# taz.de -- Russische Mütter in Kriegszeiten: Mamotschka kann nicht helfen
       
       > Russlands Gesellschaft macht aus Frauen passive Erfüllerinnen des
       > Staatswillens. Jetzt, wo ihre Söhne im Krieg sterben, proben manche
       > Mütter den Aufstand – aber ohne politische Forderungen.
       
 (IMG) Bild: Mutter begleitet den Sohn zur Einberufung
       
       Das Russische kennt viele Wörter für die Mutter: Mama, Mam, Mamotschka,
       Mamussik, Mamulka, Mamanja, Mamenka, Mamka, Mamascha. Manche klingen
       liebevoll, manche abwertend. Selbst als Land wird Russland zuweilen
       Mütterchen genannt, Matuschka. Und dieses Mütterchen, so die ideologisch
       aufgeladene Legende, tue alles für sein Kind. Wenn es sein muss, holt die
       Mutter ihren Sohn auch von der Front heim. So haben es russische Mütter in
       Afghanistan getan. In Tschetschenien.
       
       Im Krieg in der Ukraine jedoch, den Russland euphemistisch als
       „militärische Spezialoperation“ bezeichnet, verhalten sich die meisten von
       ihnen – wie auch die Mehrheit der russischen Gesellschaft – passiv. Sie
       finden sich mit ihrer Rolle der aufopfernden Dienerin des Staates ab. Eines
       Staates, der in ihnen oft eine rein reproduktive Kraft sieht, um diesen
       Staat mit neuen Konformist*innen zu versorgen.
       
       Die Söhne gehörten dem Staat, sagte kürzlich der Gouverneur von Irkutsk,
       Igor Kobsew, als er zum russischen Muttertag einige Mütter von in der
       Ukraine gefallenen Soldaten einlud. Ebenfalls vor dem Muttertag erklärte
       Russlands Präsident [1][Wladimir Putin] ausgewählten Müttern bei Tee und
       Gebäck, dass bei Verkehrsunfällen schließlich auch Menschen stürben. Ihre
       Söhne aber, die aus dem Leben schieden (so nannte er ihren Tod in der
       Ukraine), hätten „nicht vergebens“ gelebt. Sie hätten „ihr Ziel“ erreicht.
       
       Am Ende gab es ein Foto mit den siebzehn Frauen, allesamt handverlesen aus
       kremlnahen Organisationen. Keine von ihnen stellte auch nur eine kritische
       Frage an den Präsidenten. Indes hat der Priester [2][Michail Wassiljew] aus
       dem Hauptquartier der Strategischen Raketentruppen bei einem Kirchensender
       im Oktober erklärt, Frauen müssten einfach mehr Kinder gebären, damit sie
       bei einem gefallenen Sohn nicht allzu stark trauerten. Einige Wochen danach
       fiel der Priester bei Cherson selbst. Er habe „den Tod an der Front
       angenommen“, nannte es die Kirche.
       
       ## Leben und Sterben für den Staat
       
       Leben und Sterben, so vermittelt der Staat, geschehe für diesen Staat. Der
       Mensch zählt da wenig. Jeder, der bei der „Spezialoperation“ fällt, wird in
       Russland als Held betrachtet, die Behörden verkaufen seinen Tod den
       Hinterbliebenen als sinnvoll.
       
       Für ihre Söhne packen manche russische Mütter derzeit warme Socken und
       Thermounterwäsche zusammen, sie verehren ihre Helden, die Gewalt und Leid
       in die Ukraine bringen, und verstehen oft nicht, was „hinter dem Band“
       passiert, wie sie das Kampfgebiet hinter der Grenze nennen. Wenn sie zu
       verstehen beginnen, sind sie zuweilen erschrocken. Der Sohn im Kampf ohne
       ordentliche Stiefel und gute Kalaschnikows? Das ist es, was sie umtreibt.
       Das ist es, wofür sie sich in kleinen Gruppen zusammenschließen und Stunden
       anstehen – im Verteidigungsministerium, in der Kreml-Administration, beim
       Militärstaatsanwalt. Sie haben Fragen und bekommen kaum Antworten.
       
       Den Staat stellen sie dabei nicht in Frage, aus Angst oft und wegen der
       Verfolgung. Aber auch, weil sie der Propaganda glauben, die ihnen
       weismachen will, das große, großartige und besondere Russland sei seit
       jeher von Feinden umzingelt, die dieses Russland in die Knie zwingen
       wollten.
       
       ## Von Politik wollen sie nichts wissen
       
       Aus Selbstschutz wollen viele Mütter gar nicht erst wissen, was ihr Land in
       ihrem Namen in der Ukraine treibt. „Die Politiker sehen es besser als wir“,
       ist der Spruch, den sie dann sagen, als wollten sie eine Fliege
       verscheuchen. Mit Politik, das hat ihnen der repressive Staatsapparat
       jahrzehntelang eingetrichtert, das geben sie auch bereitwillig weiter,
       wollten sie nichts zu tun haben – bis die Politik ihnen das Liebste nehmen
       will. Doch auch da: Sie fügen sich. Passen sich an. Ertragen das
       Unerträgliche.
       
       Vor allem wollen sie ihr Kind gut versorgt wissen. Denn dieses sei
       schließlich zum Schutz seines Vaterlandes in den Kampf gezogen. Sie, die
       ihm ein Leben lang beibrachten, das Vaterland zu verteidigen, wie es auch
       ihren Männern, Vätern, Großvätern beigebracht worden war, haben ihn ziehen
       lassen in diesen Kampf, ohne nach dem Sinn dieser „Verteidigung“ zu fragen.
       „Wenn der Staat halt ruft, muss es wohl eben so sein“, ist die
       fatalistische Haltung, die sich aus patriarchalem Grundverständnis nährt.
       
       Der Militarismus ist dabei die höchste Stufe traditioneller Männlichkeit.
       Der Sohn, sagen die Frauen und lassen ihn weinend zu seiner Militäreinheit
       bringen, sei schließlich kein Waschlappen, der Sohn sei ein Mann und
       erfülle seine Pflicht. Sie, die Mutter, erfülle ebenfalls ihre Pflicht. Die
       Pflicht, Mutter zu sein, was nach traditionellem Rollenverständnis vor
       allem die Opferbereitschaft zum höchsten Gut erklärt.
       
       Die Frau gibt sich als Mutter selbst auf, um das Wohl der Tochter und noch
       mehr des Sohnes in den Vordergrund zu rücken. Die Tochter werde es schon
       schaffen, mag sie auch für ein liebevolles, schwaches Wesen gehalten
       werden, das in Rüschenkleidchen gesteckt wird und dem auf dem Spielplatz
       hinterhergerufen wird, es möge sich doch bitte in diesem hübschen Aufzug
       nicht schmutzig machen, weil sich so etwas für ein Mädchen nicht gehöre.
       
       So sprechen viele russische Mütter, in der Meinung, sie wüssten eben, wie
       eine Frau ticke. Die Tochter werde all die Schwierigkeiten, die sich in
       ihrem Leben auftäten, packen. Sei ja dann schließlich eine russische Frau.
       Und diese könne „das Pferd im Galopp anhalten und in die brennende Hütte
       eintreten“. So hat es im 19. Jahrhundert einmal [3][Nikolai Nekrassow] in
       seinem Gedicht „Russische Frauen“ formuliert. Als geflügeltes Wort sind die
       Zeilen bis heute im alltäglichen Leben geblieben.
       
       ## Söhnen muss geholfen werden
       
       Dem Sohn aber, dem müssten sie helfen. Wäsche waschen, kochen, solche
       Sachen. Denn solche Sachen sind des Sohnes, ja des Mannes nicht würdig,
       meinen sie. Er sei ja der Verteidiger, das bekommen bereits Dreijährige mit
       auf den Weg gegeben. Was sie verteidigen, wird den Kleinen nicht unbedingt
       erklärt. Warum, schon gar nicht.
       
       Das Postulat, das von Generation zu Generation weitergegeben wird: Söhne
       seien Beschützer der Heimat. Die Verteidiger des „Mütterchen Russland“.
       Wenn der Vater Staat die Söhne für irre Ideen krepieren lässt, ist es die
       „Mamotschka“, die zur Hilfe eilt, die aus ihrer Opferbereitschaft Stärke
       herauszieht und sich stets, wenn es schwierig ist, emanzipiert – fürs Kind,
       selten für sich.
       
       Das Bild der Frau in Russland ist immer noch das Bild der Ehefrau und
       Mutter. Da mögen die Errungenschaften der Sowjetunion, aus Hausfrauen und
       Bäuerinnen politische Subjekte gemacht zu haben – samt bolschewistischen
       Experimenten in den Bereichen Sexualität und Familie, Frauenwahlrecht
       bereits 1917 und Kinderkrippen allenthalben –, noch so oft erwähnt und
       gelobt werden. Die Frauen im Land hören bis heute, sie seien nur etwas
       wert, wenn sie einen Mann an ihrer Seite hätten. Selbst das russische Wort
       für „heiraten“ verdeutlicht dieses Verständnis: Der Mann nimmt sich dabei
       eine Frau, die Frau steht hinter einem Mann. Zumal in Kriegszeiten.
       
       Der russische Staat instrumentalisiert die Rolle der Mutter. Er versteht
       diese als traditionell und betont diese Tradition immer mehr. Europa,
       dieses „Etwas mit verdorbenen Werten“, wie die Propagandist*innen
       raunen, verbiete seinen Kindern, zur Mutter „Mama“ zu sagen. Europa sei
       damit beschäftigt, aus Mädchen Jungen und aus Jungen Mädchen zu machen,
       erzählen sie im Staatsfernsehen „Wer soll denn diese vielen Gender da
       verstehen?“, sagte Wladimir Putin bei seinem Treffen mit den 17 Müttern und
       erklärte, wie geordnet doch alles in Russland zugehe.
       
       Die Mama bleibt also beim Kinde, die Mama pflegt und tröstet und macht aus
       dem Sohn einen guten Soldaten. Die russische Schauspielerin [4][Olga
       Budina] erläuterte kürzlich, Mütter in Russland müssten alles in ihrer
       Macht Stehende tun, um ihre Söhne für die „Spezialoperation“ vorzubereiten.
       
       ## Traditionelles Männerdefizit
       
       Russland leidet seit Jahrzehnten an einem Männerdefizit. Es leben etwa zehn
       Millionen weniger Männer als Frauen im Land. Die Lebenserwartung der Frauen
       ist mit 78 Jahren mehr als zehn Jahre höher als die des Mannes. Der
       Unterschied ist so groß wie kaum anderswo auf der Welt. Nun verliert das
       Land noch mehr Männer: im Krieg und durch Auswanderung, um der
       Mobilisierung für diesen Krieg zu entkommen.
       
       Frauen haben weniger Auswahl an Männern als Männer an Frauen. Somit ist die
       Frau eigentlich Jägerin und bleibt doch oft Beute und Beiwerk, auf ihre
       „Pflicht zur Mutterschaft“ reduziert. „Traditionelle russische
       spirituell-moralische Werte“ sind in der russischen Verfassung verankert,
       Familie basiert dabei auf einer heterosexuellen Ehe. Der Staat kämpft gegen
       ein Demografie-Problem und ermuntert jede Familie mit finanziellen Anreizen
       durch das sogenannte „Mutterkapital“ zu drei Kindern. Die durchschnittliche
       Geburtenrate liegt in Russland derzeit bei 1,5 Kindern pro Frau (wie auch
       in Deutschland), im Vergleich zu vor zehn Jahren ist sie gesunken.
       
       Die Familienpolitik ist patriotisch und moralisierend. Selbst den einstigen
       sowjetischen Orden der „Heldin Mutter“ für Mütter mit mehr als zehn Kindern
       – 1944 eingeführt und 1995 abgeschafft – hat Putin vor einigen Monaten
       wieder aufleben lassen. Den ersten Orden ließ er Medni Kadyrowa
       überreichen, der Ehefrau des Tschetschenien-Führers [5][Ramsan Kadyrow].
       Zwölf Kinder mindestens soll sie zur Welt gebracht haben, drei ihrer
       minderjährigen Söhne sollen in der Ukraine kämpfen. Der Kreml bedient das
       chauvinistische Bild von Mann und Frau.
       
       Egalitäre Elternschaftsmodelle sind ein Randphänomen in Russland. Der Vater
       ist oft nur ein „Helfer“, kein gleichberechtigter Partner. Nicht selten
       zieht er sich ganz aus dem Leben seines Kindes zurück, das dann bei Mutter
       und Großmutter aufwächst. Das fehlende Vatervorbild verstärkt den
       Teufelskreis um Jungen als Prinzen, die später zu Männern werden, die sich
       von Frauen bedienen lassen.
       
       Bei Krisen fallen viele Männer in einen Schlund aus Problemen. „Das war in
       den 1990er Jahren sichtbar, das Muster hat sich auch jetzt gezeigt: Der
       Mann ergibt sich seinem Schicksal, die Frau packt an“, sagt Lola Tagajewa,
       die Chefredakteurin des russischsprachigen Online-Magazins „Wjorstka“. Seit
       Jahren beschäftigt sie sich mit feministischen Themen, hat mit ihrem Team
       in den vergangenen Monaten zahlreiche Geschichten von Frauen
       zusammengetragen, die ihren Söhnen und Ehemännern hinterherfahren, um sie
       vor dem sicheren Tod in der Ukraine zu bewahren.
       
       In Russland ist die Homepage des Magazins gesperrt, Tagajewa leitet das
       Medium von Prag aus, wohin sie bereits vor Kriegsbeginn mit ihrer Tochter
       gezogen ist. Sie bescheinigt den Frauen eine aktivere Rolle als den
       Männern, auch wenn die meisten von ihnen immer noch das Regime
       unterstützten und lediglich dafür kämpften, dass ihre Kinder etwas mehr zu
       essen und wärmere Kleidung bekämen. „Im Vergleich zu den Kriegen in
       Tschetschenien sind sie passiv.“
       
       „Frauen buchen Flüge, um ihre Männer und Söhne aus dem Land zu schicken,
       Mütter schreiben Beschwerdebriefe an die Behörden, um ihre wehrpflichtigen
       Söhne aus dem Krieg zu holen. Väter bleiben außen vor“, sagt Tagajewa. Der
       Staat aber lässt diese Mütter als „die Armee diskreditierende
       Verräterinnen“ vor eine Mauer des Schweigens rennen – und überhöht
       gleichzeitig die Rolle der Mutter als „das Liebenswerteste auf der Welt“.
       
       7 Dec 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.spiegel.de/ausland/wladimir-putin-trifft-muetter-getoeteter-soldaten-und-gibt-durchhalteparolen-aus-a-cb94a9f9-024f-4d59-b445-5ab8c8e44697
 (DIR) [2] https://www.n-tv.de/politik/Russischer-Skandal-Priester-stirbt-bei-Beschuss-in-Cherson-article23702207.html
 (DIR) [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolai_Alexejewitsch_Nekrassow
 (DIR) [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Olga_Alexandrowna_Budina
 (DIR) [5] /Kadyrow-in-Tschetschenien/!5798310
       
       ## AUTOREN
       
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