# taz.de -- Hermeto Pascoal über Musik: „Spiele so, wie du dich fühlst“
       
       > Der brasilianische Künstler Hermeto Pascoal über Zwänge notierter Musik,
       > Stimmen in der Wildnis und seinen Obststand in Rio.
       
 (IMG) Bild: Bringt die Wildnis zum Klingen: Hermeto Pascoal.
       
       taz: Hermeto Pascoal, Sie machen seit fast 70 Jahren Musik. Wann genau
       haben Sie angefangen, Ihre Stücke aufzuschreiben? 
       
       Hermeto Pascoal: Musiktheorie habe ich erst mit 40 gelernt. Die Zeit davor
       habe ich meinen Geist weiterentwickelt. Ich folge vollkommen meiner
       Intuition. Die Theorie hat meiner Art Musik zu machen nur wenig
       hinzugefügt. Meine Songs öffnen die Köpfe der Menschen, damit sie
       unkonventionelle Sachen machen.
       
       Also ist es so, dass außer dem, was auf dem Notenblatt steht im Moment des
       Spielens noch mehr dazukommt? 
       
       Wer eine Melodie komponiert, diese arrangiert, legt damit fest, wie sie von
       Musikern interpretiert werden soll. Ich mache es genau umgekehrt und sage
       den Musikern: Spiele, wie du dich fühlst, atme, wie du willst, und dann
       kommt die Note von alleine raus. Ich gestehe den Musikern wirklich
       künstlerische Freiheit zu.
       
       Meinen Sie, Menschen nehmen notierte Musik ernster als Stücke, die nicht
       aufgeschrieben sind? 
       
       Viele Musiker spielen nur um der Theorie willen, nicht weil sie talentiert
       sind. Mit der Theorie kann jeder Mensch jedes Instrument lernen. Aber sie
       ist nur eine Schrift, ein Alphabet. Die 40 Jahre ohne Notenschrift waren
       sehr lehrreich für mich. Denn ich hatte schon eine Idee von der Theorie.
       Mit dem Alphabet schreibe ich einen Brief an einen Freund. Ich entferne
       mich nicht vom Verständnis der Standardnotenschrift, aber in den
       Arrangements ergänze ich viel mehr Akkorde und rhythmische Kreativität. Das
       macht sie technisch zwar anspruchsvoller, aber die Musik wird auch reicher.
       
       Mit welchen Musikern sind Sie aufgewachsen? 
       
       Ich bin im Alter von 14 aus meiner Heimat weggegangen und bis dahin gab es
       weder Strom noch Radio. Wir haben nur den Vögeln am Himmel und den Fischen
       im Meer zugehört. Ich habe wie ein weißer Indianer gelebt. Das alles zu
       wissen und zu schätzen, war sehr wichtig für mich, das hat sich meiner Art
       zu denken eingebrannt. Als Jugendlicher hörte ich dann viel Baiào und
       Forró.
       
       Sie stammen aus dem Nordosten Brasiliens, einer Region, die reich an
       Musiktraditionen ist. 
       
       Ja, weil die Leute dort von überall her eingewandert sind. In Pernambuco
       triffst du etwa auf Menschen mit deutschen, holländischen oder arabischen
       Wurzeln.
       
       Waren Maracatu und Coco wichtige musikalische Einflüsse für Sie? 
       
       Ja, das sind bis heute prägende Einflüsse. Wenn wir als Gruppe spielen,
       spielen wir Maracatu. Wir spielen hier alles. Nur nicht diesen Müll, diesen
       Funk, diesen Rock, diese, diese …
       
       … populäre Axé Music, die in den achtziger Jahren in Salvador da Bahia
       entstand?
       
       Oh ja, genau, die …
       
       Oder auch Forró Eletrico? 
       
       (flucht vor sich hin) 
       
       Zurück zu Ihrer musikalischen Sozialisation – wie trat dann der Jazz in Ihr
       Leben? 
       
       Mit 17 habe ich in Recife im Radio Sanfona (ein Akkordeon, vor allem im
       Forró und Baiào) gespielt. Ein befreundeter Gitarrist hat mich gesehen und
       eingeladen, mit ihm eine Nacht in einem Club zu spielen. Ich habe ihm
       gesagt, dass ich nur mit der rechten Hand spiele. Er hat mich ans Klavier
       gesetzt, obwohl ich das vorher nie gemacht hatte. So habe ich angefangen
       und weitergemacht. In den Clubs habe ich aber auch sehr viel deutsche Musik
       für Einwanderer gespielt.
       
       Was genau für Musik? 
       
       (Pascoal singt vor) 
       
       Sind das Marchinhas, die kleinen Märsche der Karnevalsmusik? 
       
       Ja, deutsche Marchinhas. Ich war 18 und die Alten haben mich ausgeschimpft,
       weil ich sie so modern interpretiert habe.
       
       Die Deutsch-Brasilianer haben ihre Marchinhas also nicht wiedererkannt? 
       
       So war es.
       
       Und Jazz ergab sich also praktisch bei Konzerten? 
       
       Wenn ich außerhalb Brasiliens Maracatu spielte, stuften Zuschauer meine
       Musik stets als Jazz ein. Besonders in den Vereinigten Staaten, wo ich oft
       zu Gast war. Jazz ist die zweite oder dritte Art von Musik, die ich spiele.
       Ich mache ja Universalmusik, also spiele ich auch alles. An meinem
       Lieblingsobststand sind nicht nur Bananen, sondern auch Äpfel, Trauben,
       gerösteter Mais und geröstetes Maniokmehl im Angebot. So ist auch die Musik
       in meiner Konzeptualisierung. In Brasilien leben Einwanderer aus aller
       Welt, davon lässt sich Musik keinesfalls trennen. Brasilianische Musik ist
       universal. Das nehmen Menschen von anderswo auch sofort wahr, wenn sie
       brasilianische Musik hören.
       
       Sie meinen, die Amerikaner haben Ihre Musik als Jazz kategorisiert, aber in
       Wahrheit war es Ihr eigener Stil? 
       
       Richtig. Als ich 1970 zum ersten Mal in den USA war, stand in der Zeitung:
       „Wie kann es sein, dass dieser Typ aus dem unterentwickelten Brasilien
       Musik macht, wie wir sie nicht hinbekommen?“ Meine Antwort: Das kommt
       daher, weil unsere Musik zeitlos ist, sie funktioniert auf der ganzen Welt.
       
       Heute Abend gastieren Sie in Berlin mit dem Andromeda Mega Express
       Orchestra, wie kam es zu dieser Kollaboration? 
       
       Daniel Glatzel, der Leiter des AMEO, kannte meine Musik. Er wollte einige
       meiner Stücke für sein Orchester arrangieren und bat mich, ihm die Noten zu
       schicken. Zum ersten Mal verlasse ich Brasilien, um meine Musik in
       Arrangements eines anderen Musikers zu spielen. Vorher hatte ich immer
       eigene Arrangements dabei.
       
       Wie sieht die Zusammenarbeit genau aus? 
       
       Wenn ich mit einem sinfonischen Orchester arbeite, nehme ich meinen Sohn
       Fábio mit, damit er einen Touch anderer Perkussion einbringt. Bei einigen
       Arrangements werde ich auch allein mit dem Orchester improvisieren.
       
       Welche Instrumente setzen Sie ein? 
       
       Perkussionsinstrumente wie das Pandeiro (eine Rahmentrommel), die Viola
       Caipira – eine Gitarre mit fünf Doppelsaiten –, meine große Flöte, meine
       Bassflöte, und Alltagsgegenstände, zum Beispiel einen Wasserkessel. Fábio
       spielt mehrere Instrumente, auch kleine Puppen aus Gummi, die Tiergeräusche
       machen. Damit erzeugen wir einen ganzen Urwald. Das wird ein großes
       Ereignis.
       
       Der amtierende brasilianische Kulturminister Juca Ferreira will das
       Urheberrecht novellieren. Clubs und Radiosender sollen etwa für die
       gespielte Musik Beiträge zahlen. Was halten Sie davon? 
       
       Die klauen immer mehr.
       
       Wer klaut? Die Radios? 
       
       Die Radiosender nicht, aber die Manager von Plattenfirmen. Kann ja sein,
       dass sie im Kulturministerium etwas daran ändern wollen, aber um da
       reinzukommen, musst du klauen. Mein Musikerkollege Gilberto Gil wollte in
       seiner Amtszeit als Kulturminister – 2002 bis 2008 – ebenfalls Gesetze
       ändern, aber die Medienbarone verhinderten das. Wer nicht klaut, muss
       wieder raus. Deswegen bin ich inzwischen auch Mitglied der französischen
       Verwertungsgesellschaft Sacem. Die zahlt mir Tantiemen, die mir Zuhause
       unterschlagen wurden.
       
       20 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Franziska Buhre
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