# taz.de -- Innenminister:innen zu EU-Asylreform: Schicksalsträchtiger Gipfel
       
       > Nach jahrelangem Streit wollen die EU-Innenminister eine Reform des
       > Asylrechts beschließen. Wie blicken einzelne Mitgliedsstaaten auf das
       > Vorhaben?
       
 (IMG) Bild: Ende Mai an der polnisch-belarussischen Grenze: Können sich die EU-Staaten auf eine Reform einigen?
       
       BRÜSSEL/BERLIN/WARSCHAU/PRAG/STOCKHOLM/ROM taz | Seit Jahren schiebt die
       Europäische Union eine Reform des Asylrechts vor sich her. Alle Versuche,
       zwischen Ankunfts- und Aufnahmeländern zu vermitteln und die Flüchtlinge
       fairer auf die 27 EU-Staaten zu verteilen, sind bislang gescheitert. Doch
       nun naht die Stunde der Wahrheit: An diesem Donnerstag will der schwedische
       EU-Vorsitz eine Entscheidung erzwingen. Beim Treffen der Innenminister in
       Luxemburg soll sie fallen.
       
       Die Chancen stünden „fifty-fifty“, sagt ein EU-Diplomat in Brüssel. Es gebe
       ein „Momentum“, meint ein anderer. Festlegen wollte sich am Mittwoch
       niemand. Dafür steht zu viel auf dem Spiel: Es geht nicht nur um den Erhalt
       des Schengen-Systems der Reisefreiheit, um den Bundesinnenministerin Nancy
       Faeser (SPD) bangt. Es geht auch um den Schutz der Außengrenzen – und um
       die Glaubwürdigkeit der EU.
       
       Diesmal soll sich nicht wiederholen, was die Gemeinschaft 2015 in die Krise
       stürzte: Damals hat die EU zwar einen Beschluss gefasst – doch Ungarn,
       Polen und viele andere Staaten haben ihn nicht umgesetzt. Um diesen Worst
       Case zu verhindern, sollen die Innenminister diesmal nicht bloß – wie
       bereits 2015 – mit qualifizierter Mehrheit abstimmen, wodurch eine Blockade
       per Veto verhindert wird.
       
       Der schwedische Ratsvorsitz versucht auch, auf alle möglichen Wünsche und
       Bedenken einzugehen. Im Gespräch sind nicht nur die in Deutschland
       umstrittenen Asylverfahren an den Außengrenzen. Auf dem Tisch liegen auch
       jährliche Obergrenzen, ein Solidaritätsmechanismus mit Ausgleichszahlungen
       für Verweigerer – im Gespräch sind 20.000 Euro pro Person – sowie
       EU-Zuschüsse für den Ausbau von Grenzanlagen.
       
       Man müsse einen Mittelweg zwischen „Solidarität“ und „Verantwortung“ finden
       und sich zugleich bemühen, das Hauptankunftsland Italien zu entlasten, so
       ein Diplomat. Das sei ein schwieriger Balanceakt. Doch selbst wenn ein Deal
       gelingen sollte, so wäre die Reform noch längst nicht in trockenen Tüchern.
       Denn am Ende muss sich der Ministerrat auch noch mit dem EU-Parlament
       einigen.
       
       Das Parlament will jedoch weitergehen als der Rat. Es fordert eine echte
       „europäische Lösung“, die auch verbindliche Quoten für die Umverteilung der
       Asylbewerber enthalten könnte. Die EU stellt sich auf lange und harte
       Verhandlungen ein – das Treffen in Luxemburg ist nur der Start in einen
       heißen Sommer. Im Herbst beginnt bereits der Europawahlkampf; dann dürfte
       eine Einigung noch schwieriger werden.
       
       Doch wie blicken einzelne Mitgliedsländer auf die geplante EU-Asylreform?
       Ein Überblick.
       
       ## In Polen wirkt die Angstkampagne bis heute
       
       Wenn in Polen von „Asyl“ oder „Kriegsflüchtlingen“ die Rede ist, denkt kaum
       jemand an die Millionen Ukrainerinnen, die seit Kriegsbeginn mit ihren
       Kindern ins Land gekommen sind. Denn Polens Behörden gaben ihnen einen
       zunächst auf 18 Monate befristete Aufenthaltsstatus mit Krankenversicherung
       und sofortiger Arbeitserlaubnis. Ähnlich werden die belarussischen
       Oppositionellen, die in Polen seit Jahren Schutz suchen, behandelt. Meist
       finden sie sofort Arbeit in der IT-Branche oder als Ärzte und
       Pflegepersonal in polnischen Krankenhäusern.
       
       2015 gewannen die Nationalpopulisten von der Recht und Gerechtigkeit (PiS)
       mit einer Angstkampagne gegen Geflüchtete die Parlamentswahlen. So kippte
       die damalige Hilfsbereitschaft der Polen in ihr Gegenteil um. Ganz wie von
       den PiS-Propagandisten gewollt, lehnten die Polen plötzlich mehrheitlich
       jede Solidarität mit Ländern wie Griechenland oder Italien ab.
       
       Das zieht sich bis heute. Die meisten Polen lehnen jede EU-weite
       Umverteilung von Geflüchteten ab. Offiziell begründet die Regierung in
       Warschau dies mit dem besonderen Freiheitsverständnis der Polen. Jeder
       solle frei wählen dürfen, wo er nach geglückter und anerkannter Flucht
       leben wolle. Polen jedenfalls werde niemanden festhalten, den es in ein
       anderes Land ziehe.
       
       ## Deutschland für Änderungen bei Familien
       
       Deutschland unterstützt die Pläne der EU-Kommission im Kern, das gilt auch
       für die grünen Minister*innen. Nur bei Detailfragen tritt
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser für Änderungen ein. Dazu gehört
       insbesondere die Frage, ob Familien ebenfalls die Prüfverfahren an den
       EU-Außengrenzen durchlaufen sollen. Die Pläne der EU-Kommission sehen
       derzeit Ausnahmen nur für Familien mit Kindern unter 12 Jahren vor, die
       Bundesregierung will, dass das auch für Jugendliche bis 18 Jahre gilt.
       
       [1][Innerhalb der SPD- und Grünenfraktionen im Bundestag gibt es zwar
       Unmut] über die geplante EU-Asylrechtsverschärfung und die Position der
       Bundesregierung, doch nur wenige Abgeordnete äußern das bisher öffentlich.
       Zumindest bei den Grünen macht aber die Basis Druck. Scharfer Protest kam
       zuletzt auch von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen wie ProAsyl
       oder Amnesty International.
       
       ## Die Politik der offenen Arme ist in Schweden vorbei
       
       Spätestens nachdem im vergangenen Herbst in Stockholm die neue Regierung
       ihr Amt angetreten hatte, war es in Schweden mit einer einigermaßen
       menschenwürdigen Flüchtlingspolitik vorbei. Um überhaupt das Amt des
       Ministerpräsidenten antreten zu können, war Ulf Kristersson gezwungen, für
       sein Regierungsprogramm praktisch komplett die migrationspolitischen
       Vorstellungen der rechten Schwedendemokraten zu übernehmen, auf deren
       parlamentarische Unterstützung er angewiesen ist.
       
       Die Einrichtung von grenznahen Asylzentren, in denen Migranten bereits auf
       ihren Schutzstatus hin überprüft werden sollen, ist damit ganz im Sinne
       Stockholms. Für humanitäre Ausnahmen, wie sie die Bundesregierung fordert,
       darf sie sich dagegen keine schwedische Unterstützung erwarten. Zwingend
       für Stockholm ist auch, dass es keine obligatorische Umverteilung der
       Asylsuchenden, sondern nur eine schwammige „Solidarität“ geben soll. Einen
       „Zwangsmechanismus“ lehnen die Schwedendemokraten ab.
       
       ## Wenig Beachtung in Tschechien
       
       Trotz seiner schicksalsträchtigen Agenda steht das Treffen der
       EU-Innenminister in Tschechien nicht im öffentlichen Diskurs, dem
       Innenminister Vit Rakusan scheint die Reise nach Luxemburg nicht einmal
       eine Pressemitteilung wert. Während seiner EU-Ratspräsidentschaft 2022 hat
       Tschechien seine Karten allerdings schon offen auf den Tisch gelegt: Prag
       will eine verstärkte Kontrolle der EU-Außengrenzen, eine bessere
       Kooperation mit Serbien und die Einführung eines Konzepts der „flexiblen
       Solidarität“.
       
       ## Italien fühlt sich im Stich gelassen
       
       „Italien wird allein gelassen“: Ministerpräsidentin Giorgia Meloni greift
       immer wieder zu diesem Satz, wenn es um Migrationspolitik geht, und sie
       steht mit dieser Sicht keineswegs allein da – über alle Parteiengrenzen
       hinweg geben sich Politiker*innen überzeugt, dass ihr Land nicht die
       notwendige Unterstützung durch Europa erfahre, um mit den
       Migrationsbewegungen übers Mittelmeer fertig zu werden.
       
       Gerne fällt auch ein zweites Wort, das von der „emergenza“, dem Notstand,
       mit dem Italien auf diesem Feld konfrontiert sei. In der Tat stellt die
       zentrale Mittelmeerroute, von Libyen und Tunesien aus Richtung Norden,
       einen der Hauptmigrationswege dar. Und: Tatsächlich stechen immer wieder
       Schiffe von der Türkei und Ägypten aus Richtung Süditalien in See.
       
       Meloni hatte im Herbst 2022 die Wahl auch mit dem Versprechen gewonnen, mit
       der „illegalen“ Zuwanderung werde unter ihr Schluss ein. Allein, das
       Versprechen konnte sie nicht halten: Im laufenden Jahr kamen bisher etwa
       52.000 Migrant*innen übers Mittelmeer, 2,5-mal so viele wie im selben
       Zeitraum 2022.
       
       Von „Notstand“ kann jedoch angesichts einer solchen Zahl keineswegs die
       Rede sein, auch weil weiterhin ein Gutteil der Ankommenden weiter zieht,
       etwa nach Deutschland, Frankreich oder Skandinavien. So hat das
       Forschungsinstitut ISPI errechnet, dass von rund einer Million
       Flüchtlingen, die in den vergangenen zehn Jahren übers Mittelmeer ankamen,
       nur die Hälfte Italien als Transitland nutzte.
       
       Trotzdem hat Meloni den Kampf aufgenommen und zuallererst den NGOs ihre
       Arbeit erschwert. Wann immer diese Menschen aus dem Meer retten, wird ihnen
       ein Hafen im Norden des Landes zugewiesen – [2][die
       Seenotretter*innen] sind so tagelang aus dem Verkehr gezogen. Auch die
       Migrant*innen bekamen Roms harte Hand zu spüren: Ihnen wurde die
       Möglichkeit gestrichen, als Fälle anerkannt zu werden, denen humanitärer
       Schutz zusteht, wenn sie nicht als klassische Asylfälle anerkannt wurden.
       
       Zielführend sind solche Maßnahmen nicht, und das weiß die postfaschistische
       Regierungschefin genau. Von der EU fordert sie deshalb Ressourcen, um nicht
       anerkannte Flüchtlinge in deren Heimatländer zurückzuschicken. Italien
       kommt bisher über jährlich rund 6.000 Rückführungen nicht hinaus, vor allem
       nach Tunesien, dem einzigen Land, mit dem das Rücknahmeabkommen
       funktioniert.
       
       Roms grundlegende Haltung: Die Probleme sollen bei der Abfahrt der
       Migrant*innen gelöst werden, und nicht erst bei der Ankunft. Einem
       Prüfverfahren von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen wie für die
       Brüsseler Asylreform diskutiert steht man folglich positiv gegenüber.
       Zugleich soll Brüssel Ressourcen bereitstellen, damit Länder wie Libyen die
       Abfahrten der Migrant*innen verhindern. Am Dienstag besuchte Meloni dazu
       Tunesien. Ginge es nach ihr, sagte sie beim Treffen mit Präsident Kais
       Saied, werde sie bald schon nach Tunis zurückkehren – dann in Begleitung
       von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
       
       7 Jun 2023
       
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