# taz.de -- Nach Wahl durch AfD in Thüringen: Sind wir erfolgreich geimpft?
       
       > Die Thüringer AfD hat der Republik ungewollt einen Dienst erwiesen. Sie
       > hat die Schwächen von CDU und FDP offengelegt.
       
 (IMG) Bild: Man tut Höcke zu viel Ehre an, wenn man ihn mit Goethes „Mephistopheles“ vergleicht
       
       Nicht zu Unrecht stehen medizinische Metaphern im Bereich der Politik im
       Verdacht, einer simplifizierenden, reaktionären Sicht Vorschub zu leisten.
       Gleichwohl – dafür ist die durch das [1][Coronavirus] geschaffene
       Atmosphäre ein Anlass – sei ein Vergleich dieser Art gewagt. Seit dem 19.
       Jahrhundert fanden Ärzte in Europa und den USA heraus, dass die künstliche
       Infektion gesunder Menschen mit kleinsten Dosen von Erregern deren
       Abwehrkräfte so weit aktivierte, dass sie sich entweder überhaupt nicht
       mehr infizierten oder allenfalls leichte Krankheitsverläufe zeigten – zu
       nennen sind hier in erster Linie Louis Pasteur und Robert Koch.
       
       So sei es gewagt, die Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschland, zumal
       – keineswegs nur – der östlichen Bundesländer, mit einem von Krankheit, dem
       Erreger AfD, befallenen Organismus gleichzusetzen. Bisher sind derlei
       Infektionen nicht tödlich verlaufen, die Vorgänge in Thüringen gaben
       allerdings Anlass zur Besorgnis: Tatsächlich hat sich mit der – nur durch
       die AfD möglichen – Wahl des politischen Nobody Kemmerich ein
       [2][politischer Dammbruch] ereignet.
       
       Die Erfurter Geschehnisse sind – wie der Historiker Michael Wildt betont –
       nicht mit dem Anfang vom Ende der Weimarer Republik gleichzusetzen;
       gleichwohl werden die nächsten Monate zeigen, ob auch hier das Marx’sche
       Diktum zutrifft, dass historische Ereignisse zweimal auftreten: das erste
       Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.
       
       Zudem sei an eine andere Einsicht von Marx erinnert: an die grundlegende
       Zweideutigkeit dessen, was als „bürgerlich“ gilt: „Bürger“, das können
       sowohl politisch motivierte, an gerechter und demokratischer Gestaltung
       ihres Gemeinwesens interessierte Personen sein – „Citoyens“ – oder vor
       allem an der Wahrung ihres Besitzes interessierte Eigentümer: „Bourgeois“.
       
       Im (politischen) Liberalismus Deutschlands drückte sich diese
       Janusköpfigkeit seit je aus: etwa in den zwei [3][„liberalen“ Parteien der
       Weimarer Republik], der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) sowie
       der zunächst „linksliberalen“ Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die
       1933 als nach rechts gewendete „Deutsche Staatspartei“ die Republik mit der
       Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ Hitler auslieferte. Der spätere
       Bundespräsident Theodor Heuss war dabei.
       
       ## Zu viel Ehre für Höcke
       
       Womöglich tut man dem faschistischen Politiker Höcke zu viel Ehre an, wenn
       man ihn mit Goethes „Mephistopheles“ vergleicht, jener teuflischen Gestalt
       aus dem „Faust“, die von sich sagt, sie sei „ein Teil von jener Kraft, die
       stets das Böse will und stets das Gute schafft.“: Indes: Die Thüringer AfD
       hat mit geradezu diabolischer Schläue die Neigungen und Schwächen der
       „bürgerlichen“ CDU und FDP erkannt, sie bewusst ins offene Messer rennen
       lassen und sich dessen vor laufenden Kameras mit offener Schadenfreude
       gerühmt. Damit hat die Thüringer AfD der Republik ungewollt einen Dienst
       erwiesen: Hat sie doch die Schwächen von CDU und FDP offengelegt. So viel –
       um mit Hegel zu sprechen – zur „List der Vernunft“ in dieser Sache.
       
       Doch zurück zur Metapher des Impfens. Der Erfolg des Impfens resultiert aus
       einem Lernen des leicht infizierten Organismus – die Frage ist jetzt, ob
       und was die „bürgerlichen“ Parteien CDU/CSU und FDP aus Erfurt lernen.
       Haben sie nicht nur wahrgenommen, sondern auch eingesehen, dass die von
       Faschisten wie Höcke und Kalbitz übernommene AfD vor dem Hintergrund der
       deutschen Geschichte und der europäischen Gegenwart unter keinen Umständen
       Teil eines „bürgerlichen“ Lagers sein darf?
       
       Erst nach den Kommunalwahlen in Bayern sowie der Bürgerschaftswahl in
       Hamburg, ja sogar erst nach der nächsten Bundestagswahl wird sich erweisen,
       ob die Wahl von Kemmerich der Beginn einer lange andauernden, schleichenden
       Infektion oder eine erfolgreiche Impfung gewesen ist – genauer: ob längst
       überfällige politische Lernprozesse stattgefunden haben.
       
       8 Feb 2020
       
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