerade ganz praktisch für die Kinder
       tun? 
       
       Wir haben beobachtet, dass viele Kinder psychisch extrem unter der Pandemie
       leiden – beispielsweise, wenn die Eltern Existenzsorgen haben. Da kommen
       Schulsozialarbeiter*innen ins Spiel. Sie können den Kindern ein
       pädagogisches Angebot machen oder sie beraten, ohne dass dies im
       Zusammenhang mit einer Leistungsbewertung steht.
       
       Sie waren viele Jahre Sonderschullehrerin. Wie gut sind Schulen auf Kinder
       mit besonderem Förderbedarf vorbereitet? 
       
       Ich habe zum Beispiel beraten, wenn Kinder in gewalttätigen Familien
       aufwuchsen, selbst gewalttätig wurden und den Unterricht störten, und muss
       sagen: Viele Schulen sind überfordert. In manchen Bundesländern wie Bremen,
       Hamburg, Berlin und einzelnen Städten gibt es Beratungs- und
       Unterstützungsangebote, die Jugendhilfe und Schule verknüpfen. Diese
       könnten allerdings personell besser ausgestattet sein. In vielen Fällen
       geht der Weg aber auch in die Ausschulung oder in die Jugendpsychiatrie.
       Wir haben leider kein flächendeckendes, gut ausgestattetes präventives
       System etabliert, das sofort greift, wenn Kinder auffallen. Das gibt es nur
       vereinzelt.
       
       Haben die Lehrer*innen Zugang zu diesen Kindern? 
       
       Zu Beginn der 2000er rückte man die Effizienzsteigerung des Bildungswesens
       in den Mittelpunkt. Seitdem ist die Betrachtung von sozialen Problemen
       sowie ein emanzipatorischer Ansatz von Erziehungswissenschaft etwas
       verblasst. Hinzu kommt, dass die Lehrer*innen immer weiter von der
       Lebensrealität vieler Schüler*innen weg sind: Früher war Grund- und
       Hauptschullehrer*in ein Aufstiegsberuf. Den ergriffen Leute, die aus der
       Arbeiterklasse oder dem Bauernmilieu kamen und als Erste in ihrer Familie
       Abitur machten und studierten. Heute kommen viele Lehrer*innen selbst aus
       der Bildungsschicht. Das ist ja erst mal nicht schlecht, aber die Distanz
       zu Familien, die Existenzsorgen, keinen Klavierunterricht oder gute
       Lebensverhältnisse haben, ist größer geworden. Man muss sich diesen Kontakt
       und dieses Verständnis erarbeiten, eine gemeinsame Sprache finden. Dies
       spielt leider in der Ausbildung kaum eine Rolle. Ich wünsche mir, dass wir
       aus Corona lernen, welche extremen sozialen Probleme wir in diesem Land
       haben und unter welch schwierigen Bedingungen manche Kinder aufwachsen.
       
       Wenn es nach Corona nicht so weitergehen kann wie zuvor – wie sieht dann
       Pandemienachsorge aus? 
       
       Man muss schauen, dass man den Kindern und Lehrkräften Zeit gibt.
       Weiterzumachen mit Stoffdruck und Klassenarbeiten, das wird nicht gehen.
       Und längerfristig muss man die Karten auf den Tisch legen und fragen: Was
       braucht eine Schule langfristig an Personal, Unterrichtsformen,
       Ausstattung, Fortbildung, Schulentwicklung? Zu solchen sozialen
       Verwerfungen darf es nicht wieder kommen.
       
       6 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Internationale-Grundschulstudie-Timss/!5730712
 (DIR) [2] /Forscher-ueber-Bildungsungerechtigkeit/!5730724
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Franziska Schindler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Gewerkschaft GEW
 (DIR) Chancengleichheit
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Grundschule
 (DIR) Förderschule
 (DIR) Depression
 (DIR) Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF)
 (DIR) Bildungssystem
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Lockdown
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Homeschooling
 (DIR) Islamismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Woche der seelischen Gesundheit: Kinder brauchen bessere Hilfe
       
       Mehr Gruppentherapien und frühzeitige Medikamente verbessern die
       Versorgung, so Christine Freitag von der Gesellschaft für Kinder- und
       Jugendpsychiatrie.
       
 (DIR) Flüchtlingskinder im Homeschooling: Digitales Lernen ausgeschlossen
       
       Homeschooling ist für Flüchtlingskinder besonders hart: Nur wenige haben
       Computerzugang, viele Heime noch immer kein oder zu schwaches Internet.
       
 (DIR) Bildung und Pandemie: Illusion Präsenzunterricht
       
       Die Schulen werden mehr digital unterrichten, als ihnen lieb ist. Auch wenn
       das vielerorts nicht gut klappt: Bund und Länder bessern endlich nach.
       
 (DIR) Weiteres Vorgehen an den Schulen: Löcher im Lockdown
       
       Während Bund und Länder den Schul-Lockdown beschlossen haben, mehrt sich
       die Kritik an den Schulschließungen und die Ausnahmen nehmen zu.
       
 (DIR) Schulöffnungen im Lockdown: Grundschulen müssen Priorität haben
       
       Die Schulen öffnen ab kommenden Montag in Berlin schrittweise. Das ist
       richtig – aber in der Umsetzung nicht konsequent.
       
 (DIR) Homeschooling mit Homeoffice: Wie lang dauert keine Ahnung?
       
       Die Kinder sind zuhause, die Erwachsenen sind zuhause, alle sollen arbeiten
       und die Nerven liegen blank. Ein Erfahrungsbericht.
       
 (DIR) Schulöffnungen im Lockdown: Grundschulen früher offen?
       
       In Berlin könnten die Grundschulen schon ab kommenden Montag wieder
       Unterricht in halbierter Klassenstärke anbieten.
       
 (DIR) Schulschließung aus Sicht einer Mutter: Im Kopierkrieg
       
       Homeschooling statt hingehen – klingt gut. Doch leider befindet sich die
       normale (Grund-)Schule noch im Zeitalter von Kreide, Tafel und Papier.
       
 (DIR) Autorin über Schulreform: „Unser System stärkt Ungleichheit“
       
       Melisa Erkurt über ein Bildungssystem, das Aufstieg verhindert – und warum
       die Schule der einzige Ort ist, an dem sich Islamismus bekämpfen lässt.