# taz.de -- Politische Gefangene in Belarus: Hinter Gittern
       
       > Weggesperrt, misshandelt, verurteilt: In Belarus sind mindestens 454
       > politische Gefangene in Haft. Die taz stellt vier von ihnen vor.
       
       Dass ein Linienflugzeug, mit dem ein politisch unliebsamer Mensch aus dem
       Griechenland-Urlaub zurückkehrt, von einem Kampfjet abgefangen und zur
       Landung in einem Drittland gezwungen wurde, war der vorläufige Höhepunkt im
       Umgang des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko mit seinen
       Widersachern.
       
       „Das Regime kennt in puncto menschenrechtlicher und völkerrechtlicher
       Grundsätze keine Grenzen mehr“, kommentierte Amnesty International die
       spektakuläre Jagd auf den Blogger Roman Protassewitsch, der seitdem in Haft
       ist, wo er vermutlich gefoltert wird. Seit der Präsidentschaftswahl in
       Belarus vom 9. August 2020 werden Menschen, die gegen Lukaschenkos Regime
       protestieren, eingesperrt, gefoltert, verurteilt – und das wie am
       Fließband.
       
       Als politische Gefangene werden diejenigen Menschen verstanden, die aus
       politischen oder weltanschaulichen Gründen inhaftiert sind. Haftbedingungen
       und -dauer stehen dabei nicht im Verhältnis zu den begangenen Straftaten.
       
       Der Begriff des „anerkannten politischen Gefangenen“, von dem im
       Zusammenhang mit den Inhaftierten in Belarus häufig die Rede ist, stützt
       sich auf einen Leitfaden, den Menschenrechtsorganisationen aus
       verschiedenen osteuropäischen Ländern, darunter auch Belarus, basierend auf
       der Arbeit des Europarates und der von Amnesty International verwendeten
       Definition gemeinsam erarbeitet haben.
       
       Politische Gefangene sind kein neues Phänomen in Lukaschenkos Staat. Doch
       die rasant steigende Zahl an politisch motivierten Verhaftungen hat mit dem
       offensichtlich gefälschten Wahlergebnis im vergangenen Jahr eine neue
       Dimension erreicht.
       
       Unter den Gefangenen sind namhafte Politiker, wie der Blogger Sergei
       Tichanowski, der nach seiner Ankündigung zur Präsidentschaftskandidatur
       schon am 29. Mai 2020 inhaftiert wurde, sowie der oppositionelle
       Präsidentschaftskandidat Wiktor Babaryko, in Haft seit dem 18. Juni.
       
       Spektakulär war die Verhaftung von Maria Kolesnikowa, Leiterin des
       Wahlkampfbüros von Babaryko. Sie wurde am 7. September in Minsk entführt,
       eine erzwungene Abschiebung in die Ukraine scheiterte. Erst zwei Tage
       später wurde ihre Inhaftierung bestätigt. Alle drei sind bis heute in Haft.
       
       International bekannt wurden weitere Fälle: Am 21. Mai 2021 starb der
       50-jährige Oppositionspolitiker Witold Aschurok nach fünf Monaten Lagerhaft
       – angeblich an Herzstillstand. Der 18-jährige Dmitri Stachowski, angeklagt
       wegen „Beteiligung an Massenunruhen“, beging am 25. Mai in der Haft Suizid.
       „Wenn der moralische Druck auf mich nicht weitergegangen wäre, hätte ich es
       nicht gewagt, eine so schreckliche Tat wie Selbstmord zu begehen. Aber
       meine Ausdauer war erschöpft“, schrieb er in einem Abschiedsbrief. Einige
       der Gefangenen sind noch nicht einmal volljährig, wie Nikita Solotorew der
       im vergangenen August als 16-Jähriger verhaftet und im Februar zu fünf
       Jahren Jugendstrafkolonie verurteilt wurde.
       
       Die Vorwürfe gegen die Angeklagten sind immer die gleichen: Aufruf zu und
       Teilnahme an Massenunruhen (Paragraf 293 des Strafgesetzbuches der Republik
       Belarus), Landfriedensbruch (Paragraf 342), Widerstand gegen Mitarbeiter
       der Ordnungskräfte (Paragraf 363) sowie Steuerhinterziehung (Paragraf 243).
       Diese Anklagen können jahrelange Freiheitsstrafen, Misshandlungen und
       Folter zur Folge haben.
       
       Menschenrechtsorganisationen und Häftlinge berichten von regelrechten
       Folterkammern, in denen die Gefangenen von anderen Häftlingen systematisch
       gequält und terrorisiert werden, um sie geständig zu machen und psychisch
       zu brechen.
       
       Im Falle des entführten Bloggers Roman Protassewitsch kommt noch der
       Vorwurf nach Paragraf 130 (Aufstachelung zu rassistischer, nationaler,
       religiöser oder anderer sozialer Feindseligkeit oder Hass) hinzu. Seine im
       Fernsehen übertragenen angeblichen Geständnisse, in denen er Alexander
       Lukaschenko lobte, sind offenbar unter dem Eindruck von Misshandlungen und
       Drohungen entstanden.
       
       Der im litauischen Exil lebende Protassewitsch hatte vor seiner Festnahme
       befürchtet, er könne in Belarus vom Tod bedroht sein. Beobachter
       befürchten, dass diese Furcht real sein könnte. Belarus ist das einzige
       Land Europas, in dem noch die Todesstrafe existiert.
       
       Die belarussische Menschenrechtsorganisation „Wjasna“ („Frühling“) zählte
       mit Stand vom 1. Juni 2021 454 anerkannte politische Gefangene in Belarus.
       In diesem Text stellt die taz vier von ihnen vor. Sie sind nicht berühmt.
       Sie sind keine Politiker – nur Menschen, die für Freiheit und Menschrechte
       kämpfen Gaby Coldewey
       
       ## Marfa Rabkowa, Biologin, seit dem 17.9.2020 in Haft
       
       Wadim Scharomski spricht langsam und überlegt lange, bevor er einen Satz
       ausspricht. So als ob er wüsste, dass er noch einen langen Weg vor sich
       hat, er mit seinen Kräften haushalten muss. Mehrmals in der Woche sucht er
       den Ort in Minsk auf, wo seine Frau Marfa Rabkowa lebt, bringt ihr Pakete,
       Lebensmittel, Briefe. Doch gesehen hat er sie seit neun Monate nicht mehr.
       Besuche verbietet die Gefängnisleitung.
       
       Das letzte Mal sah Scharomski seine Frau am 17. September, als sie beide
       nach einer Hausdurchsuchung festgenommen wurden. Doch während er bald
       wieder nach Hause kam, ist seine Frau immer noch inhaftiert. Anfangs hatten
       er und die Verwandten gehofft, Marfa würde im November entlassen werden.
       Später klammerte man sich an ein gemeinsames Neujahrsfest. Die
       Untersuchungshaft ist mehrfach verlängert worden, zuletzt im März und bis
       zum 17. Juni.
       
       Warfa Rabkowa droht bei einer Verurteilung eine Strafe von zwölf Jahren
       Haft. Die Vorwürfe: sie soll zu „sozialem Hass gegen die Machthaber
       angestachelt haben“, „in einer kriminellen Vereinigung tätig gewesen sein“,
       „Massenunruhen finanziert und vorbereitet haben“.
       
       Wadim Scharomski und Warfa Rabkowa sind in der Menschenrechtsbewegung
       aktiv. Rabkowa hatte vor den Wahlen im August 2020 mit Wahlbeobachtern
       gesprochen, sich an der Aktion „Menschenrechtler für ehrliche Wahlen“
       beteiligt und nach den Wahlen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert.
       
       Wadim Scharomski sagt: „Mir hat ein Milizionär das mal so erklärt: ‚Wir
       hassen euch mehr als die Aktivisten. Mit denen würden wir ziemlich schnell
       fertig werden, wenn ihr Menschenrechtler nur nicht wärt. Ihr stört uns bei
       der Arbeit.‘“ In dieses Bild passe auch, dass sich die Miliz bei der
       Hausdurchsuchung vor allem für Texte über Polizeigewalt interessiert hat.
       
       Marfa Rabkowa, die bis zu ihrer Verhaftung beim Menschenrechtszentrum
       „Wjasnja“ (der Frühling) die Arbeit der Freiwilligen koordiniert hatte,
       störte mit ihrer stillen, aber beharrlichen Arbeit diejenigen, die
       glaubten, sie könnten die Opposition mit Gewalt und Folter vernichten.
       Einer der Freiwilligen, mit dem sie zusammenarbeitete, war ihr späterer
       Mann, Wadim Scharomski.
       
       Ihr Chef [1][Ales Bialiatski], der für die Arbeit des
       Menschenrechtszentrums 2020 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet
       worden ist, lobt „das hohe Verantwortungsbewusstsein und die hohe
       Motivation von Marfa für ihre Arbeit“. Den ganzen Sommer habe sie bis zu
       ihrer Verhaftung non-stop gearbeitet. „Sie hat sich keinen Urlaub gegönnt,
       nur gegessen, geschlafen und gearbeitet.“ Immer wieder habe er bewundert,
       mit welcher Kraft sie die schwierige Arbeit bewältigt habe. „Wir alle sind
       froh, Marfa als Mitarbeiterin und Weggefährtin zu haben“, sagt Bialiatski.
       
       „Marfa hat nicht ‚nein‘ sagen können, wenn ihr jemand sein Leid geklagt
       hat“, sagt ihr Ehemann. Bevor sie zur Menschenrechtsarbeit gekommen sei,
       habe die Biologin viel Zeit mit Tieren verbracht, ehrenamtlich in einem
       Tierheim für Hunde gearbeitet.
       
       In der Haft sei sie schon drei Mal erkrankt, habe zwölf Kilogramm
       abgenommen, berichtet ihr Mann. Sie lerne dort Englisch, aber das falle
       ihre schwer, weil sie sich nicht konzentrieren könne. Medikamente müsse man
       ihr ins Gefängnis bringen. Ob sie an Covid-19 erkrankt sei, könne er nicht
       sagen. „Dort wird ja nicht getestet.“ Erschwerend komme hinzu, dass sie in
       eine Liste von Personen eingetragen sei, „die zu Extremismus und Taten
       gegen den Staat neigten“. Deshalb, so Scharomsky, würden die Aufseherinnen
       Marfa besonders häufig kontrollieren.
       
       „Meine Briefe an Marfa sind Monologe“, sagt Wadim. „Wenn ich einen Brief
       schreibe, weiß ich nicht, wann er gelesen wird. Vielleicht in einem Monat,
       vielleicht auch gar nicht.“ Mit Hilfe des Strichcodes der Post könne er
       sehen, dass die Briefe innerhalb von 24 Stunden im Gefängnis ankommen. Doch
       was danach mit diesen geschehe, hänge allein vom Personal ab.
       
       „Marfa Rabkowa war immer für die Verhafteten da. Nun ist es an der Zeit,
       dass wir für sie da sind“, schreibt das Menschenrechtszentrum „Wjasnja“.
       Und Scharomsky fügt hinzu: „Das schlimmste, was uns und den anderen
       Gefangenen in Belarus passieren könnte, ist, dass wir sie einfach vergessen
       würden. Vergesst uns nicht!“ Bernhard Clasen
       
       ## Stepan Latypow, Baumpfleger, seit 15.9.2020 in Haft
       
       Es ist der 1. Juni 2021, Verhandlungssaal eines Gerichts in Minsk.
       Plötzlich geht alles ganz schnell. Der in einem Glaskasten sitzende
       Angeklagte Stepan Latypow steigt auf eine Bank und rammt sich einen
       Kugelschreiber in den Hals. Blutend bricht er zusammen, verliert das
       Bewusstsein und wird abtransportiert. Kurz zuvor hatte sein Vater als Zeuge
       vor Gericht ausgesagt. Und der Sohn hatte ihm zugerufen: „Vater! Kurz vor
       unserem Wiedersehen sind Leute vom Dezernat zur Bekämpfung Organisierter
       Kriminalität zu mir gekommen und haben mich bedroht. Wenn ich nicht
       gestehe, wird es auch Strafverfahren gegen meine Freunde und Verwandten
       geben. Und ich muss wieder in die Folterkammer. Da war ich bereits 51 Tage.
       Nur, dass Du vorbereitet bist.“
       
       Der 41jährige wird der Organisation von Massenaufruhr und des Widerstands
       gegen die Staatsgewalt beschuldigt. Seit vergangenem September sitzt er in
       Untersuchungshaft.
       
       Latypow, der aus einer Familie von Biologen stammt, ist von Beruf
       Baumpfleger. Während seines Studiums der Forstwirtschaft reist er mehrfach
       nach Großbritannien, wo er eine Zusatzqualifikation als Industriekletterer
       erwirbt. 2009 gründet er seine „Firma BelArbo“, deren Mitarbeiter
       landesweit im Einsatz sind. Latypows Expertise, vor allem im Kampf gegen
       den giftigen Bärenklau, ist gefragt. Auch im Garten der Rezidenz des
       belarussischen Präsidenten hat er in luftiger Höhe schon Hand angelegt.
       
       Am 16. August 2020 postet er auf seinem Instagram-Account folgende Sätze:
       „Man kann alles mögliche verzeihen, aber nicht, dass Menschen gefoltert,
       vergewaltigt und getötet werden, weil sie sich geweigert haben, Alexander
       Lukaschenko zu wählen. Einen solchen Präsidenten brauchen wir nicht.“
       
       Rund einen Monat später, am 15. September, wird Latypow festgenommen. Seine
       Vergehen: Er hat sich schützend vor ein Graffiti mit den Konterfeis zwei
       Djs gestellt, die den bekannten sowjetischen Protestsong „Veränderungen“
       von Wiktor Zoi gespielt haben. Und er hat die Sicherheitskräfte
       aufgefordert, sich auszuweisen. Wenige Tage später verbreitet das
       belarussische Staatsfernsehen, Latypow habe Angehörige der Miliz vergiften
       wollen.
       
       Nach einer Operation sitzt Latypow inzwischen wieder in Untersuchungshaft.
       Am 10. Juni ordnet ein Gericht an, ihn „psychiatrisch begutachten“ zu
       lassen. Im Falle einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.
       Barbara Oertel
       
       ## Katja Andreewa, Journalistin, seit November 2020 in Haft
       
       Wenn man mich fragte, ob ich etwas anders machen würde, als am 15. November
       vergangenen Jahres, ist die Antwort: Nein!“, schreibt Katerina (Katja)
       Andreewa in einem Brief an ihren Mann Igor Iljasch. Da ist das Urteil gegen
       sie schon ergangen.
       
       Katja Andreewa, die an der Belarussischen Staatlichen Universität (BGU)
       Journalismus studiert hat, ist furchtlos. Und sie ist neugierig. Um zu
       berichten, geht sie auch an Orte, wo sich andere nicht hintrauen. Zum
       ersten Mal wird die 27-jährige Minskerin im März 2017 festgenommen – unter
       anderem, weil sie von einer Demonstration gestreamt hat. Das macht sie auch
       am 15. November 2020 wieder, vom Balkon einer Wohnung am „Platz der
       Veränderungen“ – dem Innenhof eines Wohnkomplexes in Minsk, der zum Symbol
       für die Proteste gegen Präsident Alexander Lukaschenko schlechthin geworden
       ist.
       
       Der Vorwurf gegen Andreewa lautet auf Teilnahme an einer unerlaubten
       Massenveranstaltung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Aus dem
       siebentägigen Arrest wird eine längere Inhaftierung. Jetzt heißt es, sie
       habe gegen Artikel 324, Absatz 1 Strafgesetzbuch verstoßen – „Organisation
       und Vorbereitung von Aktionen, die die öffentliche Ordnung verletzen oder
       aktive Teilnahme an solchen Aktionen.“ Bis zur Gerichtsverhandlung bleibt
       sie in Untersuchungshaft, ein Wiedersehen mit Verwandten wird untersagt.
       
       Am 18. Februar verkündet ein Gericht das Urteil gegen die Korrespondentin
       des unabhängigen polnischen Fernsehsenders Belsat: Zwei Jahre Haft. Ihr
       Kollege Dmitri Jegorow spricht von „Rache“, „nackter Gewalt“ und einer
       Politik der Einschüchterung gegenüber Journalisten.
       
       Im Jahr 2020 hat Katja Andreewa mit ihrem Mann ein Buch unter dem Titel
       „Der belarussische Donbass“ herausgegeben. Darin geht es um die Rolle von
       Belarussen im bewaffneten Konflikt in der Ukraine. Das Buch dokumentiert
       die Geschichten zahlreicher Kämpfer belarussischer Herkunft, die sowohl auf
       Seiten der Ukraine, als auch auf der Russlands gekämpft haben. Am 26. März
       2021 wird das Buch in Belarus als „extremistisch“ verboten.
       
       Katjas Mann Igor, der 2020 ebenfalls kurzzeitig in Haft geriet, jetzt aber
       wieder auf freiem Fuß ist, berichtet auf Facebook fortlaufend über Katja
       Andreewas Schicksal. Sie werde von einen Gefängnis ins nächste verlegt. Ihr
       Transport von Schodino nach Mogiljow sei nicht die beste Reise ihres Lebens
       gewesen. Sie habe die ganze Zeit über Handschellen tragen müssen, im Waggon
       seien Hunde und schwer bewaffnete Sicherheitskräfte gewesen, habe Katja in
       einem Brief geschrieben, berichtet Igor.
       
       Derzeit sitzt Katja Andreewa in der Strafkolonie in Gomel ein – in
       Quarantäne, der obligatischen ersten Station für Neuzugänge in
       Haftanstalten. Sie beschäftigt sich mit Pflanzen. „Ich habe mehr als
       hundert Samen gepflanzt, wunderschöne künftige Blumen“, schreibt sie. Auf
       ihre Kleidung ist ein gelbes Etikett mit Vor- und Nachnamen genäht – eine
       spezielle Kennzeichnung für Häftlinge mit einer „Neigung zum Extremismus“.
       Sie fühle sich dennoch gut und sei positiv gestimmt, heißt es in einem
       Brief an ihren Mann. Und: „Wisse, unsere Liebe wird alles und jeden
       besiegen.“ Janka Belarus
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel 
       
       ## Andrei Ljubetzki, Kieferchirurg, seit dem 4. Mai 2021 in Haft
       
       Am 4. Mai 2021 wird der 46-jährige Arzt Andrei Ljubetzki verhaftet. Er wird
       nach Paragraph 368 Strafgesetzbuch von Belarus wegen
       „Präsidentenbeleidigung“ angeklagt. Derzeit befindet er sich in
       Untersuchungshaft. Juristisch kann er bis zu Prozessbeginn zwei Monate in
       Haft bleiben.
       
       Seine Frau meint, ein dreijähriger Hausarrest wäre noch das „beste“ Urteil.
       Es sei schwer vorstellbar, dass die Behörden ihn einfach wieder freilassen.
       
       Ljubetzkis Ehefrau Natalja ist schon vor ihrem Mann in die Repressionswelle
       geraten. Als zur Schau gestellte Staatsfeindin in einem Propagandafilm im
       Fernsehen sah sie sich gezwungen, Belarus mit ihren vier Kindern zu
       verlassen. Die Zahnärztin hatte nach der Ausstrahlung des Films ihre Arbeit
       verloren. Ihr Chefarzt schlug eine Kündigung in „beiderseitigen
       Einverständnis“ vor. So seien eben die Spielregeln.
       
       Andrei Ljubetzki selbst hatte angesichts der jüngsten Ereignisse im Land
       die Möglichkeit seiner Verhaftung nicht ausgeschlossen, sich aber
       geweigert, Belarus zu verlassen.
       
       „Ich lebe nicht für Essen oder Wohnung. Ich möchte frei atmen, ich möchte,
       dass meine Kinder sich frei durch ihre Stadt bewegen können. Ich möchte
       wissen, dass wir geschützt sind. Und nicht, dass sie dich einfach entlassen
       oder verhaften können“, sagte Ljubetzki in einem Interview, kurz bevor sie
       ihn nach einer Hausdurchsuchung mitgenommen hatten. Solche Aussagen reichen
       in Belarus für einen Haftbefehl.
       
       Andrei Ljubetzki ist einer der besten Kiefernchirurgen für Kinder im Land.
       Spezialisten wie ihn kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Drei,
       vier Monate warteten Menschen auf einen OP-Termin bei ihm. 18 Jahre war er
       auf dem Gebiet der plastischen Gesichschirurgie tätig. Viele Kinder mit
       angeborenen Anomalien haben dank seiner Hilfe die Chance auf ein
       glückliches Leben erhalten.
       
       Ljubetzki selbst sagte zu seinen politischen und menschlichen Überzeugung:
       „Seit 1994 (Amtsantritt Lukaschenkos, Anm. d. Redaktion), vom ersten Tag
       an, war ich dagegen. Aber nur im Stillen – wie die Mehrheit der Belarussen.
       Obwohl ich meine Meinung nie verhehlt habe. Ich erinnere mich, dass während
       des Wahlkampfes 2010 ein Beamter aus dem Gesundheitsausschuss in unsere
       Klinik kam und uns zu einem Treffen mit einem Vertrauten Lukaschenkos
       einlud.
       
       Ich fragte, warum er nur für einen Kandidaten werbe, wo es doch zehn gebe.
       Vielleicht wurde auch auch deshalb meine Bewerbung als Abteilungsleiter
       nicht genehmigt. Und 2016 wurde mein Antrag auf eine Reduzierung der
       Arbeitszeit nicht bewilligt. Wir erwarteten damals unser viertes Kind und
       ich wollte meine Frau mehr unterstützen.“
       
       Im Oktober letzten Jahres tauchte in allen Medienberichten Bilder über die
       brutale Festnahme des Arztes während einer Protestdemonstration auf.
       
       Ein Kollege, dessen Name hier nicht genannt werden kann, charakterisiert
       Ljubetzki so: „Wir sind unendlich stolz auf ihn. Andrei ist ein Mensch mit
       starkem Willen, mit Ehre und Gewissen. Ein Mensch, der immer geradeheraus
       sagt, was er denkt. Andrei hat nie um Hilfe gebeten, er hat das alles mit
       sich selber ausgemacht, und war außerdem immer noch für andere da.
       
       Er ist ein sehr empathischer Mensch. Er hat einen guten Sinn für Humor. Und
       er schreibt sehr gute Gedichte. Wir haben schon gewitztelt, dass man Mut
       und Ehre in ‚Ljubetzki-Einheiten‘ messen könne.
       
       Ach, und jetzt ist er im Gefängnis und ich im Exil. Wir wollten ihn
       überreden, das Land zu verlassen, aber er ist Belarusse durch und durch und
       konnte sich ein Leben außerhalb seines Landes nicht vorstellen.“
       
       Weiter schreibt der ungenannte Kollege: „Das einzige, was wir tun können,
       ist Briefe schreiben, Geld schicken und die Hoffnung nicht verlieren. Ich
       glaub daran, dass auch Andrei nicht verloren ist. Er hat uns immer wieder
       inspiriert und hat durch sein Beispiel gezeigt, dass man frei und ohne
       Angst leben kann.“ Janka Belarus
       
       Aus dem Russischen 
       
       [2][Gaby Coldewey]
       
       15 Jun 2021
       
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       weiter. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 98.
       
 (DIR) Bizarre Rechtsprechung in Belarus: Absurde Gerichtsurteile
       
       Belaruss*innen dürfen nicht selbst entscheiden, wem sie ihre Wohnung
       vermieten. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 96.
       
 (DIR) Юриспруденция в Беларуси: Больше абсурдных приговоров
       
       Кому сдавать свою квартиру белорус не имеет права выбрать. Янка Беларус
       рассказывает об абсурде, который происходит сегодня в Минске. Эпизод 96.
       
 (DIR) Blogger Protassewitsch auf Twitter: Weiter Winter in Belarus
       
       Der entführte Blogger Roman Protassewitsch wandelt lächelnd durch Minsk und
       meldet sich auf Twitter zurück. Leider ist das kein Hoffnungssignal.
       
 (DIR) Urteil gegen Oppositionellen in Belarus: Haftstrafe für Gegenkandidat
       
       Viktor Babariko ist von einem Gericht in Belarus zu 14 Jahren Haft
       verurteilt worden. Bei den Wahlen 2020 wollte er gegen Lukaschenko
       kandidieren.
       
 (DIR) Kulturpolitischer Eklat mit Belarus: Unterwegs Richtung Nordkorea
       
       Belarus isoliert sich immer mehr. Nun wirft Lukaschenko sogar das
       Goethe-Institut aus dem Land. Das ist ein weltweit einmaliger Vorgang.
       
 (DIR) Repressionen in Belarus: Im Hausarrest
       
       Der Staat treibt in Belarus mit seinen Bürgern seltsame Spiele. Olga
       Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 93.
       
 (DIR) Zensur der Presse in Belarus: Das Lager der Extremisten
       
       Die Machthaber wollen das Infoportal TUT.BY als extremistisch einstufen.
       Janka Belarus erzählt vom Leben in Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 92.
       
 (DIR) Staatspropaganda in Belarus: Ein wenig Hetze muss schon sein
       
       Die Minsker*innen erhalten Rechnungen für kommunale Dienste. Da steht
       noch mehr drauf. Janka Belarus über Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 91.
       
 (DIR) Neue EU-Sanktionen gegen Belarus: Schwarze Liste wird länger
       
       Es gab eine Reaktion auf die Repressionen in Belarus und die
       Flugzeugentführung. 78 Einzelpersonen und acht Firmen werden mit Strafen
       belegt.
       
 (DIR) Russland will Kickboxer ausliefern: Alexei Kudin droht Haft in Belarus
       
       Einst ehrte Diktator Alexander Lukaschenko den Profi-Kickboxer als
       „verdienten Sportler der Republik Belarus“. Jetzt will er ihn einsperren.
       
 (DIR) Politische Gefangene in Belarus: Suizidversuch im Gericht
       
       Der unschuldig verurteilte Aktivist Stepan Latypow wollte sich im Gericht
       das Leben nehmen. Janka Belarus über Minsk in stürmischen Zeiten. Folge 90.
       
 (DIR) Entführter Oppositioneller in Belarus: „Ein Mann mit Eiern aus Stahl“
       
       Der inhaftierte Blogger Roman Protassewitsch legt in einem Interview ein
       Geständnis ab und lobt Belarus' Machthaber. Alles deutet auf Folter hin.
       
 (DIR) Belarussischer Musiker über Proteste: „Wir werden gewinnen“
       
       Der belarussische Musiker Igor Bancer kommt in den nächsten Tagen für acht
       Monate in eine Strafkolonie. Ein Gespräch darüber und zur Stimmung in
       seinem Land.
       
 (DIR) Protestbewegung gegen Lukaschenko: Nach der Revolte
       
       In Belarus brachte die Protestbewegung das Regime an den Rand des
       Scheiterns. Doch das ist vorbei. Warum Lukaschenko wieder fest im Sattel
       sitzt.