# taz.de -- Münchner Ausstellung über Freejazz: Konzentrierter Freakout
       
       > Wie Freejazz aus Protest und Emanzipationsbewegung entstand: Das Haus der
       > Kunst in München dokumentiert das Wirken des Westberliner Labels FMP.
       
 (IMG) Bild: Cecil Taylor und Günter „Baby“ Sommer beim Festival „Improvised Music II“, 1988
       
       „Sound Hermeneutik“ ist ein Begriff, den der Musiktheoretiker und Komponist
       Michel Chion anführt, um Klangquellen zu entschlüsseln: Wie sie entstehen,
       wer sie vom Zaun bricht, wohin sie führen. Chion hätte wohl Freude an der
       kraftvollen Ausstellung „Free Music Production/FMP: The Living Music“ im
       Münchner Haus der Kunst. Sie dokumentiert das Wirken des Westberliner
       Freejazz-Labels Free Music Production (FMP).
       
       Zwischen 1968 und 2011 hat FMP mehr als 200 Alben veröffentlicht: Seinem
       Selbstverständnis als unabhängige Plattenfirma und seiner Funktion als
       internationaler Vernetzer und Mittler zwischen West und Ost wird mit „The
       Living Music“ in Klang, Wort, Bildern und Filmen entsprochen. Das erscheint
       bitter notwendig, angesichts eines Diskurses über Freejazz, der heute
       zumeist im angloamerikanischen Raum stattfindet. Es gibt hierzulande kein
       Äquivalent zum US-Kritiker John Corbett, der regelmäßig über die
       KünstlerInnen von FMP schreibt und lange vergriffene Alben von FMP auf dem
       Label Atavistic wieder zugänglich gemacht hat. So fehlt es an
       interessiertem Nachwuchs, obwohl es durch elektronische Musik und
       Jazz-Renaissance Anknüpfungspunkte gäbe.
       
       Die Urszene von FMP war Protest: Weil der Saxofonist Peter Brötzmann sich
       weigerte, beim Jazzfest Berlin 1968 mit seiner Combo schwarze Anzüge zu
       tragen, wurde er ausgeladen. Also startete er zusammen mit dem Bassisten
       Jost Gebers das Total Music Meeting als Gegenpol. Gebers, hauptberuflich
       Sonderpädagoge, verlegte sich bald vollständig aufs Festivalorganisieren
       und Labelmachen.
       
       „European Echoes“ von Trompeter Manfred Schoof hieß das erste Album, das
       1969 bei FMP erschien. Jene Echos waren emanzipatorische Behauptung:
       Natürlich hatten die Musiker die Studentenproteste mitbekommen, mehr noch
       echote in ihren Stücken aber die Befreiung von musikalischen Zwängen. In
       den frühen Sechzigern hatte Freejazz im afroamerikanischen Jazz Gestalt
       angenommen, etwa bei den Kollektiv-Improvisationen des AACM in Chicago.
       Freejazz machte Schluss mit romantischem Schönklang und den harmonischen
       Kompositionsprinzipien des Cool Jazz, das gleichmäßige Metrum im Beat wurde
       ausgesetzt, statt melodiöser Orientierung in Refrains ging es um den
       konzentrierten Freakout.
       
       Die Europäer warfen teils ihren E-Musik-Hintergrund in diese Gemengelage:
       FMP-Mitgründer Alexander von Schlippenbach lernte beim Komponisten Bernd
       Alois Zimmermann, bevor er das Globe Unity Orchestra gründete. Wie von
       Schlippenbach dachten viele Freejazz-Musiker von FMP, sie treten durch
       freie Improvisation in „herrschaftsfreie Kommunikation“. Ihr kathartisches
       Gehonke und Geclustere bringt auch heutige Hörer durcheinander. Die Kunst
       des Freejazz ist die Suche nach Ordnung im Chaos, in der die Ordnung des
       Chaos steckt – als Genitiv-Chaos.
       
       ## Auch die Frauen jazzen
       
       Mit einem Vorurteil räumt die Ausstellung auf: Dass Freejazz eine Domäne
       für Alphamännchen mit großen Lungenflügeln gewesen sei. Schon bald waren
       bei FMP Musikerinnen involviert. So sind Fotos von Konzerten der Feminist
       Improvisation Group (FIG) zu sehen, ins Leben gerufen von den britischen
       Musikerinnen Maggie Nichols und Lindsay Cooper und international besetzt
       mit der französischen Bassistin Joëlle Léandre sowie der Pianistin Irène
       Schweizer. Getreu dem Ausstellungsmotto sprudelt in jeder Ecke der Sound:
       Listening Stations sind installiert, auch unveröffentlichte FMP- und
       FIG-Aufnahmen sind zu hören.
       
       Viele der 215 Originalcover sind zu einer Wandtapete gefügt. So ist zu
       sehen wie nahe bildende Kunst und Freejazz sich standen. Peter Brötzmann
       arbeitete als Grafiker und war vor seiner Jazzkarriere Assistent von Nam
       June Paik, er gestaltete seine Cover selbst. Andere Alben wurden vom
       Fluxus-Künstler Tomas Schmit gefertigt, viele der Musikerfotos auf den
       Alben stammen von Ute Klophaus, die für Joseph Beuys fotografierte.
       Mittendrin eine Single von Sven-Åke Johansson, gemalt von Martin
       Kippenberger.
       
       Ausdrucksstark sind die Gemälde von A. R. Penck (zusammen mit Peter
       Kowald): „Was ist Gravitation? Das kennen wir schon“ ist da zu lesen. Die
       Musik stiftete ihn zu tanzenden Strichmenschen an, Pyramiden, Kreisel,
       Wellen, numerologischen Symbolen. Nicht alles fiel so spielerisch aus, in
       Vitrinen sind Programmhefte zu studieren, in denen Rechtfertigungen über
       Festivalfinanzen abgedruckt sind. FMP bewegte sich stets am Rande des
       Existenzminimums und war auf Subventionen angewiesen, etwa von der Akademie
       der Künste Berlin. Meist verkaufte FMP um die 500 Exemplare pro Album, die
       KünstlerInnen mussten sich mit Konzertengagements und Stipendien über
       Wasser halten.
       
       Ein Foto vom Total Music Meeting, 1969, unterstreicht das Networking:
       Pharaoh Sanders, Roy Ayers, Sonny Sharrock und John McLaughlin stehen mit
       Gunther Hampel und Peter Brötzmann auf der Bühne. Der Vernetzungsgedanke
       verhalf FMP in den Siebzigern und Achtzigern sogar zu Aufmerksamkeit im
       Feuilleton. Zugute kam dem Label dabei, dass es die DDR-Freejazz-Szene
       unterstützte. Ein Konzert vom Sommer 1988 gilt vielen als Vorbote der
       Maueröffnung: Der New Yorker Pianist Cecil Taylor spielte damals mit dem
       Ostberliner Drummer Günter „Baby“ Sommer. Taylor trug von Black Power
       inspirierte Poesie vor. Zwischendurch tanzte er neben seinem Klavier.
       
       10 Mar 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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