# taz.de -- Russischer Autor Vertlib: „Das Trauma der Diktatur“
       
       > Der Leningrader Vladimir Vertlib spricht über seinen Roman „Zebra im
       > Krieg“, Verheerungen der Stalinzeit und den Konflikt Russlands mit der
       > Ukraine.
       
 (IMG) Bild: Aufgewachsen in einer Diktatur, entwickeln sich viele zu Menschen ohne Grundvertrauen in die Welt
       
       taz: Herr Vertlib, in Ihrem neuen Roman „Zebra im Krieg“ geht es um einen
       Blogger, der von einer siegreichen Bürgerkriegspartei vor laufender Kamera
       gedemütigt wird. Das Video wird ins Netz gestellt und löst eine Serie
       verhängnisvoller Ereignisse aus. Ihr Stoff beruht auf einer wahren
       Geschichte, scheint aber stark verfremdet?
       
       Vladimir Vertlib: Die Szene mit dem Video beruht auf Tatsachen. Sie hat
       sich vor einigen Jahren in der Ukraine zugetragen. In meinem Roman habe ich
       die Stadt allerdings ans Meer verlegt. Ich hatte ein bisschen Odessa im
       Kopf, es könnte aber auch Mariupol, Sewastopol oder Sotschi sein. Ich habe
       es bewusst offen gelassen. Ich wollte kein Schlüsselbuch über den
       Ukraine-Konflikt oder das System Putin schreiben. Vielmehr handelt es sich
       um einen exemplarischen Fall für [1][die Verhältnisse an der Peripherie
       Europas]. In ihm spiegeln sich Dinge aus unseren Gesellschaften und der
       Gegenwart. Die Handlung ist jedoch fiktiv und in eine exemplarische, nicht
       näher genannte Hafenstadt verlegt.
       
       An der ukrainischen Grenze sind massiv russische Truppen aufmarschiert.
       Alle Welt spricht von einem bewaffneten Konflikt. Ist Ihr Roman als Kritik
       an kriegerischer Gewalt zu verstehen, oder hatten Sie als gebürtiger Russe
       eher allgemein die postsowjetische Welt vor Augen? 
       
       Der Roman hat beide Elemente: Einerseits eine Kritik an kriegerischen
       Auseinandersetzungen. An dem, wie arme Länder an der Peripherie der „Ersten
       Welt“ zu einem Spielball der Großmächte und der eigenen Eliten werden. Die
       Handlung könnte genauso gut in Mexiko, Syrien oder Weißrussland spielen. Es
       ist ein exemplarischer Fall. Gleichzeitig handelt es sich auf einer zweiten
       Ebene um einen Roman, der die Situation in Ost-Mitteleuropa oder im
       [2][postsowjetischen] Raum widerspiegelt. Es gibt viele Facetten, die
       Anhaltspunkte bieten, in welcher Region man sich befindet: Ein mächtiger,
       vor siebzig Jahren verstorbener Diktator, der im Roman erwähnt wird, die
       Amtsgebäude, erbaut im Zuckerbäckerstil. Es ist wohl klar, dass
       wahrscheinlich Stalin gemeint ist.
       
       Die Geschichte beruht ja, wie es heißt, auf einer wahren Begebenheit. Wie
       sind Sie auf diese gestoßen? 
       
       Durch Zufall. Ich habe mich 2014/15 viel mit der Ukraine-Krise und dem
       Konflikt zwischen Russen und Ukrainern beschäftigt. In den Netzwerken, auf
       Youtube, bekämpften einander Leute, die Russisch oder Ukrainisch können.
       Das geht weit über die Krisenregion hinaus. Es findet auch in den USA, in
       Kasachstan, bei uns, in Deutschland und anderenorts statt. Es gibt eine
       Fortsetzung des Krieges im Internet. Für mich ist es spannend, aber auch
       beängstigend und schockierend zu erkennen, welche Bedeutung das Internet
       hat. Verglichen mit dem, was man dort lesen kann, ist das, was wir heute in
       Westeuropa an Verschwörungstheorien rund um die Coronakrise erleben,
       harmlos. Was in Netzen auf Russisch geschrieben steht, hat eine andere
       Dimension.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Ich habe viel mitgelesen, ohne mich an den harten Disputen zu beteiligen.
       Ich blieb Beobachter. Ich komme aus Russland, bin aber weder ein Anhänger
       des Putin-Regimes noch der Separatisten auf der Krim. Doch auch die
       ukrainischen Machthaber beurteile ich kritisch. Im Zuge meiner Recherchen
       bin ich zufällig auf das eingangs erwähnte reale Video gestoßen. Die über
       tausend Kommentare dazu waren besonders furchtbar. Einiges davon habe ich
       verfremdet und sinngemäß wiedergegeben. Ich dachte gleich, da mache ich
       etwas Literarisches daraus. Es ist ein exemplarischer Fall, das Ganze wirkt
       fast wie ein Dramolett. Es ist ja eine inszenierte Geschichte gewesen, in
       der einer der Gefilmten allerdings sehr real Angst hatte.
       
       Ihr Protagonist im Roman, Paul, der den Rebellenführer Lupowitsch mit rüden
       Worten auf Facebook beflegelt, ist also für russische Verhältnisse gar kein
       extremer Hassposter? 
       
       Nein. Auch im realen Fall waren diese Angriffe, im Vergleich zu dem, was
       ich sonst so gelesen habe, vergleichsweise milde. Mein Roman ist eine
       Kritik an den sozialen Medien, das war aber nicht zielgerichtet meine
       Absicht, als ich begann, das Buch zu schreiben. Meine Beobachtungen haben
       mich zu der Geschichte geführt. Später, beim Redigieren, ist mir erst klar
       geworden, wie viele Facetten es hat. Ich nehme mit Sorge wahr, wie uns die
       sozialen Medien korrumpieren, süchtig machen, unsere schlechten
       Charaktereigenschaften verstärken. Wenn man Gesprächspartner nur noch als
       Profile oder Fotografien und nicht als reale Menschen wahrnimmt, kann das
       sehr schnell zu Enthemmung führen. Zu Dynamiken, die Konflikte und
       [3][Polarisierungen] verschärfen. Das kann man nicht nur in Osteuropa
       beobachten, das passiert auch im Westen.
       
       Dabei drehen Meinungen und gesellschaftlichen Stimmungen mitunter sehr
       schnell … 
       
       Das kann man überall auf der Welt beobachten. Etwa wenn man nachliest, was
       vor, während und nach der NS-Zeit passiert ist: Viele Leute waren Anhänger
       der Monarchie, dann ein wenig der Republik, dann wurden viele zu Nazis und
       schließlich nach 1945 ganz schnell zu standhaften Demokraten. Die heutigen
       Gesellschaften in Ost- und Ost-Mitteleuropa sind als Folge von lange
       andauernden Diktaturen autoritär geprägt, die Menschen sind oft sehr
       misstrauisch und wankelmütig. Sie hängen häufig ihr Fähnchen schnell in den
       Wind, marschieren mit den jeweiligen Machthabern mit, ohne genau zu wissen,
       wohin. Das Trauma der Diktatur steckt tief in all diesen Gesellschaften
       drin. Auch bei den Kindern, den Nachgeborenen, auch bei mir. Warum haben
       viele Leute 2014 auf der Krim gedacht, sie würden alle umgebracht, und
       deshalb für den Anschluss an Russland gestimmt? Sie waren von russischer
       Seite mit Propaganda überschüttet worden. Es hieß, dass in der Ukraine
       Neonazis an die Macht gekommen seien, die sie umbringen wollten. Solche
       Verschwörungserzählungen greifen, weil die Angst noch immer so präsent ist.
       Da sind die Erfahrungen von Eltern und Großeltern, die noch bis in die
       Stalinzeit zurückreichen.
       
       Wenn sich die Traumata von Krieg und Stalinismus verbinden, was macht das
       mit den Menschen? 
       
       Ich denke, es kumuliert zu einer Mischung aus Angst und einem Gefühl von
       absolutem Kontrollverlust und Ausgeliefertsein, gepaart mit einem schon in
       der Kindheit erlebten Sicherheits- und Vertrauensverlust. Wenn ein Kind
       nicht in einem geborgenen Umfeld aufwächst, sondern erlebt, wie Menschen
       abgeholt, eingesperrt und umgebracht werden, kann es kein Vertrauen
       entwickeln. Vor allem, wenn es die Angst und Ohnmacht der Erwachsenen dabei
       erlebt. In der Generation meiner Eltern, die in der Stalinzeit aufgewachsen
       sind, entwickelten sich viele zu Menschen ohne stabiles Fundament, ohne
       Grundvertrauen in die Welt. Das wirkt nach und wird über verschiedene
       Formen der Verdrängung und Projektion weitergegeben. Manche haben die
       Kraft, sich dem zu stellen, lernen damit umzugehen. Aber alle sind in der
       einen oder anderen Form massiv davon betroffen.
       
       Es gibt in Ihrem Roman das jüdische Ehepaar Katz, das abgeholt und
       schikaniert wird, ohne dass man weiß, warum. Wie stark ist der
       Antisemitismus im Osten heute verbreitet? 
       
       Wobei ich das Ehepaar Katz auch etwas augenzwinkernd präsentiere, um
       gewisse Klischees zu hinterfragen. Doch gerade während der Coronakrise
       sehen wir auch im Westen, dass Antisemitismus wieder zunimmt. Wenn es eine
       Krise gibt, geht es früher oder später immer gegen die Juden. Im heutigen
       Mitteleuropa vielleicht weniger als in Osteuropa, im Nahen Osten, oder
       selbst in Indonesien, wo man in der Regel noch nie einen Palästinenser oder
       Juden gesehen hat. In Ungarn ist ein George Soros die Hassfigur
       schlechthin: Als westlicher Demokrat, Investor, Spekulant. Dass er Jude
       ist, ist sozusagen die Kirsche auf der Torte. Während der heißen Phase des
       Ukraine-Krieges wurde von russischer Seite – vor allem in sozialen
       Netzwerken – der Antisemitismus ins Spiel gebracht. Man hat der
       ukrainischen Führung mit Poroschenko an der Spitze unterstellt, sie bestehe
       durchwegs aus Juden. In Wahrheit war einzig der spätere Ministerpräsident
       Hrojsman jüdisch. In den staatlich kontrollierten russischen Medien war von
       der „faschistischen Junta“ die Rede. Gleichzeitig sollten es Juden sein.
       Also eine faschistisch-jüdische Junta in der Ukraine. Was soll man dazu
       noch sagen?
       
       17 Feb 2022
       
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