# taz.de -- Italien unter Meloni: Links in einem rechten Land
       
       > Seit einem Jahr wird Italien von Rechten regiert. Die linke Szene in
       > Bologna bekommt das bisher wenig zu spüren. Migranten und Frauen dafür
       > umso mehr.
       
       BOLOGNA taz | Es ist ein zu warmer Abend im Oktober, das Zentrum Bolognas
       ist voller Touristen und Studierenden, die für das beginnende Semester
       angereist sind. Weltkulturerbe ist die prächtige Altstadt, über 40
       Kilometer lang sind die Säulengänge vor den mittelalterlichen Gebäuden. Wer
       in Richtung Norden unter ihnen entlang flaniert, landet unweigerlich am
       Hauptbahnhof, einem sandfarbenen Bau jüngeren Datums. Dessen Vorgänger
       wurde am Morgen des [1][2. August 1980] zerstört. Ein Kommando der
       neofaschistischen Nuclei Armati Rivoluzionari hatte einen Koffer mit einer
       Zeitbombe im überfüllten Wartesaal des Bahnhofs abgestellt. Die Explosion
       war kilometerweit zu hören. Das Dach brach zusammen. 85 Menschen starben,
       mehr als 200 wurden verletzt.
       
       Lange war von dem Attentat in der Öffentlichkeit kaum mehr die Rede. Bis
       vor acht Wochen. Da trat Marcello De Angelis zurück. Er war Sprecher der
       Region Latium, die von der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia von
       Giorgia Meloni regiert wird. Einst war De Angelis Mitglied der
       neofaschistischen Gruppe Terza Positione. Sie wird dem Umfeld der
       Bologna-Attentäter zugerechnet. De Angelis’ Schwager wurde wegen des
       Attentats verurteilt. Dass Rechtsextreme den Bahnhof sprengten, wurde in
       viele Jahre dauernden Prozessen festgestellt. De Angelis aber behauptete
       kürzlich: „Sie haben nichts damit zu tun. Richter und Institutionen wissen
       das. Und sie lügen.“
       
       Der Vorfall zeigt, wie tiefgreifend sich die politische Landschaft in
       Italien verändert hat. [2][Vor genau einem Jahr], am 22. Oktober 2022,
       wurde Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia Regierungschefin. Die Partei
       der einstigen faschistischen Bewegung hat seither die Macht im Land.
       Unvorstellbar schien das vielen noch vor kurzer Zeit. Wie haben sich das
       Leben, Alltag, die Bedingungen für soziale Kämpfe linker Aktivist:innen
       geändert?
       
       Nicht erst durch den Anschlag wurde Bologna zu einem der Orte, an dem die
       Auseinandersetzung zwischen der Linken und der extremen Rechten in Italien
       sich in besonderer Weise verdichtet. Der in Italien [3][berühmte Aufstand
       1977] spielte sich hier ab, die weltberühmte Universität brachte viele
       Theoretiker hervor, die starken Einfluss auf die sozialen Bewegungen des
       Landes hatten. Und diese haben bis heute hier einen Schwerpunkt. Und auch
       ein Jahr nach Meloni hat die Stadt noch immer eine große linke Szene.
       
       Auf der Südseite der Innenstadt etwa haben Aktivist:innen am 6. Oktober
       das Istituto Santa Giuliana besetzt – ein leer stehendes, bis vor Kurzem
       von der Kirche betriebenes Internat, braun verklinkert, vier Stockwerke.
       Unten sind Unterrichts- oben Schlafräume. Zwei Kollektive stehen hinter der
       Besetzung: Das Teatro Polivalente Occupato und eine Gruppe namens Làbas.
       Seit Jahren gehen deren Aktivist:innen immer wieder in leer stehende
       Gebäude in der Stadt. Sie protestieren gegen die explodierenden Mieten,
       versuchen, temporären Wohnraum zu schaffen. Am dritten Abend der Besetzung
       hängt ein Transparent aus dem Fenster. „Wohnen ist ein Recht“, steht
       darauf. Drinnen sitzen junge Leute im Hof, rauchen, ein paar Flüchtlinge
       sind dabei.
       
       „Allen fehlt Wohnraum, die Menschen werden verdrängt – Geflüchtete,
       Studierende, Arme. Den Protest dagegen wollen wir hier zusammenbringen,“
       sagt eine junge Frau, die sich als Giulia vorstellt. Seit 2015 besetzt sie
       immer wieder Häuser [4][in Bologna]. Bis zum Sommer war in dem Gebäude eine
       Nonnenschule. Dann ging der Kirche das Geld aus. Das Gebäude wird nun
       verkauft. Der neue Eigner will ein kommerzielles Studentenwohnheim daraus
       machen. „Noch eins“, sagt Giulia. „Die Stadt ist schon voll davon.“ Die
       Kirche beantragte noch am Tag der Besetzung bei der Polizei die Räumung.
       
       Giulia erzählt vom lokalen Flüchtlingsheim in der Via Mattei. Dort sind 800
       Menschen untergebracht, es gibt aber nur 250 Plätze. Die meisten wohnen in
       überfüllten Zelten. Einer der Bewohner ist zu der besetzten Schule
       gekommen, sein Name ist Youcif, er stammt aus dem Sudan. Er zeigt ein Video
       aus dem Innern des Lagers. „60 bis 100 Menschen in einem Zelt“, sagt er.
       „Das hält man nicht aus. Und bald kommt der Herbst.“
       
       Die Besetzer:innen würden am liebsten Geflüchtete und Studierende in
       dem Haus wohnen lassen. Doch sie werden nicht bleiben können. Im August
       erließ die Meloni-Regierung ein Dekret: Neue Besetzungen müssen innerhalb
       weniger Werktage geräumt werden. „Früher gab es hier Squats, die sich fünf
       Jahre oder länger halten konnten“, sagt Giulia. Zugute komme ihnen zwar,
       dass Bolognas Bürgermeister Matteo Lepore zur sozialdemokratischen PD
       gehört. „Aber er muss natürlich vollziehen, was die Regierung anordnet.“
       
       An diesem Abend aber ist von der Polizei noch nichts zu sehen. Sie rückte
       erst am 17. Oktober an, als das Istituto Santa Giuliana geräumt wurde. Sind
       solche Besetzungen unter der neuen Regierung also gefährlicher als früher?
       „Wenn man keinen Widerstand leistet, gibt es keine Verhaftung“, sagt
       Giulia. „Sie stellen die Personalien fest, das war’s dann.“ Die direkte
       Repression gegen Aktivist:innen habe nicht zugenommen, sagt Giuilia.
       „Da sehe ich keine sehr starken Veränderungen bisher.“ Die Veränderungen
       seien eher schleichend.
       
       In den letzten Monaten habe die Regierung eine Welle von Dekreten erlassen.
       Unter anderem wurde das Haftalter herabgesetzt. Meloni habe „den Gedanken
       von Sicherheit und Repression stärker gemacht, auch gegenüber jungen
       Leuten“, sagt Giulia. Gleichzeitig sei nun sehr viel von traditionellen
       Familienrollen die Rede. Das sei nicht ohne Folgen geblieben. „Im Sommer
       nahm die Gewalt gegen Frauen zu, die Zahl der Femizide stieg. Wir sehen da
       einen klaren Zusammenhang.“
       
       Meloni gehe die Dinge viel ruhiger an als ihr Konkurrent Matteo Salvini von
       der Lega. „Der war viel impulsiver, hat auf Propaganda und Theater gesetzt.
       Häfen zu, NGOs plattmachen“, sagt Giulia. „Meloni ist viel cleverer.“ Das
       einzige Thema, bei dem sie bisher angreifbar sei, seien die hohen
       Flüchtlingszahlen. Doch die Kritik an Meloni bleibt bisher verhalten. „Sie
       vermittelt den Leuten den Eindruck, dass sie tut, was sie kann und ihr
       Bestes gibt“, sagt Giuilia.
       
       „Und sie kann die Schuld auf andere schieben – zum Beispiel auf den
       Präsidenten von Tunesien, weil der unkooperativ ist.“ Gleichzeitig spiele
       sie geschickt etwa ukrainische und afrikanische Flüchtlinge gegeneinander
       aus. „Sie gewinnt viel Unterstützung in der Bevölkerung, wenn sie sagt,
       dass manche Geflüchtete wichtiger sind als andere, dass Männer aus Afrika
       doch in ihren Ländern arbeiten können.“ So unterstützen viele, dass Meloni
       neue Internierungslager bauen wolle und [5][bei der Migration] auf
       Kriminalisierung und Militarisierung setzt.
       
       Die jungen Leute in dem besetzten Internat fürchten, dass Meloni, anders
       als viele Regierungschefs vor ihr, noch eine Weile im Amt bleibt. „Sie hat
       eine starke, solide Strategie“, sagt Giulia. Auch, weil sie nicht gegen die
       EU arbeite. „Sie will die nicht verlassen, wie die Lega immer getönt hat.
       Sie will sie zu einer Union aus stärkeren Nationalstaaten umbauen.“ Die
       nächste Besetzung ist nur wenige Ecken weiter. Ein Grundstück der
       Universität, die Orientalistik-Fakultät, am Rande der Altstadt. Seit diesem
       Wochenende haben Studierende hier Zelte aufgestellt. Es ist dunkel, das Tor
       haben sie zugeschoben, im orangenen Licht der Straßenlaternen sitzen sie an
       einem Tisch im Hof, trinken Bier, spielen Spiele.
       
       „Das ist kein symbolischer Protest“, sagt Anna, eine junge Frau aus der
       Nähe von Mailand, die im zweiten Jahr Politikwissenschaft studiert. „Wir
       können uns wirklich kein Zimmer leisten.“ Sie kochen in dem
       Studierendencafé in einer kleinen Baracke, waschen sich in der
       Uni-Toilette. Bis zu 800 Euro kostet in Bologna ein WG-Zimmer, in den
       kommerziellen Wohnheimen sind es schnell 1.000 Euro. „Meloni [6][hat
       Sozialleistungen gekürzt] und das trifft auch die Jugend“, sagt Anna. Und
       zwar umso schlimmer, weil es in Italien keinen Mindestlohn gebe. Einige der
       Studierenden erzählen, dass sie bei Lieferdiensten arbeiten und teils nur
       auf 2,50 Euro Lohn die Stunde kommen.
       
       ## Subtile Repression der Regierung
       
       Viele würden vom Haus der Eltern nach Bologna pendeln, weil die Zeitkarte
       im Regionalzug billiger sei als ein Zimmer. „Jeden Morgen, jede Nacht 3
       Stunden im Zug“, sagt Anna. „Wer dann nicht mitkommt und nicht genug Credit
       Points nachweist, verliert seinen Studienplatz, muss den Studienkredit
       zurückzahlen und ist verschuldet.“ Die Rechten redeten gern von
       „Meritokratie“, sagt Anna. Davon also, dass jeder bekommen solle, was er
       verdient. „Aber wer drei Jobs braucht, um seine verschimmelte Studentenbude
       zu behalten, kann nicht viel lernen. Sie tun so, als ob es diese
       Unterschiede nicht geben würde.“
       
       Die Repression der Regierung gegen Protestbewegungen sei „eher subtil“,
       meint sie dann. „Es ist eher eine Delegitimierung. Sie sagen: ‚Sie sind
       faul und wollen nicht arbeiten.‘ Oder: ‚Sie wollen aus schönen Häusern
       hässliche, verfallende Sozialzentren machen.‘“ Am 2. Oktober gab es in
       Turin Proteste von Schüler:innen gegen einen Besuch Melonis. Die Polizei
       verprügelte die jungen Leute. „Da hat man gesehen, was die Antwort sein
       kann, wenn man gegen die Regierung ist.“ Angst hätten sie aber keine, sagt
       Anna.
       
       Die Linie zwischen der heutigen Regierungspartei und dem historischen
       italienischen Faschismus ist sehr direkt. In der von 1943 bis 1945
       bestehenden „Italienischen Sozialrepublik“, einem NS-Protektorat unter dem
       Faschistenführer Benito Mussolini, gab es eine Staatspartei: Die
       Republikanisch-Faschistische PFR. Deren Ex-Funktionäre gründeten 1947 das
       Movimento Sociale Italiano (MSI). Die wiederum ging 1995 in der Alleanza
       Nazionale (AN) auf, mit der Silvio Berlusconi ab 1995 mehrfach koalierte.
       Und Funktionäre der AN gründeten dann 2012 die Fratelli d’Italia – die
       heutige Regierungspartei.
       
       Nicht weit entfernt von Bologna liegt Reggio Emilia. Hier lebt seit über 20
       Jahren Matthias Durchfeld. Der Geschichtsarbeiter ist Direktor des
       [7][Instituts Istoreco]. Die in einem ehemaligen Klostergebäude
       untergebrachte Einrichtung hat über drei Kilometer Regalböden an Dokumenten
       über den Faschismus und den Partisanenkampf zusammengetragen. Ihre Aufgabe
       sehen sie vor allem darin, junge Menschen über die Vergangenheit
       aufzuklären. Melonis Wahl habe ihn und seine Mitarbeiter „ein wenig
       geschockt“, sagt Durchfeld. Eine Zunahme an Repression gegen die
       antifaschistische Gedenkarbeit gebe es bisher aber nicht, sagt Durchfeld.
       Und bisher sei auch der finanzielle Schaden der Meloni-Regierung für die
       Gedenkarbeit „relativ übersichtlich“, sagt Durchfeld.
       
       Das Netzwerk der Geschichts-Institute wird auch vom Staat gefördert: Mit
       dem Bildungsministerium in Rom gibt es einen Vertrag. 30 Lehrer:innen
       sind aus dem Staatsdienst freistellt, um für die Institute zu arbeiten und
       dort Schulprojekte zu organisieren. Daran hat sich auch nach Melonis
       Amtsübernahme nichts geändert „Seit Jahrzehnten ist das nie infrage
       gestellt worden“, sagt Durchfeld.
       
       Über ein regionales „Gesetz für die Erinnerung“ kommt indes die meiste
       Unterstützung von der sozialdemokratischen Regierung der Region Emilia
       Romagna. Und auch 42 Städte der Region zahlen heute Mitgliedsbeiträge an
       das Istoreco – darunter auch solche, die von rechten Bürgerlisten regiert
       werden. In der Vergangenheit hatten andere Institute aus dem Netzwerk
       „politisch motivierte Kündigungen“ ihrer Räume erhalten, sagt Durchfeld. An
       „zwei, drei“ solcher Fälle könne er sich erinnern, etwa im piemontesischen
       Biella. Doch das sei bereits vor Melonis Amtsübernahme geschehen. „Die Lega
       Nord wollte die Institute ja auch nicht.“
       
       Politische Einflussnahme durch rechte Politiker gebe es heute durchaus,
       sagt Durchfeld. Und zwar vor allem beim Thema der Foibe. Dabei handelt es
       sich um wohl einige Tausend faschistische italienische Kämpfer, die ab 1943
       von jugoslawischen Partisanen im Gebiet des heutigen Istriens getötet
       wurden. Die extreme Rechte in Italien bemüht sich nach Kräften, dass sie
       als Opfer antiitalienischer Gewalt betrachtet werden. „Da wird enorm
       Einfluss genommen“, sagt Durchfeld. Es gebe Regionalgesetze, Vorschriften
       zu Sprachregelungen, vor allem im Nordosten des Landes. An dem Versuch, die
       Tötung der Foibe als „Völkermord an Italienern“ zu bezeichnen, zeige sich
       das seit jeher bestehende Problem der „Veropferung der italienischen
       Geschichte und des Vertuschens der italienischen Täter“, sagt Durchfeld.
       „Das hat eine lange Tradition.“
       
       Diese Form rechter Geschichtspolitik habe sich schon zu Zeiten Berlusconis
       abgezeichnet. „Den Gedenktag am 10. Februar versucht die extreme Rechte so
       zu besetzen, dass die deutschen Nationalsozialisten und jugoslawische
       Kommunisten die Italiener getötet haben – die Italiener sind demnach zwei
       Mal Opfer und nie Täter.“ Neu sei, dass die Regierung Melonis versuche, in
       diesem Sinne Einfluss auf Schulen zu nehmen. „Es gab Rundschreiben, dass
       alle den Foibe-Tag begehen müssen“, sagt Durchfeld. „Sie haben sogar
       Spruchbänder ans Kolosseum gehängt, was für die ermordeten Juden nie getan
       wurde.“
       
       Der rechten Geschichtspolitik etwas entgegen zu setzen, versucht das VAG61,
       ein linkes Kulturzentrum in Bologna. 2003 hatten Aktivist:innen des
       lokalen Indymedia-Kollektivs ein Gebäude besetzt, später vermietete die
       sozialdemokratische Stadtregierung ihnen ein kleines Haus im Norden der
       Innenstadt.
       
       ## Bologna habe eine „linke DNA“
       
       Im ersten Stock ist heute ein linkes Bewegungsarchiv untergebracht. Die
       [8][Seenotrettungs-NGO Mediterranea] hat hier ein Büro, genau wie die
       Redaktio der ZIC notes. Nachmittags gibt es Hausaufgabenhilfe, abends
       Lesungen und Konzerte. Bologna habe bis heute eine „linke DNA“, sagt
       Andrea, der seit Jahrzehnten im Vag 61 aktiv ist. Sein Name ist ein
       anderer, er will nicht, dass er in der Zeitung erscheint und hat um ein
       genderneutrales Pseudonym gebeten. „Aber es ist eher Glut als eine Flamme.
       Alles ist etwas ruhiger, aber noch da.“
       
       Das, so glaubt Andrea, dürfte auch damit zu tun haben, dass Meloni noch
       viel Geld zu verteilen hat. Kein Land bekommt mehr Geld aus dem 190
       Milliarden Euro schweren [9][EU-Covid-Wiederaufbaufond]s. Die vielen neuen
       Projekte befrieden Unmut – aber werden durch die Kürze der Zeit in die
       falschen Hände geraten: Die Mafia werde dafür sorgen, dass sie ihren Anteil
       bekommt, sagt Andrea. „Die soziale Frage wird voll durchschlagen, wenn in
       einigen Jahren die EU-Milliarden aufgebraucht sind.“
       
       Dass Meloni sich im Amt bisher anders verhielt, als viele befürchtet hatten
       – etwa die Solidarität mit der Ukraine und Israel oder der kooperative Kurs
       mit der EU –, sei vielleicht „eine italienische Sache“, sagt Andrea: „Hier
       macht keiner, was von ihm erwartet wird.“ Als Meloni gewählt wurde, dachte
       er nicht, dass es einen neuen Faschismus wie einst geben würde, „mit
       Partisanen oder so“. Das Hauptproblem hätten zunächst die Minderheiten:
       „Migranten und LGBTIQ. Gegen die gehen sie nun vor. Danach sind vielleicht
       andere dran.“
       
       Allein in den Bereichen Feminismus und Migration hingegen hätten die
       Proteste zugenommen. Es sind die Bereiche, in denen die Regierung konkrete
       Änderungen verfolge – beim Abtreibungsrecht und bei den Abschiebungen. Doch
       diese Felder zu großen, kollektiven Protesten zusammenzubringen, sei
       schwierig. „Aber das ist ein allgemeines Problem der letzten Jahre.“
       Immerhin: Rund 200.000 Menschen sind am 7. Oktober dem Aufruf von
       Gewerkschaften und NGOs zu Sozialprotesten in Rom gefolgt. „Das richtete
       sich aber nicht gegen die Regierung an sich, sondern gegen geplante
       Änderungen beim Arbeitsrecht.“
       
       Die sozialen Bewegungen seien insgesamt etwas ruhiger als etwa zu Zeiten
       der Regierungen von Silvio Berlusconi, an denen ja ebenfalls Faschisten
       beteiligt waren. „Damals gab es keine sozialen Netzwerke, nur Protest auf
       der Straße“, sagt Andrea. „Heute suchen die Menschen andere Wege des
       Protests – oft im Netz.“ Rechte Demos gebe es hin und wieder, stärker
       geworden seien die nicht. „Es gibt hier nicht so viele sichtbare
       Faschisten.“ Einige Tausend würden kommen, wenn Rechtsextreme zum Gedenken
       an das Foibe-Massaker aufrufen würden. Zwei Häuser, die die faschistische
       Casa Pound-Bewegung in Bologna hatte, wurden geschlossen.
       
       „Das war ein langer Kampf“, sagt Andrea. Der Aufstieg der Fratelli d’Italia
       zur Regierungspartei habe eine Sogwirkung entfaltet – weg von der Straße,
       rein in die Partei. Um zu sagen, wie es weiter gehe, sei es noch zu früh,
       sagt Andrea. „Das Wahlsystem können sie nicht ändern, dafür bräuchten sie
       größere Mehrheiten. Dass es Plätze wie das Vag61 und die vielen anderen
       linken Orte im Land noch gebe, zeige die Grenzen der Macht der Regierung.
       „Es ist nicht so einfach, solche Orte plattzumachen. Im Wahlkampf kündigt
       man das an und danach macht man vielleicht hier und da eine kleine Räumung,
       und dann kann man sagen, wir haben geliefert, es geht ja auch viel um
       Rhetorik.“
       
       Es ist ein Paradox: Die Infrastruktur sozialer Projekte, von
       Graswurzelinitiativen ist in ganz Italien dicht – nicht nur in linken
       Zentren wie Bologna, auch in der Provinz gib es eine kaum zu überblickende
       Zahl etwa von Solidaritätsinitiativen. Doch das als Zeichen eigener Stärke
       wahrzunehmen, vermögen viele Aktivist:innen nicht.
       
       Andrea versteht das. „Es bleibt eben nur, sich anzupassen“, sagt er. Für
       Solidarität von unten, für Beratungsstellen oder Besetzungen, dafür reiche
       die Kraft der Bewegungen. Es sei „evident, dass das etwa für die Migranten
       sehr wichtig ist“. Aber die Erosion der Grund- und Menschenrechte, die die
       extreme Rechte produziert, zu stoppen – das sei nicht möglich. „Wir können
       das nur ein Stück weit kompensieren.“ Doch weil sich an der grundlegenden
       politischen Lage nichts ändere, seien eben viele frustriert.“
       
       Repression spiele dabei bislang nur bedingt eine Rolle. „Die gab es schon
       immer, das ist heute nicht anders als früher. Die Polizei war schon immer
       rechts, auch wenn die Regierung links war“, sagt Andrea. „Die verprügeln
       dich, egal wer regiert.“ Doch dass Menschen in Italien heute nicht auf die
       Straße gehen, weil sie Angst vor der Polizei haben – das sei nicht so. „Sie
       hält eher zu Hause, dass sie müde geworden sind, weil es keine positiven
       Veränderungen gibt.“
       
       22 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://en.wikipedia.org/wiki/Bologna_massacre
 (DIR) [2] /Ein-Jahr-Meloni/!5959210
 (DIR) [3] https://en.wikipedia.org/wiki/Movement_of_1977
 (DIR) [4] /Verkehrswende-in-Bologna/!5945366
 (DIR) [5] /Von-der-Leyen-auf-Lampedusa/!5957958
 (DIR) [6] /Gestrichene-Sozialhilfe-in-Italien/!5947928
 (DIR) [7] https://www.istoreco.re.it/
 (DIR) [8] https://de.sosmediterranee.org/helfen-fuer-mehr-menschlichkeit/?gclid=CjwKCAjwp8OpBhAFEiwAG7NaEkE_jesawmvOfUK7uld72J8fEBXZj8zMG0uA8NrKHsCuRxVHfzTrQBoC5eUQAvD_BwE
 (DIR) [9] https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/ngeu-covid-19-recovery-package/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Italien
 (DIR) Giorgia Meloni
 (DIR) Faschismus
 (DIR) Antifaschismus
 (DIR) GNS
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Italien
 (DIR) Italien
 (DIR) Mafia
 (DIR) Hannover
 (DIR) Italien
 (DIR) Albanien
 (DIR) Giorgia Meloni
 (DIR) Giorgia Meloni
 (DIR) Italien
 (DIR) Asylpolitik
 (DIR) Italien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Zentralstaat und Regionen in Italien: Die Lega setzt sich durch
       
       Italiens Senat beschließt eine Staatsreform zur Stärkung der reichen
       Regionen. Damit dürften staatliche Leistungen weiter auseinanderfallen.
       
 (DIR) Flüchtlingsdeal mit Albanien: Italien setzt auf Abschreckung
       
       Die Flüchtlingszahlen in Italien steigen. Die Regierung will nun eine
       restriktivere Unterbringung und vorgelagerte Asylzentren in Albanien.
       
 (DIR) 'Ndrangheta-Prozess in Kalabrien: Mafia-Bekämpfung all'italiana
       
       In Süditalien endet ein historischer Prozess gegen die Mafia und deren
       Helfer in Politik und Polizei. Wann geht auch Deutschland gegen die Mafia
       vor?
       
 (DIR) Kundgebung nach Femizid in Hannover: „Das Morden muss aufhören“
       
       Auf einer Gedenkkundgebung trauern feministische Aktivist*innen in
       Hannover um die 21-jährige Leonie F.. Sie wurde von ihrem Ex-Freund
       erstochen.
       
 (DIR) Melonis Asylverfahrenslager in Albanien: Zwischenlager nicht vorgesehen
       
       Meloni und ihr albanischer Amtskollege Rama einigen sich auf eine
       Zwischenstation für aus dem Mittelmeer Gerettete. Mit EU-Recht ist das
       unvereinbar.
       
 (DIR) Memorandum zwischen Italien und Albanien: Migrationsdeal alla Meloni
       
       Italien darf 2024 zwei Aufnahmelager für Asylsuchende in Albanien
       errichten. Dessen Ministerpräsident spricht von einem „Abkommen der
       Brüderlichkeit“.
       
 (DIR) Medien-Skandal in Italien: Giorgia Meloni nach Drama getrennt
       
       Nachdem belastende Aufnahmen von Melonis Partner auftauchten, trennt diese
       sich. Der perfekte Skandal fällt in einen Streit mit Marina Berlusconi.
       
 (DIR) Brücke von Messina: Rechte bauen gerne Brücken
       
       Italiens Rechtsregierung belebt ein Brückenprojekt vom Festland nach
       Sizilien neu. Für die Umwelt wäre das eine sehr schlechte Idee.
       
 (DIR) Ein Jahr Meloni: Die disziplinierte Populistin
       
       Vor einem Jahr kam die Rechtspopulistin Giorgia Meloni in Italien an die
       Macht. Viele im Land und in ganz Europa beunruhigte ihr Sieg. Zu Recht?
       
 (DIR) Flucht und Migration: Sie kommen trotzdem
       
       Im Diskurs über Flucht übernehmen Konservative die Sprache und die
       Forderungen der Rechten. Doch Migration lässt sich nur schwer
       kontrollieren.
       
 (DIR) Grundsicherung in Italien gestrichen: Kein Geld mehr für „Beschäftigbare“
       
       Italiens Regierung streicht Arbeitslosen die Unterstützung. Betroffene
       werden per SMS informiert – und die Kommunen sind nicht vorbereitet.