# taz.de -- Stadtnatur in Berlin: Unser Kiez ist ihr Revier
       
       > Stadtranger*innen sollen den Berliner*innen die Natur vor ihrer Haustür
       > näherbringen. Hier ist die Artenvielfalt oft höher als auf dem Land.
       
 (IMG) Bild: Ranger*innen Toni Becker und Julia Kionka auf ihrem Weg durch den Viktoriapark
       
       Die neunjährige P. schlug vor ein paar Wochen Alarm: „Rettet Millionen
       Leben!“, stand auf ihren selbstgemalten, bunten Plakaten, die sie rund um
       den Viktoriapark aufgehängt hatte. Der Kreuzberger Wasserfall war aufgrund
       von Reparaturmaßnahmen ausgestellt, Kaulquappen und Laich drohte der Tod.
       „Wasser Marsch!“ hatte die Neunjährige ihre Aktion öffentlichkeitswirksam
       betitelt – leider vergeblich.
       
       „Dieses Jahr wird es wohl keine neuen Erdkröten im Viktoriapark geben“,
       sagt Toni Becker, Stadtnatur Ranger für den Bezirk
       Friedrichshain-Kreuzberg. Gemeinsam mit seiner Kollegin Julia Kionka steht
       an einem warmen Spätnachmittag Mitte Mai vor dem ausgetrockneten Becken.
       Seit wenigen Tagen sind die beiden im Rahmen des Modellprojekts Stadtnatur
       Ranger*innen im Einsatz. Als Ansprechpartner*innen in Naturschutzfragen
       sollen sie die Berliner*innen stärker mit der Natur in ihrem Kiez
       verbinden. Die Senatsverwaltung für Umwelt finanziert das Projekt bis Ende
       2021 mit jährlich rund zwei Millionen Euro. Danach soll entschieden werden,
       ob es verlängert wird. Trägerin ist die Stiftung Naturschutz Berlin.
       
       „Ranger sind Generalisten, und das ist das, was sie unheimlich effektiv und
       wertvoll macht“, sagt Lars Büttner, Projektleiter der Stadtnatur
       Ranger*innen bei der Stiftung Naturschutz. Der Beruf sei sehr vielseitig:
       „Ranger*innen können mit Fachleuten reden, umweltpädagogische Angebote
       machen, Kartierungen und Monitoring durchführen, aus den gesammelten Daten
       Rückschlüsse ziehen und Pflege- und Erhaltungsmaßnahmen vorschlagen. Und
       schließlich können sie ihre Rückschlüsse in Öffentlichkeitsarbeit ummünzen
       und somit in die Bevölkerung reintragen.“ Büttner hält das für einen „sehr
       cleveren Ansatz“. Ordnungsbefugnisse haben die Berliner Stadtnatur
       Ranger*innen nicht.
       
       Zwölf Ranger*innen sind zurzeit in den Bezirken Mitte,
       Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und
       Steglitz-Zehlendorf im Einsatz. Bis zum Herbst sollen weitere fünf Bezirke
       dazukommen, nachdem sich das Einstellungsverfahren aufgrund von Corona
       verzögert hatte. Das Projekt wird während der Laufzeit wissenschaftlich
       begleitet. Der Bezirk Pankow setzt bereits seit einem Jahr eigenständig
       drei Ranger*innen ein.
       
       Becker ist schnell abgelenkt – „Die plärrenden Kinderstimmchen – eine
       Blaumeisen-Familie! Und dahinter brüllt eine Amsel“, sagt er mitten im
       Gespräch. Für den Ornithologen und Geografen ist der strukturreiche
       Viktoriapark ein Ereignis. „Buchfink, Spatzen, da drüben ein Rotkehlchen –
       das ist außergewöhnlich für so einen warmen Tag und spricht für die
       Qualität des Parks. Das ist eben nicht Sanssouci“, fasst er zufrieden
       zusammen. Die identifizierten Vogelarten gibt er im kühlen Schatten der
       Bäume in seine App ein. Datenerfassung ist ein wichtiger Bestandteil seiner
       Arbeit. Auch Bürger*innen können sich über die App ArtenFinder daran
       beteiligen.
       
       Neulich haben Becker und Kionka neun Schmuckschildkröten aus Nordamerika im
       Engelsbecken gefunden – eine invasive gebietsfremde Art, die auf der
       schwarzen Liste der EU steht und im Freiland bekämpft werden soll. Auf der
       Liste stehen Arten, die auf dem europäischen Kontinent nicht beheimatet
       sind und mit ihrer Ausbreitung Ökosysteme gefährden. „Hier sind alle Arten
       aufeinander abgestimmt, und das ist dann ein ökologisch ziemlich unsanfter
       Eingriff“, sagt Becker. Invasive Arten verdrängen die heimischen und können
       zu einer dauerhaften Verschiebung in den Ökosystemen führen.
       
       ## Daten sammeln über Pflanzen und Tiere
       
       Die Ranger*innen können nun dazu beitragen, die Berliner Datenlage auch
       über diese Tier- und Pflanzenarten zu verbessern. Zu den invasiven Arten in
       Berlin zählt auch der ursprünglich aus den USA stammende Rote Amerikanische
       Sumpfkrebs, der auch „Berliner Hummer“ genannt und mittlerweile als
       Berliner Delikatesse in Restaurants angeboten wird.
       
       Kionka zieht eine Zwergfledermaus und einen Abendsegler aus ihrer grünen
       Arbeitsjacke, zwei selbstgenähte Fledermausexemplare in Echtgröße. Sie
       hofft, spätestens im Herbst mit den Fledermausführungen loslegen zu können.
       Vor ihrem Beruf als Rangerin hat die Biologin als Fledermausgutachterin
       gearbeitet.
       
       In Berlin finde man die Zwergfledermaus am häufigsten. „Die schreit so laut
       wie ein Presslufthammer, aber auf einer Frequenz, die wir nicht hören
       können“, erklärt Kionka. Den Abendsegler könne man hingegen mit bloßen
       Ohren hören. Für alle anderen Fledermausarten gibt es einen
       Ultraschalldetektor, den die Rangerin an ihr Handy anschließen kann.
       
       „Die Stadt ist zum alternativen Hot-Spot der Artenvielfalt geworden“, sagt
       Büttner. Der ländliche Bereich sei häufig ausgeräumt und im Sinne der
       Landwirtschaft sehr effektiv gegliedert. Die Stadt wird dadurch nun auch
       zum Rückzugsort für viele Arten. In Berlin gibt es mehr als [1][20.000
       Tier- und Pflanzenarten] und rund 13.000 Hektar öffentliche Grünflächen.
       Nach Angaben des NABU machen öffentliche Grünflächen wie Grünanlagen,
       Spielplätze, Kleingärten, Friedhöfe, Straßen- und Parkbäume etwa 14% der
       Stadtgebietsfläche aus. Auch deshalb ist Berlin als Großstadt für viele
       attraktiv. „Aber das ist kein Selbstläufer, das muss man schon auch pflegen
       und entwickeln“, betont Büttner.
       
       ## Viel ehrenamtlicher Naturschutz
       
       In Berlin gibt es einen aktiven, ehrenamtlichen Naturschutz. Büttner hofft,
       dass das Ranger*innen-Projekt wie eine Art Katalysator wirkt, der die
       Zusammenarbeit stärkt. Die Stadtnatur Ranger*innen sind an die Untere
       Naturschutzbehörde angebunden und werden mit den Straßen- und
       Grünflächenämtern der Bezirke sowie dem Ordnungsamt zusammenarbeiten.
       Eigene praktische Arbeiten führen Ranger*innen nur nach Absprache durch.
       
       Die Geschäftsführerin und Pressesprecherin des NABU Landesverbandes Berlin,
       Jutta Sandkühler, freut sich über die Stadtnatur Ranger*innen. „Wir
       befürworten, dass es für die Vor-Ort-Betreuung naturschutzfachlich
       wertvoller Flächen jetzt feste Strukturen gibt“, sagt sie. Dies sei eine
       positive Ergänzung zu der jahrelangen Arbeit von Ehrenamtlichen, die
       ebenfalls Führungen anböten und sich in Absprache mit den
       Flächeneigentümern im praktischen Naturschutz engagierten. „Im Viktoriapark
       haben wir unter anderem neue Nistkästen angebracht, Deckungsmöglichkeiten
       für Vögel geschaffen und die Brutvögel kartiert.“
       
       ## Bezirkliche Ranger*innen könnten auch was verbieten
       
       Sandkühler hält es jedoch für sinnvoller, die Ranger*innen direkt bei den
       Bezirken, also den Unteren Naturschutzbehörden, anzusiedeln. Davon
       verspricht sie sich kürzere Kommunikationswege und größere
       Handlungsfähigkeit. „Als Mitarbeiter*innen der Bezirke könnten Ranger auch
       kurzfristig selbst tätig werden, wenn etwa Weidezäune defekt sind und eine
       rasche Reparatur erfolgen muss“, sagt sie.
       
       Denn in den meisten Schutzgebieten mangele es an der Umsetzung. In der
       Senatsverwaltung würden jedoch nur zwei Personen finanziert, um Maßnahmen
       zur Erhaltung und zur Pflege in den Berliner Naturschutzgebieten
       umzusetzen. „Vor diesem Hintergrund kann man sich auch fragen, ob die 2
       Millionen Euro hier wirklich in Gänze sinnvoll eingesetzt sind.“
       
       Denn weil sie nicht bei den Bezirken angesiedelt sind, lassen sie sich auch
       nicht an das Ordnungsamt und die Polizei anbinden. Das fände Sandkühler
       aber sinnvoll. „Bei Verstößen gegen Schutzgebietsverordnungen sind die
       Ranger*innen zahnlose Tiger“, sagt sie. „Es braucht zuweilen auch einen
       Schutz der Natur vor Menschen, die sich in hochsensiblen Zeiten in
       Schutzgebieten bewegen.
       
       Die zum Beispiel ihre Hunde zur Laichzeit in Amphibiengewässern baden
       lassen und damit den Fortbestand der Population gefährden, ferngesteuerte
       Boote an die Nistplätze von Wasservögeln steuern oder auf Wiesen lagern,
       auf denen Feldlerchen brüten, wodurch sie die Aufgabe der Brut in Kauf
       nehmen.“ Die größte Herausforderung für den Schutz der Stadtnatur bleibe
       jedoch die Sicherung von wertvollen Flächen vor Bebauung und
       Infrastrukturmaßnahmen.
       
       ## Vermitteln zwischen Mensch und Natur
       
       Umweltstadträtin Clara Herrmann vom Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain freut
       sich auf die Umweltbildungsmaßnahmen in ihrem Bezirk. „Unsere Ranger*innen
       werden zu Führungen in der Stadtnatur einladen und Naturlehrpfade
       entwickeln. Dabei wird es vor allem um Fledermäuse und Wildbienen, aber
       auch um die Naturdenkmale in Friedrichshain-Kreuzberg gehen“, teilte sie
       auf taz-Anfrage mit.
       
       Die Gebietsentwicklung am Friedrichshainer Spreeufer hat für Herrmann
       zurzeit Priorität, dies sei von besonderer ökologischer Bedeutung. Die
       Renaturierung der unter Naturschutz stehenden Inseln – der Liebesinsel und
       der Insel Kratzbruch vor dem Rummelsburger See – soll noch in diesem Jahr
       beginnen. „Wir wollen unsere ökologischen Hotspots dauerhaft erhalten und
       ausbauen – als Baustein auf dem Weg zur klimaresilienten Stadt.“
       
       Becker und Kionka sehen sich vor allem als Vermittler*innen zwischen Mensch
       und Natur. Sie können viel erzählen: Über Mauerfarn und Pfaffenhütchen,
       Waldkauz, Habicht, Mauerpfeffer und Mandarinenten, Maulbeerbaum, Knöterich
       und Mönchsgrasmücke. „Wir bringen Vielfalt nahe, und sind da auch
       geduldig“, verspricht Becker. „Wir erklären auch gern den Unterschied
       zwischen einer Blau- und einer Kohlmeise.“
       
       27 May 2020
       
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