# taz.de -- Neue Pisa-Studie: Elende Verhältnisse
       
       > Herkunft entscheidet weiter deutlich über Bildungschancen. Die
       > Erklärungsmuster überzeugen nicht. Klar ist aber: Wichtige Reformen
       > kommen zu langsam.
       
 (IMG) Bild: Das deutsche Schulsystem verändert sich – langsam
       
       Die [1][Ergebnisse der Pisa-Studie 2022] lassen sich für Deutschland bündig
       zusammenfassen: Die Leistungen der Fünfzehnjährigen sind in den drei
       getesteten Kompetenzbereichen mittelmäßig. Und: Von Chancengleichheit ist
       das deutsche Schulsystem wie eh und je weit entfernt. Der sozioökonomische
       Status, einfacher: die soziale Herkunft, sowie die Zugehörigkeit zu einer
       Familie mit Zuwanderungsgeschichte bestimmen in einem hohen Ausmaß den
       Erfolg oder den Misserfolg beim schulischen Lernen.
       
       Beim Lesen [2][liegen die Werte für Deutschland leicht oberhalb des
       Durchschnitts der OECD-Länder], die Leistungen in Mathematik und in den
       Naturwissenschaften zeigen ähnliche Werte. In allen Kompetenzbereichen
       haben sich die Leistungen aber verschlechtert. Damit hat sich der Trend,
       der schon 2018 beobachtet wurde, fortgesetzt: Im Lesen, in Mathematik und
       in Naturwissenschaften wurde ein Rückgang verzeichnet.
       
       Diese Verschlechterung geht einher mit gleichbleibend eindeutigen Befunden
       zur herkunftsbezogenen Ungleichheit: Weder mit Blick auf die soziale
       Herkunft noch mit Blick auf die Migrationsgeschichte von Jugendlichen kann
       auch nur annähernd von Chancengleichheit gesprochen werden: Im Durchschnitt
       erreichen Kinder aus benachteiligten Familien im Kompetenzbereich Lesen 67
       Testpunkte weniger als die aus der sozioökonomisch stärksten Gruppe.
       
       Unter den 36 OECD-Staaten weisen lediglich sieben Länder eine noch stärkere
       soziale Ungleichheit auf. Ebenso stark ausgeprägt ist die
       Chancenungleichheit zwischen Jugendlichen ohne und mit
       Migrationsgeschichte. In unseren Nachbarländern Niederlande, Schweiz und
       Frankreich sind diese Unterschiede geringer.
       
       Was die Erklärungsmuster für den Leistungsrückgang angeht, die aktuell zu
       lesen sind: Sie sind mehr oder weniger gut abgeleitete Vermutungen, aber
       wissenschaftlich wenig belastbar und unterscheiden sich allenfalls durch
       das Ausmaß ihrer Plausibilität. Ein Erklärungsansatz verweist darauf, dass
       sich der während der Coronapandemie weithin dilettantische Umgang mit
       Distanzlernen leistungsmindernd ausgewirkt habe. Dies sei der Grund dafür,
       dass der europaweit beobachtete Rückgang der Leistungen in Deutschland
       besonders stark ausgefallen ist. Erklären lässt sich aber der schon von
       2015 bis 2018 gemessene Leistungsabfall so nicht.
       
       Ähnlich verhält es sich mit dem Verweis auf den Lehrkräftemangel, der in
       den Jahren von 2015 bis 2018 weniger stark als jetzt war und daher den
       damaligen Leistungsrückgang kaum erklären kann. Jetzt betrifft der Mangel
       zunächst besonders Grundschulkinder; falls er Wirkungen haben wird, lässt
       er wenig Gutes für die nächste Pisa-Studie erwarten. Als weiterer Grund für
       den Leistungsrückgang wird regelmäßig auf das gegliederte Schulwesen
       Deutschlands verwiesen.
       
       ## Schule für alle nicht per se besser
       
       Denen, die sagen, ein Festhalten an der gegliederten Schulstruktur würde
       leistungssteigernd wirken, kann entgegnet werden: Das deutsche Gymnasium
       erreicht trotz seiner ausgewählten Schülerschaft beim Lesen mit 546
       Testpunkten nicht den Wert des internationalen Spitzenreiters Singapur
       (561) – eines Landes, in dem die Kinder und Jugendlichen nicht nach ihrer
       Leistungsfähigkeit sortiert werden. Andererseits kann denen, die meinen,
       ein weniger untergliedertes System wäre leistungsstärker, erwidert werden,
       dass etwa Frankreich mit dem in der Sekundarstufe I ungegliederten System
       schwächere Durchschnittsleistungen als Deutschland erbringt.
       
       Schließlich [3][muss der Föderalismus regelmäßig als Hindernis für gute
       Pisa-Ergebnisse herhalten]. Wenn er denn eine leistungsmindernde Wirkung
       haben sollte, so bleibt die Frage, warum er die Leistungssteigerungen von
       Pisa 2000 bis Pisa 2015 „zugelassen“ hat? Viel wichtiger indes ist ein
       anderes Argument gegen die Föderalismus-These. Ein Blick in die
       internationalen Befunde zeigt: Im klassischen Gegenmodell zum deutschen
       Föderalismus, im hoch zentralisierten Frankreich, erreichen die
       Jugendlichen im Kompetenzbereich Lesen 2022 insgesamt 474 Testpunkte. Die
       Jugendlichen in Deutschland hingegen kamen 2022 auf 480 Punkte. In Kanada,
       einem Land, das im Bildungsbereich mit dem deutschen Föderalismus durchaus
       vergleichbar ist, erreichten die Jugendlichen sogar 507 Testpunkte.
       
       Wenn aber all die erklärenden Hinweise – Pandemie, Lehrkräftemangel,
       Schulstruktur, Föderalismus – nicht oder doch nur begrenzt tragen, was
       bleibt dann? Ohne vorschnelle Antworten anbieten zu wollen, darf doch
       festgestellt werden: Wichtige Vorschläge werden seit der ersten Pisa-Studie
       aus dem Jahr 2000 immer wieder formuliert und angekündigt – so etwa die
       Frühförderung im Vorschulbereich, Ganztagsschulen, die mehr als eine
       nachmittägliche Betreuung anbieten, gezielte Förderung von Kindern sowohl
       aus sozial benachteiligten Familien als auch aus Familien mit
       Zuwanderungsgeschichte.
       
       ## Langsamer als Schnecken
       
       Diese Vorschläge wurden aber nie oder allenfalls zaghaft umgesetzt. Zwei
       Zitate belegen die Konstanz der elenden Verhältnisse: Am 4. Dezember 2001
       formulierte [4][Willi Lemke], damals Bildungssenator in Bremen und
       Vizepräsident der Kultusministerkonferenz (KMK), mit Blick auf die erste
       Pisa-Studie: „Vorrangig müssen wir die bisherigen Fördermaßnahmen und
       Lernstrategien für Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren
       Elternhäusern überprüfen und verbessern.“ Fast 20 Jahre danach, am 8.
       Dezember 2020, erklärte KMK-Präsidentin Stefanie Hubig als Reaktion auf die
       „Timss“-Studie (über Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften, d.
       Red.) von 2019: „Wir müssen (…) dafür sorgen, dass der Bildungserfolg
       unserer Schülerinnen und Schüler nicht von der Herkunft und dem Geldbeutel
       der Eltern abhängt.“
       
       Veränderungen im deutschen Schulsystem sind wohl noch etwas langsamer als
       Schnecken.
       
       13 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Pisa-Schock-fuer-deutsche-Schuelerinnen/!5974146
 (DIR) [2] https://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/
 (DIR) [3] https://www.tagesschau.de/kommentar/pisa-foederalismus-100.html
 (DIR) [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Willi_Lemke
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Klemm
       
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