# taz.de -- Grüne in Bayern: Die Stadt-Land-Kluft
       
       > In Städten sind die Grünen erfolgreich, auf dem Land immer weniger. Das
       > zeigt sich besonders in Bayern. Die dortige neue Grünenchefin will das
       > ändern.
       
       LENGGRIES, MIESBACH, MÜNCHEN, SONDERMONING UND TÜRKENFELD taz | Katharina
       Schulze hört zu. Man kann das durchaus mal erwähnen, denn immer wieder wird
       der Fraktionschefin der Grünen im bayerischen Landtag ja vorgehalten, dass
       sie dies so gar nicht könne. Zuletzt beim Starkbieranstich am Nockherberg.
       Da hat ihr [1][Maxi Schafroth in seiner Fastenpredigt] noch erklärt: „Am
       Land punktet man mit Zuhören, Katha, schreib mit!“ Und zur Sicherheit noch
       hinzugefügt: „Zuhören ist das Gegenteil von Reden.“ Das Gelächter im Saal
       war groß. Wer mit dem bayerischen Politpersonal nicht ganz so vertraut ist,
       muss dazu vielleicht wissen, dass, wenn Schulze ansetzt zu reden, schon so
       mancher Wasserfall neidisch werden kann.
       
       Jetzt sitzt Schulze also hier in Miesbach beim Bräuwirt und – hört zu. Sie
       hat ihren eigenen Steinkrug dabei. Darauf: ihr Konterfei und der Schriftzug
       „Schulzes Stammtisch“. Darin natürlich ihr Erkennungsgetränk: Spezi.
       „Schulzes Stammtisch“ ist ein neues Format der Grünen, das in Miesbach an
       diesem Donnerstagabend Premiere feiert. Das Ziel ist es, die Grünen wieder
       verstärkt mit dem Land ins Gespräch zu bringen. Zwei Welten, die sich
       zunehmend voneinander entfernt haben – wie zuletzt bei den heftigen
       Konfrontationen zwischen Landwirten und grünen Bundesministern deutlich
       wurde.
       
       Bei der Landtagswahl im Oktober hat man es gesehen: In München-Mitte haben
       die Grünen 44,1 Prozent geholt, keine Verluste gegenüber 2018. Weit hinten
       im Bayerischen Wald, im Stimmkreis Regen, Freyung-Grafenau, waren es gerade
       noch 4,3 Prozent – kaum mehr als die Hälfte des Ergebnisses von 2018.
       
       Rund 70 Gäste sind zum Bräuwirt gekommen und gut gelaunt. Schulze, rotes
       Kleid, offenes Lachen und immer mal wieder die Hand auf dem Herz, stellt
       sich noch kurz in die Mitte der Stube. „Bei eich is einfach schee“, sagt
       sie. Und erklärt: Sie wolle nicht drei Stunden lang die Welt erklären,
       sondern werde jetzt von Tisch zu Tisch gehen. „Und dann reden wir einfach
       miteinander.“ Eine Frau, die sich gerade das Ragout vom Schweineherz
       bestellt hat, seufzt: „Und ich dachte, ich komm hierher und lass mich
       berieseln.“
       
       Dann geht es von Tisch zu Tisch und um Tiktok, die Anbindehaltung von
       Tieren, Rechtsextremismus und den ganzen Rest. „Habt ihr keine Psychologen,
       die euch beraten, wie man Inhalte vermittelt“, fragt einer. „Unsere
       Kommunikation ist nicht immer glücklich“, gesteht Schulze ein. Die
       38-Jährige hat sich einen großen Teller Pommes bestellt. Sie bietet allen
       Umsitzenden an, sich zu bedienen, was sich freilich keiner traut.
       
       Ein junger Besitzer eines kleinen Sägewerks erzählt ihr von seinen
       Problemen mit der überbordenden Bürokratie. Eine Mitarbeiterin Schulzes
       geht dazwischen: „Ich muss die Frau Schulze jetzt leider entführen, wir
       müssen an den nächsten Tisch.“ Die Politikerin schreibt noch schnell ihre
       E-Mail-Adresse auf ein Bierfilzl, bittet den Mann: „Schick mir dein
       Problem!“ Sie könne nichts versprechen, werde es aber weitertragen.
       
       Acht Minuten pro Tisch sind nicht viel. Das Feedback nach dem
       anderthalbstündigen Besuch in Miesbach ist dennoch überwiegend positiv.
       „Wir wurden gehört“, sagt der Sägewerksbesitzer.
       
       Dass Schulze, die nach der Wahl den alleinigen Fraktionsvorsitz übernommen
       hat, nun ein solches Format startet, kommt nicht von ungefähr. Wie haltet
       ihr’s mit dem Land, lautet derzeit die grüne Gretchenfrage, und sie scheint
       einen wunden Punkt zu treffen: In internen Chats würden bereits Warnungen
       verbreitet, dass die taz zu dem Thema recherchiere, erzählen Mitglieder
       dieser Chats. Wohlgemerkt: Es geht hier um keine schwarzen Kassen, keine
       Sexorgien, keine Jugendsünden des Spitzenpersonals. Gut, ans Eingemachte
       geht es schon. Letztlich nämlich um die Frage, ob die Grünen noch das Zeug
       zur Volkspartei haben, als die sie sich in den letzten Jahren bereits
       wähnten.
       
       Dabei ist das Problem nicht unbedingt ein bayerisches, erklärt Martin
       Gross, Politikwissenschaftler an der Münchner
       Ludwig-Maximilians-Universität. Diese sich vergrößernde Kluft zwischen
       Stadt und Land könne man in allen deutschen Flächenländern feststellen. Die
       Situation in Bayern steht also Pars pro Toto für die Bundesrepublik.
       
       Woran liegt es, dass die Grünen auf dem Land keinen Fuß mehr auf den Boden
       bekommen? Fragt man Thomas Gehring, bis zum Herbst selbst noch für die
       Grünen im Landtag, sagt er: „Die Berliner Politik trifft die Lebensrealität
       auf dem ländlichen Raum oft nicht mehr.“ Das ursprünglich im Heizungsgesetz
       seines Parteifreundes Robert Habeck geplante Verbot von Holzheizungen hat
       Gehring beispielsweise sehr geärgert. „Das hätte man im Allgäu niemals
       vermitteln können. Hier sind ein Drittel der Leute selbst Waldbesitzer.“
       
       Gehring kommt aus dem Oberallgäu. Bei der Wahl waren es die Verluste auf
       dem Land, die letztlich dafür sorgten, dass er den Wiedereinzug ins
       Parlament knapp verpasst hat. „Wir hätten uns früher von der Bundespolitik
       absetzen müssen“, sagt Gehring jetzt.
       
       Andere Grünen-Politiker auf dem Lande, die lieber nicht namentlich genannt
       werden wollen, sind weniger höflich. „Wir haben einfach eine
       Scheißregierung“, heißt es da etwa mit Blick auf die Ampel. Aber auch die
       eigenen Leute auf Landesebene werden nicht immer aus der Verantwortung für
       das Wahlergebnis entlassen: Das bayerische Spitzenpersonal funktioniere im
       ländlichen Raum einfach nicht, sagt eine grüne Kommunalpolitikerin. „Die
       haben nicht das Format.“
       
       Das könnte auch mit einer thematischen Kluft zu tun haben, die sich
       ebenfalls durch die grüne Welt zieht. So sind die Grünen wie auch ihre
       Wähler auf dem Land in der Regel deutlich wertkonservativer als in der
       Stadt. Zum Beispiel Claudius Rafflenbeul-Schaub: „Ich bin bei den Grünen in
       erster Linie wegen Umweltpolitik beigetreten“, sagt der 47-Jährige aus dem
       Ortsverband Tegernseer Tal. „Aber wenn man sich jetzt die Entwicklung in
       den Städten anschaut, da geht es in unserer Partei oft mehr um
       Identitätspolitik und Kulturkämpfe als ums Klima oder bezahlbare Wohnungen.
       Das sehe ich kritisch. Und ich glaube, dadurch verprellen wir auch Wähler.“
       
       Ähnlich empfindet das auch Wolfgang Rzehak aus demselben Ortsverband.
       [2][Von 2014 bis 2020 war er Landrat in Miesbach], der erste grüne Landrat
       in Deutschland überhaupt. „Man gewinnt die Wahlen in der Stadt, aber
       verlieren tut man’s auf dem Land“, warnt er. In den letzten zehn bis
       zwanzig Jahren hätten die Grünen in Bayern sehr viel erreicht, auch auf dem
       Land. „Einiges davon ist jetzt kaputtgegangen.“
       
       In der Tat hat die Partei in den letzten fünf Jahren eine erstaunliche
       Entwicklung gemacht: Die Mitgliederzahl hat sich fast verdoppelt, auf
       aktuell knapp 22.000. Von den 551 Ortsverbänden gab es 229 bei der
       Landtagswahl 2018 noch gar nicht. Auch derzeit kommen allen Anfeindungen
       zum Trotz ständig neue Mitglieder dazu – auch auf dem Land. Die
       Ausgangslage, um dort Gesicht zu zeigen, wäre also gar nicht so übel.
       
       Die neue Hoffnung der bayerischen Grünen liegt nun auf Sondermoning. Oder
       sitzt vielmehr dort in der Stube an dem großen Esstisch. [3][Gisela Sengl]
       heißt sie, ist Biobäurin, bewirtschaftet in dem kleinen Dorf im Chiemgau
       mit ihrem Mann einen Hof. Nicht besonders groß. Zehn Hektar, weitere zehn
       haben sie dazu gepachtet.
       
       Unten im ehemaligen Stall ist der Bioladen untergebracht. Hier gibt es
       nicht nur das hofeigene Obst und Gemüse, sondern Vollsortiment. Seit 27.
       Januar ist Sengl Chefin der bayerischen Grünen. Nachdem sie in einer
       Kampfabstimmung auf dem Parteitag in Lindau zunächst gegen die bisherige
       Landesvorsitzende Eva Lettenbauer knapp unterlegen war, [4][hatte sie sich
       in einer zweiten gegen Lettenbauers bisherigen Co-Vorsitzenden Thomas von
       Sarnowski durchgesetzt]. Die 63-Jährige hatte sich klar als eine
       Alternative vom und fürs Land präsentiert.
       
       „Ich glaub’, dass Gisela Sengl der Partei total gut tut“, sagt [5][Mia
       Goller], Landtagsabgeordnete aus Niederbayern. Und ihr Kollege [6][Johannes
       Becher], inzwischen Katharina Schulzes Stellvertreter, spricht von einer
       „ganz starken Kandidatin, die die Menschen mitnimmt“. Äußerungen, die
       interessant sind, schließlich war man in der Fraktion gegen Sengl. Vor
       allem Schulze hatte sich öffentlich für das bisherige Duo
       Lettenbauer-Sarnowski ausgesprochen. Einzig Schulzes früherer
       Co-Vorsitzender Ludwig Hartmann plädierte für Sengl.
       
       Man habe in Lindau schon eine gewisse Spaltung zwischen Stadt und Land
       feststellen können, erzählt Thomas Gehring. Während die einen, die aus der
       Stadt, eher dafür plädiert hätten, weiter wie bisher zu machen, hätten sich
       die anderen stärkere Konsequenzen aus dem Wahlergebnis gewünscht.
       
       ## „Raus aus unserer grünen Blase“
       
       Das Lettenbauer-Sarnowski-Lager hatte sich noch massiv ins Zeug gelegt,
       Delegierte abtelefoniert und zur Wahl der bisherigen Parteichefs, zwei
       engen Schulze-Vertrauten, bewegen wollen. Eine Bundestagsabgeordnete soll
       besonders häufig zum Telefon gegriffen haben. Am Ende wurde es dennoch
       Sengl. „Da hat die Partei die Bremse reingehauen“, sagt Rzehak.
       
       Sengl ist nicht irgendwer in der Partei. Zehn Jahre lang saß sie im
       Landtag, sie kennt den Politikbetrieb. Dass sie nicht mehr im Parlament
       sitzt, hat auch sie den Verlusten auf dem Land zu verdanken – und dem
       Umstand, dass sie es versäumt hat, auf den Wahlzettel die bei Wählern
       beliebte Berufsbezeichnung „Biobäurin“ schreiben zu lassen.
       
       Dabei kennt sie nicht nur das Landleben. Aufgewachsen ist Sengl in München,
       der Vater war Siemensianer. Aber schon als junge Erwachsene hat es sie dann
       aufs Land verschlagen. „Wir müssen raus aus dem Landtag, raus aus unserer
       grünen Blase“, sagt die Parteichefin jetzt. Heißt natürlich auch: raus aufs
       Land. Sie selbst möchte vor allem in die Partei hineinwirken. Lettenbauer
       und sie wollen nun alle 91 Kreisverbände besuchen, Präsenz und
       Wertschätzung zeigen.
       
       Insgesamt aber gehe es den bayerischen Grünen sehr gut, sagt Sengl. Das ist
       überhaupt der Tenor, wenn man sich in Parteizentrale und Fraktion umhört.
       Alles in Butter. An der Wahlniederlage seien Berlin und die Populisten von
       CSU und Freien Wählern schuld. Und überhaupt: Im Vergleich zu SPD und FDP
       habe man ja noch immer ganz gut abgeschnitten: 14,4 Prozent. 3,2
       Prozentpunkte weniger zwar als 2018, aber immer noch das zweitbeste
       Ergebnis in der Parteigeschichte. Klingt ja nicht schlecht.
       
       Doch unter der Zuckerglasur gibt es derzeit viel Unmut in der Partei,
       zumindest auf dem Land. Vieles davon hat direkt mit dem Stadt-Land-Gefälle
       zu tun, manches indirekt. So bemängeln viele die mangelnde Präsenz der
       ländlichen Grünen im Parlament. „Wie sollen die Ideen vom Land in den
       Landtag kommen, wenn dort keine Leute vom Land sitzen“, fragt ein
       oberbayerischer Kommunalpolitiker. Tatsächlich standen auf der wichtigsten
       Liste bei der Landtagswahl, der des Wahlkreises Oberbayern, unter den
       ersten 14 nur drei Kandidaten aus einem Stimmkreis, der nicht mit der
       Münchner S-Bahn zu erreichen ist. Und von denen hat es nur einer in den
       Landtag geschafft.
       
       Bei den Aufstellungsversammlungen laufe das auch nicht mehr wie früher,
       schimpft einer, der schon öfter dabei war. Die Kandidatenkür sei ein
       einziges Gemauschel. Alles werde schon vorab in Whatsapp-Gruppen
       ausgehandelt – zugunsten der Städter.
       
       Immer wieder enden die Klagen dann bei der Grünen Jugend. Personen, die
       Macht hätten in der Partei, seien überwiegend typische städtisch geprägte
       „Parteikader“. Auch Schulze und ihre Entourage seien größtenteils in der
       Grünen Jugend sozialisiert worden. Diese, so die Kritikerinnen und
       Kritiker, sei ein gut organisiertes Karrierenetzwerk – sehr weit weg von
       der Praxis, aber unglaublich engagiert. „Früher ging’s um Themen, jetzt
       geht’s um Netzwerke“, ist ein Satz, den man in unterschiedlichen
       Formulierungen immer wieder zu hören bekommt.
       
       Auch Nikolaus Hanus aus Lenggries ist nicht glücklich über die Dominanz der
       Grünen Jugend und will den Wählern ein breiteres personelles Angebot
       machen. Aber dann müssten sich eben auch die Grünen auf dem Land und die
       älteren Parteimitglieder besser vernetzen, fordert der 50-jährige
       Schreinermeister, der bei der Landtagswahl ebenfalls angetreten ist – wenn
       auch ohne reelle Chance. Dann müsse man halt auch mal sein Wochenende
       opfern und als Delegierter zum Parteitag fahren und nicht immer nur die
       Jungen vorschicken.
       
       ## Über den Supermarkt zur Partei
       
       Und damit zu Sabeeka Gangjee-Well und Hans Well nach Türkenfeld, in den
       Westen Münchens. Ein anderer Holztisch in einem anderen Bauernhaus. Nur:
       Dieses ist ein bisschen älter. Rund 400 Jahre alt. Entsprechend tief die
       Decken, klein die Fenster. Aber vorne raus kann man auf den Ammersee
       blicken. Das Haus hat Hans Well seinerzeit selbst hergerichtet, ein Hobby
       von ihm. Sabeeka Gangjee-Well ist Sprecherin des hiesigen
       Grünen-Ortsverbands, Gemeinderätin und Dritte Bürgermeisterin. Ihr Mann ist
       vor allem bekannt als einer der drei Brüder der Biermösl Blosn, der Musik-
       und Kabarettgruppe, die nicht nur in Bayern Kultstatus hatte und bis 2012
       jahrzehntelang durch die Lande zog, oft gemeinsam mit [7][Gerhard Polt]. In
       ein paar Wochen ist er wieder auf Tour, [8][diesmal mit seiner Tochter].
       
       Es gibt Tee, Kekse und deutliche Worte. Seit Jahrzehnten begleitet Well die
       bayerische Politik als schonungsloser Beobachter. Für die Biermösl Blosn
       schrieb er die Texte. Meist hat es damals die CSU abgekriegt, nicht selten
       auch wegen Umweltthemen: Rhein-Main-Donau-Kanal, Wackersdorf,
       Isentalautobahn: Eigentlich müsste man meinen, der Mann steht den Grünen
       besonders nah. Stand er auch mal.
       
       Sabeeka Gangjee-Well kam über einen Supermarkt in die Politik. Der sollte
       in Türkenfeld auf einer grünen Wiese gebaut werden, hätte sicher dann auch
       ein Gewerbegebiet nach sich gezogen. Als Gangjee-Well davon erfuhr,
       engagierte sie sich mit ein paar Mitstreitern gegen das Projekt. Am Ende
       wurde der Supermarkt nicht gebaut, aber Gangjee-Well saß im Gemeinderat.
       
       Bei den Grünen ist sie erst seit Oktober 2019. Und dennoch hat sich bei der
       55-Jährigen schon so etwas wie Resignation breitgemacht – zumindest was die
       Parteipolitik angeht. Sie erzählt ein Beispiel: Im Frühjahr 2022, als der
       Referentenentwurf zur EEG-Novelle bekannt geworden war, haben sich einige
       Grüne aus dem Landkreis Fürstenfeldbruck, die mit der Materie Erneuerbare
       Energien besonders vertraut waren, zusammengetan und ein Papier mit ein
       paar wenigen Punkten verfasst, die aus ihrer Sicht Priorität haben sollten:
       eine Din-A4-Seite. Einfach so, als unverbindlichen Gruß von Experten von
       der Basis.
       
       Über den Kreisverband wollten sie es dann an die zuständigen grünen
       Vertreter in der Bundesregierung weiterreichen. Doch der Widerstand war
       groß: Der Kreisverband bremste das Anliegen sofort aus, erzählt
       Gangjee-Well. Das Argument: Die da oben wüssten doch, was sie machten. Das
       seien schließlich Minister, weil sie eine so große Expertise hätten, und
       bräuchten bestimmt keine Ratschläge von der Parteibasis. Es kam sogar zu
       einer Abstimmung: Die Mitglieder des Kreisverbands waren dafür, das Papier
       weiterzureichen. Der Vorstand ließ es dennoch versickern. Und so wartet die
       Bundesregierung noch heute auf die bayerischen Eingebungen. Nach mehreren
       solchen Erfahrungen beschränkt sich Gangjee-Well als aktive Politikerin
       mittlerweile auf die Arbeit in der Gemeinde.
       
       Während seine Frau resigniert, singt Hans Well bisweilen noch gegen den
       Frust an. So wie letztes Jahr im September. Da hatte ihn das
       Grünen-Urgestein Martin Runge gebeten, auf einer Abschiedsfeier für ihn und
       andere scheidende Landtagsabgeordnete aufzutreten. Was Well sang, war
       schmeichelhaft – für Runge. Für den Rest der Fraktion war es eher eine
       Watschn: „Heit hot mi’s Schicksal in eine Fraktion verschlogn, wo s’vui
       Abgeordnete, aber koane Charakterköpf wia an Daxenberger hom, wo ma si
       zfriedn gibt mit Wähler in da Stod und den Kampf ums Land längst aufgebn
       hod.“ („Heute hat mich das Schicksal in eine Fraktion verschlagen, wo sie
       viele Abgeordnete, aber keine Charakterköpfe wie den Daxenberger haben, wo
       man sich zufrieden gibt mit Wählern in der Stadt und den Kampf ums Land
       längst aufgegeben hat.“)
       
       Ob die Grünen noch eine Partei seien oder längst eine Werbeagentur, fragte
       er sich in dem Lied dann noch und hielt dem grünen Spitzenpersonal vor,
       sich ungeniert an den Grünenhasser Söder hinzuwanzen. Die „dauervergnügte
       Katharina Schulze“ soll den Auftritt dem Münchner Merkur zufolge gar nicht
       mal so witzig gefunden haben.
       
       Mei, enttäuschte Liebe, entschuldigt Hans Well seine Härte mit den heutigen
       Grünen. Im dunkelgrünen Pullover sitzt er da und schimpft gleich weiter:
       „Das Grundproblem bei den Grünen ist, dass sie die Graswurzelbewegung
       verloren haben.“ Die Menschen, die sich wirklich für ein Thema engagieren,
       sei es bei Fridays for Future, dem Bund Naturschutz oder in einer
       Bürgerinitiative, fühlten sich nicht mehr von den Grünen vertreten und
       hätten sich abgewandt. „Das Versagen der grünen Partei ist, dass man heute
       fast nur noch auf stromlinienförmige Typen setzt, die wunderbar die
       Sprechblasen beherrschen.“
       
       ## Selbstkritik verlernt?
       
       Dass den Grünen die Fläche wegbreche, habe auch mit konkreten Themen zu
       tun. Beispiel Flächenfraß: Die Grünen – federführend der damalige
       Fraktionschef Ludwig Hartmann – hatten 2018 ein Volksbegehren gegen die
       Betonflut initiiert. Ein Thema, mit dem ihnen sogar der Schulterschluss mit
       der Bauernschaft gelungen ist. „Damit erreichst du die Leute auf dem Land“,
       sagt Well.
       
       Wegen eines Verfahrensfehlers [9][wurde das Volksbegehren gestoppt]. Aber
       statt den Fehler zu beheben und einen neuen Anlauf zu wagen, hätten die
       Grünen das Thema fallen lassen. Aus der Fraktion habe er gehört, dass
       Hartmann von Schulze, Lettenbauer und Sarnowski überstimmt worden sei,
       erzählt Well. Zu unwichtig hätten sie das Thema gefunden.
       
       Außerdem vermisst Well bei den Grünen die Streitkultur: „Schau dir die
       Parteiveranstaltungen an. Das sind doch Jubelveranstaltungen.“ Gleichen die
       Grünen das zum Teil unerträgliche Übermaß an Kritik, ja, an Hass, das sie
       seit einiger Zeit von außen zu ertragen haben, durch ein Übermaß an
       interner Kritiklosigkeit aus? Hat ausgerechnet die basisdemokratischste
       unter den großen Parteien, der früher so mancher Parteitag gern mal zum
       Hochamt der Selbstzerfleischung entglitten ist, die Selbstkritik verlernt?
       
       Einen wie den Sepp Daxenberger bräuchte man jetzt, sagen viele, auch Well,
       der gut mit ihm befreundet war. Der habe die Wertkonservativen abgeholt.
       Bauer, Goaßlschnalzer, Bürgermeister, Parteichef, Fraktionschef – [10][der
       2010 gestorbene Politiker] aus Waging hat die Kluft zwischen Stadt und Land
       überbrücken können wie wohl kein zweiter. „Hättest du einen solchen Kopf,
       so was würde auf dem Land schon ziehen“, meint Nikolaus Hanus. Andere sind
       skeptisch: „Jemanden wie Daxenberger würde man heute gar nicht mehr mit den
       Grünen, wie ich sie wahrnehme, verbinden“, sagt etwa Politologe Gross.
       
       Stattdessen haben die Grünen nun Katharina Schulze. Eine, die immerhin
       schon Wahlergebnisse eingefahren hat, von denen Daxenberger nicht einmal zu
       träumen gewagt hätte. Fragt man auf dem Land nach ihr, sind die Antworten
       durchwachsen. Ein absolutes politisches Ausnahmetalent, sagen die einen,
       eine superschlaue, vorlaute Städterin, sagen die anderen. Und das sind auch
       die, die dann ganz schnell noch das Smartphone zücken und den
       Instagram-Kanal der bayerischen Grünen öffnen: Zwölf Bilder sind zu sehen,
       auf elf von ihnen „die Katha“. Die Grünen, die Partei der Vielfalt? Dieser
       Zuschnitt auf eine Person erinnere sie schon sehr an Söder und Aiwanger,
       sagt eine.
       
       Klar, Katharina Schulze sei für viele auf dem Land schon ein Reizwort, gibt
       Hanus zu. Sie polarisiere halt. „Aber das tut Söder auch.“ Ob es jetzt gut
       sei, alles auf eine Person zu setzen? Das könne er nicht einschätzen, sagt
       der Grüne aus Lenggries. Aber die nächste Landtagswahl werde es ja zeigen.
       „Wenn wir über 20 Prozent haben, dann hat sie recht gehabt. Wenn’s
       schiefgeht, ist sie weg.“
       
       4 Apr 2024
       
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 (DIR) Politikwissenschaftler über Milieustudie: „Eine dramatische Entwurzelung“
       
       Die alten BRD-Parteien kommen vor allem in der Mitte der Gesellschaft immer
       weniger an. Weil sie nicht an einem Strang ziehen, sagt Robert Vehrkamp.
       
 (DIR) Attacken auf Politiker:innen: Wo Grüne Freiwild werden
       
       Politiker:innen der Grünen werden öfter angegriffen als die anderer
       Parteien. Dafür sind nicht nur rechtsextreme Publikationen verantwortlich.
       
 (DIR) Politikerderblecken am Nockherberg: Die Traktoren, die sie riefen
       
       „Warum miteinander, wenn’s auch gegeneinander geht?“ Maxi Schafroth hält
       Bayerns Staatsspitze auf dem Nockherberg den Spiegel vor.
       
 (DIR) Grüne über Landtagswahl in Bayern: „Das war eine Eskalation“
       
       Die Grünen werden im bayerischen Wahlkampf angefeindet. Wie gehen die
       Spitzenkandidat:innen Katharina Schulze und Ludwig Hartmann damit um?