# taz.de -- Historiker über Bismarck-Verehrung: „Die Opfer werden ausgeblendet“
       
       > Der Hamburger Kolonialismusforscher Jürgen Zimmerer ist gar nicht
       > „gegen“ Bismarck. Aber er will diesen ambivalenten Staatsmann nicht mehr
       > feiern.
       
 (IMG) Bild: In seinem Element: Otto von Bismarck als Gastgeber der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85
       
       taz: Herr Zimmerer, Bismarck war nicht nur Wegbereiter des deutschen
       Kolonialreichs, sondern hat auch über Frankreich gesiegt, brachte
       Deutschland Einheit und Frieden. Gibt es nichts Positives an ihm? 
       
       Jürgen Zimmerer: „Positiv“ ist keine analytische Kategorie, denn die Frage
       ist: Welche Kriterien legt man an? Natürlich gibt es den Mythos von
       „Bismarck als Reichseiniger“. Deshalb wurde er geehrt, und deshalb
       verteidigen ihn jetzt manche. Sie sehen im „Angriff“ auf Bismarck einen
       „Angriff auf die Deutsche Einheit“. Das ist aber ahistorisch! Bismarck
       benutzte die nationale Frage, um Österreich aus Deutschland zu drängen und
       ein groß-borussisches Deutsches Reich zu schaffen. Man könnte auch die
       Frage stellen, ob er damit nicht eine andere deutsche Einigung verhindert
       hat, die verträglicher für das europäische Gleichgewicht gewesen wäre.
       
       Hätte es Alternativen gegeben? 
       
       Ja. Historiker*innen haben argumentiert, dass es einen gemeinsamen Staat
       mit Österreich hätte geben können, in dem die Macht Preußens ausbalanciert
       worden wäre und der die Nachbarn militärisch weniger beunruhigt hätte.
       Vielleicht hätte uns das den Ersten Weltkrieg erspart – und damit auch den
       Zweiten. Das ist kontrafaktisch, sicherlich, aber Bismarcks Einigung als
       alternativlos anzusehen, ist teleologisch. Kritik an Bismarck ist nicht
       zwangsläufig Kritik an der Einheit. Legitim sind auch Fragen nach den
       Folgen dieser Einigung für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.
       
       Aber daran ist nicht Bismarck allein schuld. 
       
       Nein, und genau da liegt ein weiteres Problem mit solchen heroischen
       [1][Personendenkmälern] wie demjenigen in Hamburg: dass sie auf einzelne
       Männer – und für das 19. Jahrhundert kann man durchaus generisch „Männer“
       sagen – fokussieren und ein Geschichtsbild perpetuieren, in dem „große
       Männer“ Geschichte machen. Strukturen werden ebenso ausgeblendet wie
       marginalisierte Gruppen. Dazu gehören alle, die nicht Staatsmänner,
       Aristokraten oder Feldherrn waren. Und natürlich werden die Opfer
       ausgeblendet.
       
       Aber Bismarck war gegen Kolonien, und vielen gilt er als pragmatischer
       Realpolitiker. Was war er denn nun? 
       
       Bismarck war vieles, darunter auch überzeugter Monarchist und Aristokrat,
       jedenfalls kein Demokrat. Er war fanatischer Katholikenhasser, vehementer
       Gegner der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung...
       
       Aber später erließ er wichtige Sozialgesetze wie die Kranken- und
       Unfallversicherung. Wie passt das zusammen? 
       
       Bismarck tat aus Opportunitätsgründen auch Dinge, von denen er
       weltanschaulich vielleicht nicht überzeugt war. Und ja, er war kein
       Kolonialenthusiast – aus machtpolitischen Überlegungen und weil er wusste,
       dass dies nicht den von der Kolonialbewegung erhofften Wohlstand bringen
       würde.
       
       Warum gründete er die Kolonien dann? 
       
       Aus Opportunismus, genährt aus einem ganzen Bündel innen- und
       außenpolitischer Motive: etwa weil er die rasant an Bedeutung gewinnende
       Kolonialbewegung als innenpolitischen Partner gewinnen wollte. Oder weil er
       mit der Berliner [2][Afrika-Konferenz] von 1884/85 auf einen Ausgleich mit
       Frankreich schielte. Diese Konferenz, auf der die Aufteilung eines ganzen
       Kontinents formalisiert wurde, macht Bismarck jedoch zum Spiritus rector
       der Aufteilung Afrikas. Das alles gegen seine innere Überzeugung! Aus
       opportunistischer „Realpolitik“ heraus.
       
       Aber am Völkermord an [3][Herero] und Nama von 1904 bis 1908 in
       „Deutsch-Südwestafrika“ – heute Namibia – ist Bismarck nicht schuld. Er
       starb 1898. 
       
       Das ist eine interessante Frage: ob historische Verantwortung für die
       Folgen eigenen Tuns mit dem Ausscheiden aus dem Amt endet. Für den
       Historiker nicht. Natürlich ist Bismarck persönlich nicht verantwortlich
       für diesen Völkermord. Allerdings hat er durch seine Entscheidung 1884/85,
       Deutschland zur Kolonialmacht zu machen, eine Entwicklung in Gang gesetzt,
       die auch zu diesem Völkermord führte. So wie Bismarcks Konstitution des
       groß-borussischen deutschen Kaiserreichs mit zur Katastrophe zweier
       Weltkriege führte.
       
       Konnte Bismarck diese Folgen vorhersehen? 
       
       Sicherlich nicht bis zur letzten Konsequenz, aber dass Kolonien zu
       militärischer Gewalt führen würden, war klar. Auch darüber hinaus bleiben
       diese Entwicklungen unter anderem Folgen seines Handelns. Bismarck war
       nicht nur Reichseiniger, sondern auch Gründer eines Kolonialreichs, das bis
       1919 fortbestand. Der Zustand der Kolonialisierung endete für viele
       Betroffene erst in den 1960er-Jahren, in [4][Namibia] 1990. Das heißt: Was
       er aus zynischen innenpolitischen Gründen ins Leben rief, entwickelte eine
       Eigendynamik. Dafür ist er mitverantwortlich. Den „ganzen“ Bismarck sehen
       heißt, auch dies zur Kenntnis zu nehmen.
       
       Waren die Kolonien für Deutschland wirklich ein Verlustgeschäft? 
       
       Ja – auch deshalb, weil es überall zu massivem Widerstand und damit zu
       kostspieligen Kriegen kam. Die Kolonien mussten fast überall mit
       militärischer Gewalt erobert werden – eine Gewalt, die auch die Legende vom
       langen Frieden des Deutschen Kaiserreichs Lügen straft.
       
       Trotzdem schenkten ihm Hamburger Kaufleute aus Dankbarkeit dieses große
       Denkmal. 
       
       Ob sie sich explizit für die Kolonien bedankten, ist unklar. Aber es ist
       auffällig, dass das Geld vor allem von Leuten kam, die im „Überseehandel“
       tätig waren und sich auch für das Kolonialinstitut – aus dem die spätere
       Universität mit hervorging – einsetzten. Der Spendenaufruf berief sich
       damals auf Bismarcks Verdienste für „nationale Einigung und Weltgeltung“.
       
       Nun ist dieses Denkmal recht eigenartig. Bismarck trägt keine Pickelhaube,
       wirkt wie der Bremer „Roland“ oder ein „mythischer Ritter“. Wofür steht es
       eigentlich? 
       
       Es ist eindeutig eine heroische Darstellung, die Bismarck als Vollender
       dieses nationalistischen Mythos feiert. Dahinter steht die Idee, dass das
       Deutsche Reich, so wie Bismarck es formte, die Vollendung einer
       historischen Mission war. Dabei hätte es ja, wie gesagt, auch andere Formen
       der Einheit geben können. Aber Bismarck ging es um nationalen Egoismus und
       um preußische Staatsräson. Dazu sollte sich die deutsche Gesellschaft im
       Jahr 2020 allmählich positionieren.
       
       Welche Bismarck-Facetten taugen für Sie nicht zum Vorbild? 
       
       Nun, wenn wir sagen: Bismarck war (und ist) ein Vorbild, dann sind wir auch
       dafür, dass wir Menschen kolonisieren, kein Frauenwahlrecht haben,
       bürgerliche Rechte nicht zu groß werden lassen, die Arbeiterschaft
       missachten und aus staatlichem Egoismus Krieg anfangen können.
       
       Heißt das, man soll gar nicht an Bismarck erinnern? 
       
       Doch. Wir erinnern doch auch regelmäßig an die Verbrechen Adolf Hitlers.
       Aber Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik sind zwei völlig
       verschiedene Dinge. Selbstverständlich sollen wir Bismarck in seinen
       Ambivalenzen würdigen. Das ist aber etwas anderes, als ein Denkmal stehen
       zu lassen – beziehungsweise wieder aufzurichten –, das seine heroische
       Anziehungskraft weiter entfalten kann und eine Person ausdrücklich als
       Vorbild feiert.
       
       Aber sollte man Bismarck nicht aus seiner Zeit heraus verstehen, in der
       nicht das Unrechtsbewusstsein von heute herrschte? 
       
       Natürlich sollte man ihn aus der Geschichte heraus verstehen. Das heißt
       aber nicht, dass man ihn immer noch feiern muss. Abgesehen davon waren
       Menschen auch damals wach genug, die kritischen Seiten zu bemerken. Sonst
       hätten sich ihm Sozialdemokraten, Katholiken und die Kolonisierten nicht
       entgegengestellt. Wer „aus der Zeit heraus verstehen“ sagt, meint oft:
       Bismarcks damalige national-egoistische Perspektive teilen.
       
       Inwiefern ist eine solche Debatte im Globalisierungszeitalter überhaupt
       noch zeitgemäß? 
       
       Die Debatte ist überfällig, manche Positionen sind aber völlig aus der Zeit
       gefallen. Die postkoloniale Globalisierung unterscheidet sich von der
       kolonialen Globalisierung dadurch, dass der globale Norden nicht mehr im
       Mittelpunkt steht und sich die Zentren der Macht und der Diskurse auf
       andere Kontinente verlagern. Dass sollten wir anerkennen, anstatt Bismarck
       mit Argumenten zu verteidigen, die getragen sind von der Sehnsucht nach dem
       alten Reich, in der eine weiß-männliche Gesellschaft das Sagen hat!
       
       7 Sep 2020
       
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