# taz.de -- Türkei-Fans und Nationalismus: Siegesrausch und Schuldgefühl
       
       > Endlich hätten sie mal vereint feiern können. Doch rechtsextreme Symbolik
       > und spaltender Nationalismus lässt den Jubel vieler Türken verstummen.
       
 (IMG) Bild: Beim Sieg gegen Georgien schien die Party noch etwas ausgelassener, der Nationalismus weiter weg
       
       Zwei Hände in die Luft gereckt wie Dolche, die in die kollektive Freude von
       Millionen Feiernden gestoßen werden. Der [1][Torjubel eines türkischen
       Nationalspielers mit dem doppelten Grauen Wolfsgruß,] eine doppelte
       Bedrohung für die gefühlte Einheit eines Landes, das dringend der
       Versöhnung bedarf. Die deutsche Innenministerin verurteilte die Tat, die
       Uefa leitete eine Untersuchung ein, und nun hat Präsident Erdoğan – der nie
       eine Gelegenheit auslässt, ein wenig antieuropäische Stimmung zu verbreiten
       – einen dritten Dolchstoß hinzugefügt, indem er ankündigte, alle
       bevorstehenden Staatsbesuche abzusagen, um am Samstag zum Viertelfinale
       gegen die Niederlande nach Berlin zu kommen.
       
       Der Rausch des Sieges verwandelt sich schnell in Schuldgefühle. Natürlich
       sind die nationalistischen Sentiments groß, wenn die Nationalmannschaft
       spielt. Aber sind deshalb automatisch alle, die bisher mit der Türkei
       gefeiert haben, Nationalisten? Ist es unmöglich, eine Europameisterschaft
       zu feiern und gleichzeitig Antinationalist zu sein?
       
       Eine Gruppe von 50 Leuten schaut das Spiel auf Bierkisten sitzend vor einem
       Spätkauf in Kreuzberg. Vorbeigehende Passanten hasten am Fernseher vorbei,
       um ja nicht die Sicht zu versperren, die Spannung ist groß. Man teilt sich
       ein Getränk und umarmt sich ungläubig spätestens, als Torwart Günok einen
       unmöglichen Kopfball in der Nachspielzeit hält. Der Schlusspfiff ertönt und
       Jubel bricht aus.
       
       Es ist allen in dieser Gruppe fast peinlich, etwas so Nationalistisches zu
       feiern. Doch dabei geht es nicht so sehr um den Stolz darauf, Türke zu
       sein, sondern endlich mal wieder etwas zu feiern zu haben. Gemeinsam. Gute
       Nachrichten aus der Türkei sind selten, meistens geht es um politische
       Niederlagen und verstorbene Verwandte. Menschen, die man sonst mit
       finsteren Gesichtern und Tausenden Sorgen sieht, lächeln plötzlich. Auch
       wenn es nur für einen Moment ist, auch wenn es nichts bedeutet.
       
       ## Nationalisten, die die Freude wieder wegnehmen
       
       Hier sitzen Kurden, Aleviten, Araber, Tscherkessen, sogar Deutsche – die
       meisten freuen sich für ihre Freunde, die sie noch nie so glücklich gesehen
       haben. Hier sitzen diejenigen, die von der türkischen Regierung politisch
       unterdrückt werden, die nicht in das Land zurückkehren können, in dem sie
       aufgewachsen sind. Diejenigen, die Diskriminierung und Verfolgung erfahren
       haben, oft von Nationalisten, die den Grauen Wolfsgruß zeigen.
       
       Und selbst jetzt, Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt vor dem
       Späti, hupen wieder Nationalisten aus ihren Autos, zeigen den Grauen
       Wolfsgruß im Vorbeifahren und schwenken türkische Fahnen, versuchen die
       Freude der Gruppe zu teilen, nehmen sie ihnen aber unbewusst wieder weg.
       
       Einige, die den Wolfsgruß zeigen, gehören der extremen Rechten an. Für
       andere ist er so weitverbreitet, dass er fast mit der türkischen Fahne
       gleichgesetzt wird – seit die Nationalisten in den letzten zehn Jahren an
       der Regierung beteiligt sind – und nichts anderes ist, als eine Art, seine
       Liebe zur Türkei zu zeigen. Aber für die Menschen im Späti spielt dieser
       Unterschied keine Rolle. Der Gruß ist etwas, vor dem man zurückschreckt.
       
       Nach dem Grauen Wolfsgruß und jetzt Erdoğans Entscheidung, persönlich zum
       Viertelfinale zu erscheinen, sind alle wieder voller Zweifel. Deutsche
       fragen andere Deutsche, die türkische Freunde haben, ob ein Boykott des
       anstehenden Spiels gegen die Türkei die richtige Reaktion auf den
       rechtsextremen Gruß sei. So wie sich vor einigen Jahren Urlauber an der
       türkischen Südküste fragten, ob sie nicht indirekt Erdoğan unterstützen,
       wenn sie in die Türkei reisen, das Land, das sie so lieben.
       
       ## Größer als Demiral und Erdoğan
       
       Man kann eine Fußballmannschaft unterstützen und gleichzeitig verurteilen,
       wofür sie steht. Die türkische Nationalmannschaft zu unterstützen, heißt
       nicht, die Augen zu verschließen. Die Mannschaft ist größer als Merih
       Demiral, der nun von der Uefa mit zwei Spielen Sperre bestraft wurde.
       
       Sie ist auch größer als Tayyip Erdoğan, gegen den lautstark protestiert
       werden sollte, damit er sich nicht willkommen fühlt … Auch wenn es in
       Wirklichkeit viele geben wird, die ihm zujubeln und ihn verehren, befeuert
       von nationalistischen Gefühlen, die in den letzten Wochen von der EM
       entfacht wurden.
       
       Wenn man Fußball nicht mag, wird man keine überzeugenden Argumente finden,
       die EM überhaupt zu gucken. Aber was sagt man den feiernden Leuten, die
       seit Jahrzehnten pausenlos arbeiten, die sich nie wirklich zugehörig
       fühlen? Das Einzige, worüber sie sich endlich freuen konnten, ist nun zu
       einer schlechten Erinnerung geworden. Unbewusst hoffen einige schon, dass
       [2][die niederländische Mannschaft die Türkei besiegt], damit die Situation
       nicht weiter eskaliert. Das ist ziemlich bitter.
       
       5 Jul 2024
       
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