# taz.de -- Kammerspiele nach Corona: Ächzen unter der Stofffülle
       
       > Die Münchner Kammerspiele suchen die Reibung: mit postkolonialen,
       > feministischen und deutschlandkritischen Themen.
       
 (IMG) Bild: Szene aus „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ an den Münchner Kammerspielen
       
       Auf der Pressekonferenz zur kommenden Spielzeit 2021/22 präsentieren sich
       die Münchner Kammerspiele, als müssten sie die Stadt im Alleingang mit
       Kultur überziehen und dazu noch mit der Welt vernetzen. Neben etlichen
       Premieren – nach wie vor das Stadttheater-Kerngeschäft – schaut man voraus
       auf Konzert- und Diskursformate, vielgliedrige kulturelle „Forschungs“- und
       Bildungsoffensiven und „Sisterhoods“ mit Kiew, Warschau und Lomé.
       
       Das Full-Service-Programm von Barbara Mundel, deren Intendanz im Herbst
       2020 inklusiv, machtsensibel und von Beginn an coronagebeutelt gestartet
       war, versucht das internationale und freieszeneaffine Erbe ihres zuletzt
       extrem erfolgreichen Vorgängers Matthias Lilienthal mit dem eigenen, in
       Freiburg etablierten Theater für die Stadt zu fusionieren. Die Erfahrung
       der letzten Monate, die den Theatern ihren Bedeutungsverlust verdeutlicht
       und ihnen zugleich neue sozialpolitische Handlungsfelder untergeschoben
       hat, hat Mundel in ihren Ausweitungstendenzen nur bestärkt: „Wir können es
       uns nicht erlauben, unter uns zu bleiben“, sagt sie.
       
       Das Projekt zum Statement wurde an jenem Gewitterabend nachgeholt, an dem
       die deutsche Nationalmannschaft aus der EM stolperte: „What is the City but
       the People?“ war ein Schaulaufen von 150 Mitgliedern der Münchner
       Stadtgesellschaft, die auf dem zentralen Odeonsplatz ihre kleinen und
       großen Geschichten, Träume und Unterschiede feierten.
       
       Die Stadtraum-Performance nach einer Idee [1][des britischen
       Konzeptkünstlers Jeremy Deller] von 2017 wurde zwar auch schon anderswo
       umgesetzt, wirkt aber wie der eine noch fehlende Pfeiler des zum
       Spielzeitauftakt im Oktober 2020 eingeschlagenen Fundaments. Nur drei
       Wochen lang hatten damals inhaltlich entschiedene und ästhetisch
       durchwachsene Produktionen unmissverständlich klargemacht, dass die Neuen
       in München künftig (tänzerische) Körperlichkeit, Antirassismus, Feminismus
       und kritische Stadtgeschichte großschreiben würden.
       
       ## Die Wirklichkeit schlug zurück
       
       Dann verkehrte sich im Spielzeitmotto „Die Wirklichkeit nicht in Ruhe
       lassen“ das Objekt zum Subjekt und die Wirklichkeit ließ das Theater nicht
       in Ruhe. Im erneuten Lockdown verläpperten sich die Bemühungen im Hause
       Mundel im Soziopolitischen; kleine Gesten wie die Webserie „Dr. Berg“ des
       mit dem Downsyndrom geborenen Ensemblemitglieds Fabian Moraw fanden große
       Schaufenster und authentische Gesten Eingang in kleine Begegnungsformate:
       So konnte man sich etwa im minutenkurzen Eins-zu-eins echte Tränen von
       Wiebke Puls abholen.
       
       Das Rebooting allerdings hat dem Haus gutgetan, das mit einer irren
       Spielfreude aus der Zwangspause kam (und noch bis 30. Juli spielt). Zwar
       ächzen fast alle neuen Premieren unter der Stofffülle, die sich im Falle
       von „Who Cares“ (über die Zukunft der Pflege), „Bayerische Sufragetten“
       (über die Geschichte der Münchner Frauenbewegung) und dem
       deutsch-togoischen Film-Theater-Hybrid „Wir Schwarzen müssen
       zusammenhalten“ längeren Recherchephasen verdankt. Aber die meisten von
       ihnen sind auch pralles Theater – wenn auch zuweilen etwas umständlich
       darum bemüht, es zu sein.
       
       Auch Pinar Karabuluts Annäherung an die [2][Schriftstellerin Gisela Elsner]
       will viel. Und sie will es in dem knallbunten Schauspieler*innenabend
       „Sprung vom Elfenbeinturm“ in jeder Szene mit anderen ästhetischen Mitteln.
       Zwei so schnörkellose wie großartige Wut-Monologe von Gro Swantje Kohlhof
       und Zeynep Bozbay rahmen unter anderem eine komplett überzeichnete Groteske
       im Horrorpuppenmilieu und einen sozialrealistisch-tiefenscharfen Film.
       
       ## Wiederentdeckung vergessener Frauen
       
       Dieser „Abend gegen deine spießbürgerlichen Phantasien, deine Lebenslügen
       und deine Kompromisse“, wie er im Untertitel heißt, ist ein
       literarisch-biografisches Mash-up und kann ebenso wie die genannten
       Stückentwicklungen als Forschungsprojekt gelten.
       
       In Mundels Programmschiene, die sich der Wiederentdeckung vergessener
       Frauen und ihrer Stimmen verschrieben hat, passt eine wie Elsner gut rein,
       die den nie ganz entnazifizierten „bedeutschten Deutschen“ sprachmächtig
       die Leviten las, in satirischen Romanen wie „Fliegeralarm“ von 1989 Kinder
       mit Kriegsdevotionalien handeln ließ und schlagfertig Reporterfragen
       kontern konnte, die ihre „Seriosität“ als Schriftstellerin durch ihre „gute
       Ausstattung“ (vulgo: Oberweite) in Gefahr sahen.
       
       Karabulut und ihr Dramaturg Mehdi Moradpour feiern die 1937 ins Nürnberger
       Großbürgertum Hineingeborene, die den DDR-Sozialismus verherrlichte, ohne
       ihn zu kennen, und 1992 aus dem vierten Stock einer Münchner Entzugsklinik
       in den Tod sprang, in all ihrer Widersprüchlichkeit. Und sie tun es nicht
       rund und auch nicht durchweg gelungen, sondern wild und mutig.
       
       Dagegen will Jessica Glause in den „Sufragetten“ von vornherein alles
       richtig machen: Ein mustergültig diverser Cast (mit unterschiedlichen
       Handicaps, Körperformen und -farben, Thomas Hauser als queerer Mann ist
       dabei) steht hier stellvertretend für zehn Feministinnen auf der Bühne, die
       um 1900 herum von München aus für das Recht auf Bildung, Berufsausübung und
       den Gang an die Wahlurnen kämpften. Weil ein [3][Zentrum des Münchner
       Feminismus Anita Augspurgs und Sophia Goudstikkers Fotoatelier Elvira] war,
       das unkonventionelle Bilder von Frauen schoss, wird der Abend von
       Momentaufnahmen der Akteur*innen flankiert.
       
       Die Musik von Eva Jantschitsch zieht ihn in die Gegenwart. Und während beim
       Singen, Zitieren und Schweigen für so manch verschollenen Text aus
       Bühnenteilen der Drache zusammengebaut wird, der an der Fassade des
       Fotostudios prangte, bis Hitler selbst ihn entfernen ließ, wohnt man doch
       eher einer Geschichtsstunde bei. Wenig wird ausspart: weder der Hedonismus
       einer Fanny zu Reventlow noch die Spaltung zwischen Bürgerinnen und
       Arbeiterfrauen, Feministinnen-Fundis und -Realos.
       
       ## Strippenzieher an der Strippe
       
       Weniger beflissen als schillernd und chaotisch ist Jan-Christoph Gockels
       „Erwiderung“ auf den ehemaligen bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Franz
       Josef Strauß, der 1983 mit dem unglaublichen Spruch „Wir Schwarzen müssen
       zusammenhalten“ eine unheilige Allianz mit Togos Präsidenten Gnassingbé
       Eyadéma besiegelte, die die deutsche Kolonialgeschichte in eine
       Spezlwirtschaft voller Schmiergelder, afrikanischer Wurschtfabriken und
       Brauereien hinein verlängerte.
       
       Noch im Lockdown haben Gockel und sein langjähriger Kompagnon, der Schau-
       und Puppenspieler Michael Pietsch, mit Schauspielern, Musikern,
       Cartoonisten und Interviewpartnern aus Togo ein filmtheatrales Mosaik
       gebastelt, in dem eine zeitreisende Geisterjägerin auf eine lebensechte
       Strauß-Marionette trifft. Schön absurd: der Strippenzieher, der selbst an
       Fäden hängt!
       
       Zurück zur Literatur ging es an der Kammer mit Felicitas Bruckers
       Inszenierung von Wolfram Lotz’ Langgedicht „Die Politiker“: Eine mit vielen
       Wiederholungen und Gedankensprüngen herrlich ins Absurde ausgreifenden
       Suada für einen Sprecher, in der wie kleine vergiftete Pfeile bittere
       und/oder erhellende Wahrheiten stecken.
       
       Die kommen allerdings ein bisschen unter die Räder, während drei teils mit
       immensem Körpereinsatz agierende Schauspieler*innen in überraschend
       konkreten Spielsituationen den Text meist gleichzeitig, aber selten
       synchron abspulen. Doch auch als sich wider den Restsinn der Worte kehrende
       Sprechmusik ist das noch furios genug, dass Lodz es nicht bereuen wird, dem
       Haus seine Tagebücher für die nächste Spielzeit zur Uraufführung überlassen
       zu haben.
       
       19 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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