# taz.de -- Jazz-Geschichten aus der DDR: Sound der Unzufriedenen
       
       > In der DDR war der Jazz auch Freiraum. In der Berliner Volksbühne
       > unterhielt sich darüber Thomas Meinecke mit Freejazz-Pionier Günter
       > „Baby“ Sommer.
       
 (IMG) Bild: Eine nach vorn drängelnde Kraft im Freejazz: Günter „Baby“ Sommer
       
       Einer der Vorteile von Schallplatten ist ja der Umstand, dass man mit der
       Schallplattenhülle auch was zum Herzeigen hat – so ein CD-Booklet ist da
       kein Ersatz, vom hüllenlosen digitalen Stream nicht zu reden. Diese
       Schallplattenhüllen sind durchaus ein gewichtiges Argument in der
       „Plattenspieler“-Reihe, ein Gesprächsformat mit wirklich simplen Regeln:
       Der Moderator Thomas Meinecke lädt einen Gast ein, beide bringen
       Schallplatten mit, die sie sich vorspielen, und darüber geredet wird
       natürlich auch. Damit man was zum Gucken hat, werden die Hüllen groß an die
       Wand projiziert.
       
       Lange betrieb der Autor und Musiker Meinecke seinen [1][Plattenspieler im
       Berliner HAU-Theater], nun macht er das an der Volksbühne. Zum Auftakt
       hatte er vergangene Woche den Schlagzeuger und Freejazz-Pionier Günter
       „Baby“ Sommer in den großen Saal geladen. Der zeigte sich immerhin propper
       durchgesprenkelt mit einem doch eher älteren Publikum für eine gemütliche
       Plauderstunde. Manchmal verläpperte sich das Gespräch auf Abwegen und
       sammelte sich wieder. Schön, wie man zwischendurch in den Gesichtern der
       beiden älteren Herren (Meinecke ist Jahrgang 1955, Sommer 1943) so ein fast
       kindliches Entzücken sah, dass man gleich dem Schiller recht geben wollte
       mit seinem Satz vom Menschen, der nur da ganz Mensch sei, wo er
       (Schallplatten) spielt.
       
       Wobei ja auch großartige Musik zu hören war. Hymnisches von Albert Ayler,
       Aretha Franklin und Art Blakey mit seinen Jazz Messengers. [2][Und
       eindrückliche Momente der DDR-Musik], die Ulrich Gumpert Workshop Band
       etwa, in der sich neben Sommer die Prominenz des DDR-Freejazz sammelte. Und
       deren Sessions, erzählte Sommer, am Anfang immer erst eine Tauschbörse
       waren, für Trabant-Ersatzteile oder was eben sonst nicht auf dem normalen
       Geschäftsweg zu haben war in der Mangelökonomie DDR.
       
       Und dass dieser ungebärdige Jazz [3][der Sound der Unzufriedenen] war im
       Land, „gegen den staatlich verordneten Gleichschritt“. Dass es die Jazzer
       im „Freiraum des Nonverbalen“, so Sommer, aber auch leichter hatten als die
       Rockbands, die immer wieder mit ihren Texten aneckten. Wie Sommer zu seinem
       „Baby“ kam, erzählte er auch: Mitte der Sechziger wurde er mal von einem
       Bandleader angepflaumt: „Willste alles neu erfinden, wie Baby Dodds?“ Dodds
       war der erste bedeutende Jazz-Schlagzeuger.
       
       Zu diesen Erzählungen lieferte Meinecke manchmal ein Stichwort, ergänzte
       mit Musik und nutzte am liebsten die Chance, zu seinem Plattensammlerwissen
       von den Gastplatten noch neues Plattenwissen zu sammeln. Als etwa wieder so
       eine heftige Improvisation zu hören war, mit der im europäischen Freejazz
       alles Dahergebrachte dekonstruiert wurde. „Die Kaputtspielphase“, sagte
       Sommer. „Diese Musik macht mich glücklich“, meinte Meinecke.
       
       Gemütlich ging es hin und her, abschließend erklärt wurde nichts, die Musik
       war toll, und verblüfft durfte man feststellen, als ein
       Volksbühnenmitarbeiter darauf drängte, endlich mal Schluss zu machen, dass
       man da bereits zweieinhalb Stunden all that jazz gelauscht hatte.
       
       26 Oct 2022
       
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