# taz.de -- Tote in Libyen: Drohnenangriffe gegen Ausreisewelle
       
       > Libyens Regierung lässt Küstenstädte bombardieren, um Migration übers
       > Mittelmeer zu bremsen. Doch die Abfahrt von Booten verlagert sich.
       
 (IMG) Bild: Ein Boot mit Geflüchteten in internationalen Gewässern vor der Küste Libyens, 24.04.2023
       
       TUNIS taz | In Libyen sind bei Drohnenangriffen auf Treibstofflager und
       Befehlszentralen von Menschenhändlern in den Hafenstädten Zawiya und Zuwara
       mindestens vier Menschen ums Leben gekommen. In der Hauptstadt Tripolis
       gestartete Drohnen hatten am Freitag zunächst die Kasernen von Kämpfern
       der Buzriba-Brüder ins Visier genommen. Die Familie kontrolliert in Zawiya
       mehrere private und staatliche Gefängnisse für Migranten. Laut UN-Experten
       schicken die Buzribas ebenso wie konkurrierende Milizen Migranten auf
       Booten nach Lampedusa und Sizilien.
       
       Wer die Drohnen gesteuert hat, ist bislang unbekannt. Die Regierung in
       Tripolis wird von türkischen Militärberatern unterstützt. Mit dem Einsatz
       von türkischen Drohnen war zuvor [1][die „Libysch-Arabische Armee“ unter
       Chalifa Haftar] wieder nach Ostlibyen vertrieben worden. Die Türkei hat
       weiterhin Soldaten und Militärgerät in Tripolis stationiert.
       
       Mit dem militärischen Vorgehen gegen die westlibyschen Schmugglernetzwerke
       will die Regierung von Premierminister Abdulhamid Dabaiba offenbar die für
       die nächsten Wochen erwartete Ausreisewelle nach Italien stoppen. Zu den
       vielen Arbeitssuchenden aus Westafrika, die in Westlibyen auf einen Platz
       in einem Boot warten, sind in den letzten Wochen mehrere Tausend
       Flüchtlinge aus dem Sudan hinzugekommen. Mit der für Juni erwarteten
       stabilen Wetterlage ist das Mittelmeer auch für kleine Boote passierbar.
       
       Die Grenze zwischen staatlichen und privaten Strukturen ist in Libyen
       verschwommen. So ist der von der EU wegen Menschenhandel sanktionierte
       Milizenchef Abdelrahman al-Milad in Zawiya Chef der Küstenwache. Einige
       Geschosse haben auch Gebäude des Parlamentsabgeordneten Ali Buzriba
       getroffen, der ebenfalls eine unbekannte Zahl von Milizionären in Zawiya
       befehligt.
       
       Der Angriff auf den regierungskritischen Milizenführer Shaabab Hadia zeigt
       zudem, dass Dabaibas militärisches Vorgehen auch seinen politischen Gegnern
       in Zawiya gilt. Diese haben die Angriffe mit der Besetzung der größten
       Ölraffinerie Westlibyens und der Blockade der Hauptstraße von Tripolis in
       Richtung des libysch-tunesischen Grenzübergangs Ras Ajdir beantwortet.
       
       ## Opferzahlen steigen
       
       Die Konkurrenz zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen in Zawiya war in
       den letzten Monaten immer wieder in Gewalt umgeschlagen. In Tripolis
       ankommende Migranten versuchen deshalb, in die tunesische Hafenstadt Sfax
       zu gelangen, die Zawiya als Hauptabfahrtsort für die Fahrt nach Italien
       abgelöst hat. In Sfax organisieren sich viele Gruppen aus Subsahara-Afrika
       mittlerweile autonom, um sich zu schützen.
       
       Doch das Vermeiden der westlibyschen Städte hat einen Anstieg der
       Opferzahlen zur Folge. Die Fischer von Sfax bieten den Migranten und
       Flüchtlingen nur notdürftig zusammengeschweißte Metallboote mit flachem
       Boden an. Selbst bei leichtem Wellengang sinken viele der Boote nach
       Wassereinbruch innerhalb weniger Minuten. Zwar kommen auch in Libyen nicht
       seetaugliche Schlauchboote zum Einsatz, doch diese halten sich im Notfall
       zumindest noch einige Stunden über Wasser.
       
       [2][Migranten in Sfax] berichteten der taz von täglich mehreren Booten, die
       zwar ablegen aber dann mitsamt den durchschnittlich 30 Menschen an Bord als
       vermisst gelten. „40 Prozent der ablegenden Boote sinken, ohne dass jemand
       etwas mitbekommt, denn die Unglücke passieren meistens außerhalb der
       Reichweite von Mobiltelefonnetzwerken“, schätzt der Sudanese Ali, der seit
       April auf eine Überfahrt wartet. „Ich habe bereits mehrmals aus Sorge um
       Freunde den geschätzten Standort von vermissten Booten mitgeteilt. Ich habe
       nie wieder von meinen Freunden gehört.“
       
       Die Verlagerung der Migration von Libyen in das eigentlich sichere Tunesien
       hat das Mittelmeer aus Alis Sicht noch tödlicher gemacht. Auch nach
       UN-Angaben liegt die Zahl der bekannten Opfer mit mehr als 400 im ersten
       Quartal des Jahres höher als in den letzten sechs Jahren.
       
       In den kommenden Wochen dürfte nun die Zahl der aus Sfax sowie aus den
       ostlibyschen Städten Bengasi und Tobruk abfahrenden Boote extrem ansteigen.
       Denn nach den Drohnenangriffen in Zawiya wird seit Sonntag auch in Tripolis
       gekämpft. Die regierungstreue Einheit 444 hatte einen Kommandeur der
       Rada-Miliz verhaftet, die wiederum mit Schmugglern aus Zawiya verbündet
       ist. Das Milizenchaos Westlibyens wird sogar für die Menschenhändler zu
       riskant.
       
       Kritiker Haftars vermuten, dass die vielen aus Bengasi und Tobruk
       ablegenden Boote mit Migranten und Flüchtlingen aus Bangladesch, Syrien,
       Ägypten und Sudan nur mit dessen Einverständnis ablegen können. „Haftar
       nutzt die Migration, um Druck auf Europa aufzubauen“, sagt der
       Libyen-Experte Jalel Harchaoui. Offenbar mit Erfolg: Bei offiziellen
       Gesprächen mit Italiens Regierungschefin Anfang Mai wurde nicht über die
       Kriegsverbrechen von Haftars Soldaten gesprochen.
       
       30 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mirco Keilberth
       
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