# taz.de -- Copenhagen Jazz Festival: Gaga goes Jazz
       
       > Erstaunliche Bandbreite beim dänischen Festival: Neben Lady Gaga und Tony
       > Bennett sind etwa Herbie Hancock oder der Elektro-Frickler Felix Kubin am
       > Start.
       
 (IMG) Bild: Tony Bennett und Lady Gaga.
       
       Wenn faul im Sinne von Müßiggang gemeint wird, dann ist während des
       Jazzfestivals in Kopenhagen, das jeden Juli während einer Woche
       stattfindet, etwas faul im Staate Dänemark: Die Dänen lassen die Arbeit
       Arbeit sein, setzen sich aufs Fahrrad und strömen auf Straßen und Plätzen
       zusammen.
       
       Junge wie Alte, Frauen und Männer frönen dem Jazz. Es gibt nichts
       Kontemplativeres, als im Hochsommer auf einer Straße in Kopenhagen einer
       Jazzcombo zuzuhören. Wenn sich die Musik mit dem fauligen Duft der „røde
       pølser“ genannten Hotdogs vermischt, die ersten Tuborg-Bierdosen geknackt
       werden und die Leute einfach auf dem Trottoir oder am Randstein Platznehmen
       und lauschen.
       
       Jedenfalls bekommt man am Samstagsommerabend vor dem Jazzhouse in der Niels
       Hemmingsens Gade eine Ahnung davon, was der US-Künstler Ornette Coleman
       1959 von seinen Bandkollegen verlangt hat: „Lasst uns Musik spielen und
       nicht ihren Background.“
       
       Auf der Outdoor-Bühne steht das FE Denning Descension Orchestra,
       Kopenhagener Lokalhelden, zwei Musikerinnen und acht Musiker, niemand ist
       älter als 35. Getreu dem Namen ihres Labels Mayhem entfesseln sie einen
       absolut zeitgemäßen Cocktail aus Feedbackschlaufen, Computergebratzel und
       Drum-Gehacke. Die Gitarren sägen und die Bläser röhren.
       
       Diese Kritik von Jazz mit den Mitteln von Jazz knallt sofort. Hier steht
       nichts im Dienst von Melodien, andererseits gerät der Noise auch nicht zum
       Selbstzweck. Irgendwann schälen sich aus dieser Konzentration der Kräfte
       Geräusche des Alltags. Signalhupen, Alarmtöne und Sirenenklänge reißen
       Schneisen in die Aufmerksamkeit.
       
       ## Befreiende Wirkung des Jazz
       
       Seine 15-minütigen Exzesse absolviert das Descension Orchestra zusammen; ob
       Trompeterin, Drummer oder Keyboarder, alle bauen gemeinsam an einer Wand
       aus Klang, erst im Kollektivlärm entfaltet selbiger befreiende Wirkung. Ob
       der Lärm vom Rand kommt oder aus der Mitte, ist einerlei, wenn Freejazz ein
       vorabendliches Vergnügen ist, dem das Publikum mit begeisterndem Applaus
       dankt.
       
       „Schizophren“ hat einige Tage zuvor Kenneth Hansen, Leiter des Copenhagen
       Jazzfestival, zum Charakter seines Festivalprogramms gesagt. Hansen
       vollführt mit seinem Festival tatsächlich eine Gratwanderung: hier der
       Lokalkolorit, neue Impulse aus dem Underground, da die Zugpferde und
       Publikumslieblinge. Beides hat seine Berechtigung, im Programmheft sind sie
       nebeneinander angekündigt, Nobodies genau wie Superstars.
       
       Der Zuschauerrekord wird am Mittwochabend geknackt. Im Vergnügungspark
       Tivoli, direkt neben dem Hauptbahnhof, zwischen Looping-Achterbahn und
       Druckluft-Katapult, treten Lady Gaga und Tony Bennett zusammen mit einer
       Bigband vor gut 10.000 Zuschauern auf. Ihr Duo-Album „Cheek to Cheek“,
       vergangenes Jahr erschienen, kündete bereits von der Jazzwerdung der
       Teenpopikone.
       
       Am Mittwoch wird klar: Die Gaga kennt ihr American Songbook und sie
       interpretiert es auf erfrischend komödiantische Art. Wie gut dieser
       Rückwärtsgang aus der EDM-Sackgasse getimt war, zeigt auch die Bühnenshow:
       Jede Bewegung von Lady Gaga wirkt improvisiert und sie verbindet sich mit
       der Abgezocktheit des croonenden Bennett zu einer schwer ausrechenbaren
       Performance.
       
       Die Auswahl der Songs, etwa „Smile“ (aus der Feder von Charlie Chaplin) mag
       zwar nicht gerade ungewöhnlich sein, aber die Bewegungen sind entwaffnend
       spontan. Bennett macht den Auftakt mit „Anything Goes“, wackelt noch etwas,
       beim anschließenden Titelsong ihres Duoalbums „Cheek to Cheek“ entert Lady
       Gaga mit tief ausgeschnittenem Kleid die Bühne und unterstützt Bennett.
       Gemeinsam verneigen sich die beiden Sänger vor den burlesken
       Nightclub-Wurzeln des Jazz, gleichwohl es wird nie sleazy.
       
       Lady Gaga heißt nicht umsonst Lady, und gemeinsam mit ihrem Partner
       liquidiert ihre Show den Gegensatz zwischen ernster Muse und leichter
       Musik. Nach jedem zweiten Song wechselt Gaga das Outfit, bis sie nur mit
       einem Hauch von Netz-Overall und zwei Sternchen auf ihren Brustwarzen
       bekleidet ist.
       
       In diesem Augenblick spielt auch noch das regnerische Wetter mit: Bei Duke
       Ellingtons „Solitude“ weht der Wind die Notenblätter vom Ständer, Lady Gaga
       hebt sie lasziv auf, was stürmische Liebesbekundungen zur Folge hat. Ihre
       Antwort: „Copenhagen, you might be feeling confused, but I keep my clothes
       Jazz.“
       
       Die Liebe der Zuschauer zu Herbie Hancock (im schicken blauen Anzug) und
       Chick Corea (in Jeans und Joggingschuhen) am Donnerstag fällt
       zurückhaltender aus. Im ausverkauften Koncerthuset des dänischen Rundfunks
       DR, einem verglasten Neubau mit beeindruckender Akustik, hat sich ein
       gesetztes Publikum eingefunden, das sich mit „Jazzcocktails“ (Tom Collins)
       in Stimmung bringt.
       
       ## Hancock grinst teuflisch
       
       Die Blue Notes von Herbie Hancock müssen sich erst mal gegen die sehr
       dominierenden impressionistischen Klänge von Chick Coreas Klavier
       durchsetzen. Ihre beiden Flügel sind in der Bühnenmitte aneinandergerückt,
       aber in den ersten zwei, drei Stücken harmonieren die beiden Musiker nicht.
       Hancock, der anders als Corea vom Blatt spielt, tut sich hörbar schwer.
       
       Besser klappt es beim Umsteigen auf die Synthesizer. Hancock grinst
       teuflisch, schraubt kurz an seinem Korg „Kronos“ und entlockt ihm heftige
       elektrische Schauer, worauf Corea seine Maschine pluckernde Beats husten
       lässt. Endlich kommen sie in Stimmung.
       
       Zu seiner Komposition „Implication“ begibt sich der 74-jährige Corea an die
       Saiten seines Klaviers und bearbeitet sie mit einem Handtuch, während der
       75-jährige Hancock mit dem Deckel seines Klaviers den Beat klopft; das hat
       was. Schließlich hangelt sich das Duo zu Hancocks Signatursong „Cantaloupe
       Island“, und Corea, der immer ein bisschen das Mathematikgenie in sich im
       Zaum halten muss, beißt in den sauren Apfel und übernimmt Freddie Hubbards
       Trompetenpart, mit gequältem Lächeln, aber diesmal funktioniert das
       Zusammenspiel.
       
       Die Kopenhagener Jeunesse dorée pilgert wenig später ins Jazzhouse, wo der
       Hamburger Musiker Felix Kubin eine Lecture-Performance seines
       Sampler-Projekts „Science-Fiction Park BRD“ gibt. Dias, Soundschnipsel und
       Anekdoten formen ein flackerndes Bild der frühen achtziger Jahre in
       Deutschland-West. Alte Filmausschnitte aus einem Video der Band Palais
       Schaumburg werden beklatscht.
       
       Die Overcoats, Hochwasserhosen und Doc-Martens-Schuhe tragenden jungen
       Kopenhagener/Innen fügen sich perfekt in diese Klang-Retrospektive. Kubin,
       der in den frühen Achtzigern zur Hamburger Tape-Szene gehörte und mit
       seinem Bruder sperrige NDW-Songs im Kinderzimmer komponierte, erzählt, wie
       lange er seinerzeit gebraucht hat, um seinen Korg-Synthesizer für einen
       Song einzustellen.
       
       Im Knochengerüst-Catsuit spielt er einige der alten Tracks, per Knopfdruck
       vom Laptop, versteht sich. Die beiden DJs Doug Shipton (Manchester) und
       Sebastian Reier (Hamburg) sorgen dann dafür, dass Kopenhagener Overcoats
       auf der Tanzfläche davonflattern.
       
       ## Weinglas und Tropicalia
       
       Karger möbliert ist der Auftritt von Caetano Veloso und Gilberto Gil im
       ausverkauften Koncerthuset: zwei Stühle, in der Mitte ein Tisch, darauf ein
       Glas Wein und eines gefüllt mit Wasser. Ohne Begrüßung kommen die beiden
       brasilianischen Stars auf die Bühne, nehmen ihre akustischen Gitarren zur
       Hand und fangen an zu spielen.
       
       Und sie spielen lange und konzentriert, 25 Songs aus allen Schaffensphasen,
       darunter „9 out of 10“ (Veloso), „Hino do Senhor do Bonfim“ (vom Sampler
       „Tropicalia“) oder Gilberto Gils „Ela“. Der Abend ist eine Feier ihrer
       beiden gut 50-jährigen Karrieren, die sie immer wieder zusammenführten.
       
       Die beiden Künstler wechseln einander beim Gesang ab. Gil gibt den
       ruhigeren Part, ist zurückhaltend. Veloso wirkt impulsiver, vollführt immer
       wieder eine Art Bauchtanz, zu dem er auch aufsteht und das Publikum von den
       Sitzen reißt. Die brasilianische Migrantengemeinde ist stark vertreten und
       singt bei den Songs so lauthals mit, dass Veloso und Gil zwischendurch mit
       dem Gitarrespielen pausieren und auf A-cappella-Begleitung wechseln. „Det
       var magisk“, schreibt der Kollege der Tageszeitung Politiken. Ein
       Kommentar, der auch auf weite Strecken des Copenhagen Jazzfestival
       zutrifft.
       
       13 Jul 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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