# taz.de -- Karl-Markus Gauß über Ukrainekrieg: „Pazifismus im Dienst des Angreifers“
       
       > Der Schriftsteller Karl-Markus Gauß hat häufig die Ukraine bereist. Er
       > fordert die sozialdemokratische Linke auf, sich von alten Annahmen zu
       > lösen.
       
 (IMG) Bild: Erbitterter Widerstand: ein schweres Maschinengewehr, montiert auf einem Privatwagen in der Ukraine
       
       taz am wochenende: Herr Gauß, Sie haben öfters die Ukraine bereist? 
       
       Karl-Markus Gauß: Zuerst habe ich den Osten und Süden kennengelernt.
       Insbesondere, als ich dort 2004 für mein Buch über die versprengten
       Deutschen („Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die
       Zips und am Schwarzen Meer“) recherchiert habe. Und die zumeist in eher
       bedrückenden Verhältnissen lebenden letzten Schwarzmeerdeutschen besucht
       habe.
       
       Sie waren aber auch im Westen des Landes? 
       
       Später war ich ein paar Mal zu dieser ganz besonderen Buchmesse nach Lwiw
       eingeladen. Deren Veranstaltungen werden von den Einheimischen geradezu
       gestürmt. Und zuletzt war ich ganz im Westen der Ukraine unterwegs, in
       Transkarpatien, dem Grenzgebiet zu Polen, der Slowakei und Ungarn: Das ist
       eine idyllische Landschaft, die einst mit den ausgelöschten jüdischen
       Schtetln bestückt war und in der wenige Meter von der Landstraße entfernt
       Massengräber zu finden sind.
       
       Der Ukraine wurde früher häufig abgesprochen, über eine eigene nationale
       Identität zu verfügen. Was sagen Sie dazu? 
       
       Als ich die ersten Male die Ukraine bereiste, schienen auf dieser Identität
       vor allen die zu bestehen, die sich gegenüber Russland abheben wollten.
       Doch in den letzten Jahren hat sich in der Bevölkerung ein positiver Bezug,
       ein Staatspatriotismus herausgebildet. Der hat nichts Völkisches und
       schließt viele Nationalitäten mit ein. Die Ukraine ist ja tatsächlich ein
       Staat mit vielen verschiedenen Nationalitäten. Diese zählen teilweise
       jeweils mehrere hunderttausend Menschen, die sich allesamt mit der neuen
       Ukraine identifizieren. Das trifft übrigens auch auf die sehr vielen
       Menschen zu, die von ihrer Herkunft oder Muttersprache her russisch sind.
       
       Hat es Sie überrascht, dass gerade die russischstämmigen Bewohner von
       Charkiv und Mariupol so erbitterten Widerstand gegen den Überfall der
       Russischen Föderation leisten? 
       
       Dass sie sich mehrheitlich nicht nach dem vermeintlichen Mutterland sehnen,
       konnte man wissen. Dass sich aber so viele so vehement gegen [1][die
       zwangsweise Befreiung vom „ukrainischen Joch“ durch Putin] wehren, ist
       dennoch erstaunlich. Es ist ein starkes Zeichen dafür, dass dieses
       Bewusstsein, der demokratischen Ukraine angehören zu wollen, eben keine
       nationalistische oder völkische Angelegenheit ist.
       
       Der Schriftsteller Franzobel hat in Österreich eine Polemik ausgelöst, weil
       er meint, die Ukraine hätte sich den überlegenen russischen Truppen besser
       ergeben. Es lohne nicht, zu kämpfen. 
       
       Das teile ich nicht. Sollten die Ukrainer etwa um unseres Friedens willen
       darauf verzichten, für ihre Souveränität und Freiheit zu kämpfen? Natürlich
       wünsche auch ich mir, [2][dass der Krieg] möglichst schnell beendet werde.
       Aber ich hoffe dabei nicht, dass Putin sich als Sieger davonstehlen und als
       Aggressor sich seine territorialen Beutestücke sichern kann. Ein Frieden
       auf dieser Basis würde ohnedies schon auf den nächsten Krieg deuten.
       
       Was ist mit Putins Behauptung, sich von Nato und Faschisten bedroht zu
       fühlen? 
       
       Wo sich die Faschisten hauptsächlich herumtreiben und von wo sie kommen,
       sieht man doch jetzt. Jedenfalls hat nicht die Ukraine Russland überfallen,
       sondern umgekehrt. Polen, Tschechien und die baltischen Staaten sind genau
       aus diesem Grund, um sich im Notfall verteidigen zu können, der Nato
       beigetreten. Der ukrainische Präsident Selenski fordert heute für sein Land
       wenigstens die EU-Mitgliedschaft, und zwar so schnell wie möglich.
       
       Viele westeuropäische Politiker sprechen mit dem russischen Angriffskrieg
       auf die Ukraine von einer Zeitenwende. 
       
       Vieles von dem, was ich seit meiner Jugend gedacht und an dem ich grosso
       modo bis heute festgehalten habe, scheint durch die jetzige Realität
       widerlegt zu werden. „Frieden schaffen durch immer weniger Waffen“, das
       schien mir ein halbes Jahrhundert lang eine ganz selbstverständliche Sache.
       Der Kult des männlichen Helden galt als lächerlich, ein Überbleibsel aus
       düsterer Vorzeit. Doch die oft durchaus angebrachte Kritik an der Nato ging
       einher mit der Selbsttäuschung, dass Russland im Prinzip an keinerlei Krieg
       interessiert wäre. Wir erleben also eine Zeitenwende. Und wie könnten wir
       bei einer solchen nun den Ukrainern weiterhin jene Waffen verweigern, die
       sie benötigen würden, um sich besser verteidigen zu können? Das wäre ein
       Pazifismus im Dienste des Angreifers.
       
       Herr Gauß, Sie wurden gerade in Leipzig mit dem Buchpreis zur Europäischen
       Verständigung geehrt. Lassen Sie uns hier auch über Ihr jüngstes Buch, „Die
       Jahreszeiten der Ewigkeit“, sprechen. Es beruht auf Tagebucheintragungen,
       die Sie fünf Jahre lang notierten … 
       
       … von genau meinem 60. bis 65. Geburtstag.
       
       Sie beschäftigen sich darin mit dem vom Putin-Regime angestifteten Aufstand
       im Donbass bis hin zum Ibiza-Video, also dem Skandal um die Käuflichkeit
       der rechtsextremen FPÖ in Österreich. Wenn man ein Tagebuch schreibt,
       beobachtet man da genauer? 
       
       Ob man genauer beobachtet, weiß ich nicht, aber ganz simpel gesagt: Man
       merkt sich mehr. Die Absicht, die Chronik der Welt zu schreiben, wäre
       vermessen. Vieles kommt in meinem Journal auch gar nicht vor, wie die
       Vorbeben auf den heutigen Krieg im Donbass und der Ukraine. Was ich täglich
       notiere, ein, zwei Seiten, ist denkbar heterogen. Politisches und Privates,
       Beobachtungen und Gedanken, Notizen zum Tag, Erinnerungen an vorgestern,
       Spekulationen auf morgen. Daraus komponiere ich nachträglich ein Buch, in
       dem ich meine kleine mit der großen Welt kreuze. Bei der literarischen
       Gestaltung nehme ich mir die literarischen Freiheiten, verboten soll nur
       sein, dass ich mich nachträglich klüger darstelle, als ich zum Zeitpunkt
       der ersten Niederschrift war.
       
       Neben literarischen Bemerkungen und Alltagsaphorismen fielen mir auch
       Bemerkungen auf, wie etwa, dass die Dummheit demokratieschädigend sein
       könne und die Verlierer die Falschen wählen. Das könnte man auch für elitär
       halten? 
       
       Ich hoffe nicht. Der Abschnitt über die sozialen Verlierer richtet sich
       nicht gegen diese, sondern gegen jene, die sie verächtlich machen und ihnen
       die Schuld an allem geben wollen. Viele Linke meiner Jugendzeit, die eine
       oft eher abstrakte Sympathie für die Benachteiligten, die Verlierer
       empfanden, hegen heute eine sehr konkrete Verachtung für sie, weil diese
       Ressentiments und Vorurteile hegen und außerdem die Frechheit besitzen, die
       Falschen zu wählen.
       
       Aber das ärgert Sie doch auch. Wie kann man auf sozial Schwächere zugehen,
       ohne paternalistisch zu wirken? 
       
       Sicher nicht mit pädagogischem oder kulturellem Dünkel, sondern eher doch
       auf ökonomischer und sozialer Ebene. Es ist eine oftmals traurige, aber
       simple Tatsache, dass die reale wirtschaftliche Situation der Menschen ihr
       Denken und Fühlen prägt und sie gegebenenfalls eben auch zum Schlechteren
       neigen lässt.
       
       Immer wieder lese ich aus Ihren Bemerkungen ein Lob der bürgerlichen
       Tugenden heraus. Wird man im Alter schlicht konservativer? 
       
       Gute Frage. Lebensgeschichtlich betrachtet, war das Wort bürgerlich für
       meine Generation ein Schimpfwort. Es stand für engstirnig, spießig,
       obrigkeitsfromm. Aber bei meinen Reisen in vielen Ländern im Osten und
       Südosten Europas habe ich den Eindruck gewonnen, dass diesen Gesellschaften
       genau dieses abgeht. Nämlich ein gewisses Maß an bürgerlichen Formen und
       Haltungen, wie sie sich bei uns historisch herausbilden konnten. Und dieses
       Bürgerliche sollte nicht das Privateigentum des Bürgertums sein, sondern
       eine zivilisatorische Errungenschaft, auf die alle Anspruch haben sollten.
       
       27 Apr 2022
       
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