# taz.de -- UN-Hilfswerk in Gaza: Wie weiter mit der UNRWA?
       
       > Israel erhebt schwere Vorwürfe gegen das Flüchtlingswerk UNRWA. Diese
       > weist die Anschuldigungen als haltlos zurück. Die Lage ist kompliziert.
       
 (IMG) Bild: Eine von der UNRWA betriebene kriegsbeschädigte Schule in Gaza-Stadt am 10. Februar
       
       Am vergangenen Freitag korrigierte Israels Verteidigungsminister Joaw
       Gallant seine bisherigen Angaben. Israel gehe nun davon aus, dass über 30
       Mitarbeiter des UN-Hilfswerks für die Palästinenser:innen, UNRWA, am
       Hamas-Massaker am 7. Oktober beteiligt gewesen seien. Bisher war von etwa
       halb so vielen die Rede, die UN hatten deshalb bereits neun
       UNRWA-Mitarbeiter entlassen.
       
       Sie hätten etwa Geiselnahmen ermöglicht und israelische Gemeinden
       geplündert, so Gallant. 1.468 der insgesamt 13.000 UNRWA-Beschäftigten im
       Gazastreifen hätten „Verbindungen“ zur Hamas oder zum Palästinensischen
       Islamischen Dschihad. 185 dieser UNRWA-Mitarbeiter seien im militärischen
       Arm der Hamas und 51 im militärischen Arm des PIJ aktiv.
       
       Eine Woche zuvor hatte das israelische Militär gemeldet, unter dem
       UNRWA-Hauptquartier in Gaza einen 700 Meter langen Tunnel „für die
       militärischen Aufklärungsdienste der Hamas“ entdeckt zu haben. „UNRWA ist
       tief in Terroraktivitäten verstrickt“, so Galant. [1][Unabhängig]
       [2][überprüft] konnten die Anschuldigungen der israelischen Armee indes
       bisher nicht werden.
       
       Der Chef der UNRWA, der Schweizer Philippe Lazzarini, hielt dagegen. Israel
       führe „eine Kampagne, um die UNRWA zu zerstören“, sagte er. [3][Er habe den
       israelischen Behörden immer alle Tunnel, von denen sie Kenntnis hatten,
       gemeldet.] Wegen der neuen Vorwürfe hatten in den vergangenen Wochen 15
       Regierungen entschieden, ihre Beiträge an das Hilfswerk auszusetzen, und
       insgesamt 450 Millionen Dollar eingefroren, darunter 82 Millionen Euro von
       der EU.
       
       ## WHO warnt vor katastrophalen humanitären Folgen
       
       Die WHO warnt vor „katastrophalen“ humanitären Konsequenzen. Ein
       unabhängiger Ausschuss unter Leitung der ehemaligen französischen
       Außenministerin Catherine Colonna soll nun die Neutralität der UNRWA
       bewerten.
       
       Doch das mögen viele nicht abwarten. Seit die UNRWA mit dem Massaker vom 7.
       Oktober in Verbindung gebracht wird, häufen sich die Forderungen, sie
       aufzulösen und etwa dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR die Aufgaben zu
       übertragen. Der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo schrieb in der vergangenen
       Woche: „Löst endlich das Palästinenserhilfswerk auf“.
       
       Bente Scheller, ausgewiesene Nahost-Expertin und Nahost-Referatsleiterin
       der Grünen nahen Heinrich-Böll-Stiftung, kritisierte Lobos Argumentation
       als „meinungsstark und kenntnisarm“.
       
       Das wiederum brachte den Ex-Grünen-Politiker Volker Beck so auf, dass er
       den Vorstand der Böll-Stiftung öffentlich aufforderte, sich dazu zu
       verhalten, dass ihre Mitarbeiterin „Kritik an terroraffinen Strukturen
       abkanzel(e)“.
       
       ## Was tut die UNWRA eigentlich genau?
       
       Die Gemüter kochen bei dem Thema schnell hoch. Doch die völlkerrechtlichen
       Besonderheiten in der Causa sind komplex.
       
       Bei der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in
       the Near East handelt es sich um eine Art hybrider internationaler
       Administration: Als UN-Verwaltung erfüllt sie staatsähnliche Funktionen.
       Gleichzeitig ist sie, wie viele internationalen Organisationen, auf
       freiwillige Beiträge in Milliardenhöhe von überwiegend westlichen Gebern
       angewiesen.
       
       Gegründet wurde sie 1949 – zwei Jahre vor der Verabschiedung der
       UN-Flüchtlingskonvention. Die Aufgabe des UNRWA ist, humanitäre Hilfe für
       Menschen zu leisten, die zwischen 1946 und 1948 im damaligen
       UN-Mandatsgebiet Palästina lebten und durch den israelischen
       Unabhängigkeitskrieg ihren Wohnsitz und Lebensunterhalt verloren haben.
       Damals betraf das rund 700.000 Menschen, heute sind [4][rund 6 Millionen
       Palästinenser:innen bei der UNRWA] registriert.
       
       Anders als [5][vielfach] [6][behauptet] ist die dahinterstehende
       Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus’ keine Besonderheit für
       palästinensische Flüchtlinge. „Grundsätzlich gilt im globalen
       Flüchtlingsrecht das Prinzip der Familieneinheit,“ sagt die Vökerrechtlerin
       und UNRWA-Expertin Hannah Birkenkötter. Dadurch erhalten Kinder von
       Flüchtlingen diesen Status per Geburt. „Der Unterschied bei den
       Palästinenser:innen ist vor allem, wie lange ihre Situation in vielen
       Fällen ungelöst ist – auch wenn es international sehr wohl auch andere
       Jahrzehnte andauernde Flüchtlingssituationen gibt,“ so Birkenkötter.
       
       ## Flüchtlinge können ihren Flüchtlingsstatus verlieren
       
       Im Normalfall verlieren Flüchtlinge ihren Status, wenn sie in einem anderen
       Land dauerhafte Aufnahme finden oder wieder in ihr Herkunftsland
       zurückkehren können. Ersteres gilt auch für Palästinenser:innen, wenn diese
       etwa irgendwo Asyl bekommen. 2022 etwa stellten rund 7.300
       Palästinenser:innen in der EU einen Antrag.
       
       Zweiteres – die Rückkehr – ist komplizierter. Die Gebiete, aus denen die
       Menschen bis 1948 vertrieben wurden, sind heute israelisches Staatsgebiet.
       Die Frage des Rückkehrrechts war nie Teil des UNRWA-Mandats. Dafür
       existiert eine separate UN-Kommission, die aber seit den 1950er Jahren kaum
       etwas weiter tut, als einen jährlichen Bericht an die UN-Generalversammlung
       zu schicken, in dem steht, dass die Situation politisch festgefahren ist.
       
       Räumlich ist die UNRWA auf Gaza, das Westjordanland, den Libanon, Syrien
       und Jordanien beschränkt. „Wenn Palästinenser:innen diese Gebiete
       verlassen müssen, ohne die Gründe selbst verschuldet zu haben – etwa durch
       Bedrohungen des Lebens, der körperlichen Sicherheit oder der Freiheit
       entsteht Anspruch auf Schutz durch den UNHCR“, sagt Birkenkötter. Das
       ergebe sich aus der Flüchtlingskonvention und entspreche auch der
       [7][Rechtsauffassung] des UNHCR. „Eine Flucht etwa nach Ägypten vor
       Zuständen, wie sie derzeit in Gaza herrschen, dürfte darunter fallen,“ sagt
       Birkenkötter.
       
       Der Anspruch auf Schutz durch den UNHCR besteht so lange, bis ein Staat –
       außer die Staaten des UNRWA-Mandatsgebiets – ihnen dauerhafte Aufnahme
       gewährt, ihnen die Staatsangehörigkeit verleiht oder sie in das
       UNRWA-Gebiet zurückkehren. Verlässt eine Person die UNRWA-Gebiete, ohne aus
       zwingenden Gründen dazu getrieben zu sein, entsteht kein Anspruch auf
       Schutz durch den UNHCR. Unabhängig davon können diese Personen aber in
       anderen Ländern Asyl beantragen.
       
       ## Kaum realistische Szenarien für eine Lösung
       
       Wäre das Rückkehrrecht im Sinne einer Art Rechtsnachfolge des UN-Gebietes
       von 1948 erfüllt – und somit die Flüchtlingseigenschaft der
       Palästinenser:innen erloschen – wenn die Palästinensische
       Autonomiebehörde (PA) allen Pässe gäbe? Wohl nicht. „Denn es gibt zwar
       völkerrechtliche Indizien für eine Staatlichkeit Palästinas – vor allem
       auch, dass mehrere internationale Organisationen und über 130 Staaten
       Palästina als Staat anerkennen“, sagt die Völkerrechtlerin Birkenkötter.
       Doch auch wenn die PA allen Menschen unter UNRWA-Mandat einen Pass gäbe,
       bestünde die UN-[8][Resolution], die das Recht auf Rückkehr beschreibt und
       auf die sich das UNRWA-Mandat bezieht, trotzdem fort. Das hat die
       UN-Generalversammlung zuletzt im Dezember 2023 [9][bestätigt]. „UNRWA hat
       aber gerade kein Mandat zur Rückkehrfrage und darf dazu nicht tätig werden.
       Nur eine politisch verhandelte Lösung kann hier eine neue Rechtslage
       herbeiführen,“ so Birkenkötter.
       
       Die Flüchtlingseigenschaft erlösche erst, wenn die UN-Vollversammlung die
       Resolution nicht mehr verlängert. Realistisch ist das kaum. Bisher hat die
       UN das Mandat der UNRWA stets um jeweils drei Jahre verlängert, aktuell bis
       2026. Entscheidend sind dabei nicht Debatten in westlichen Staaten, sondern
       die Mehrheitsverhältnisse der 193 UN-Mitglieder. Die meisten würden einer
       Auflösung der UNRWA nicht zustimmen.
       
       Allerdings: Viele dieser Staaten heben gern für die UNRWA die Hand, zahlen
       aber nichts. Unter den 20 größten Gebern der Organisation sind 17 westliche
       Staaten. Sie kommen für rund [10][eine Milliarde des 2022 insgesamt 1,17
       Milliarde Dollar] umfassenden Budgets auf. Die drei nichtwestlichen Geber
       Katar, Kuweit und Saudi-Arabien zahlten zusammen 49,5 Millionen Dollar.
       Die restlichen 120 Millionen entfielen auf nicht näher genannte „andere“,
       darunter private Spender.
       
       Würde der Westen also nicht mehr zahlen, existierte die UNRWA zwar weiter,
       könnte aber nicht mehr arbeiten. Denkbar wäre, dass dann [11][der Artikel
       1D der UN-Flüchtlingskonvention] zum Tragen kommt. Darin ist festgelegt,
       dass das UN-Flüchtlingswerk UNHCR nicht für Menschen zuständig ist, die
       „den Schutz einer anderen Institution der UN genießen“. Entfällt dieser
       Schutz aber, „ohne dass das Schicksal dieser Person (…) geregelt worden
       ist, so fallen diese Personen ipso facto unter die Bestimmungen dieses
       Abkommens“ – also unter das UNHCR-Mandat.
       
       ## Kann das UNHCR langfristig Schulen bereitstellen?
       
       Fraglich ist, ob das meist mit kurz- bis mittelfristigen Notlagen befasste
       UNHCR willens und in der Lage wäre, langfristig Schulen, Krankenhäuser und
       soziale Dienstleistungen in Gaza, im Westjordanland, im Libanon, in Syrien
       und Jordanien bereitzustellen.
       
       Dann wären die nationalen Regierungen am Zug. Auch sie würden die
       internationalen Geber dafür wohl zur Kasse bitten – sich dabei aber kaum
       vom Westen so kontrollieren lassen, wie es bei der UNRWA eben doch der Fall
       ist. In Gaza und im Westjordanland müssten entweder die PA oder Israel das
       Vakuum füllen – ein ebenfalls mit vielen Unbekannten behaftetes Szenario.
       
       So oder so: Die Fragen rund um die Zukunft der UNRWA sind von Dauer. Denn
       die meisten der heute registrierten – und damit schutzanspruchsberechtigten
       – Palästinenser:innen haben im Schnitt noch gut 50 Lebensjahre vor
       sich.
       
       28 Feb 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://edition.cnn.com/2024/01/29/middleeast/israel-allegations-unwra-october-7-intl/index.html
 (DIR) [2] https://twitter.com/lindseyhilsum/status/1754612983580221500
 (DIR) [3] https://www.nzz.ch/international/interview-unrwa-chef-lazzarini-zu-den-vorwuerfen-gegen-das-hilfswerk-ld.1807659
 (DIR) [4] https://www.unrwa.org/who-we-are
 (DIR) [5] /Harsche-Kritik-an-UNRWA-Arbeit/!5985999
 (DIR) [6] /Vorwuerfe-gegen-UNRWA/!5987756
 (DIR) [7] https://www.refworld.org/policy/countrypos/unhcr/2022/en/124067
 (DIR) [8] http://undocs.org/A/Res/194(III)
 (DIR) [9] http://undocs.org/A/Res/78/74
 (DIR) [10] https://www.unrwa.org/sites/default/files/2017-2023_top_20_rank_total_0.pdf
 (DIR) [11] https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Gaza
 (DIR) UNHCR
 (DIR) Israel
 (DIR) Palästina
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Hamas
 (DIR) GNS
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Finanzierung der UNRWA nach Vorwürfen: Höchste Zeit
       
       Eine wachsende Koalition von Geberländern hat die Hilfe für UNRWA trotz der
       Vorwürfe wieder aufgenommen. Fünf Gründe, warum Deutschland folgen sollte.
       
 (DIR) Vorwürfe gegen UNRWA: Viele Prüfungen und wenig Geld
       
       Das in der Kritik stehende UN-Hilfswerk rechnet im März mit ersten
       Untersuchungsergebnissen. Auch die Neutralität von UNRWA soll überprüft
       werden.
       
 (DIR) +++ Nachrichten zum Nahost-Krieg +++: Sanktionen gegen Siedler
       
       Die USA haben Sanktionen gegen vier Siedler des Westjordanlands verhängt.
       Israel erklärt, „10.000 Terroristen“ im Gazastreifen getötet zu haben.
       
 (DIR) Schwere Vorwürfe gegen UNRWA: Dauerhilfe ist nicht die Lösung
       
       Ja, das Hilfswerk UNRWA übernimmt Aufgaben, die ein Staat übernehmen
       sollte. Den Palästinenser:innen wirklich helfen kann es aber nicht.