# taz.de -- Über Rassismus gegen Turko-Deutsche: „Özil soll ein Vollidiot sein dürfen“
       
       > Mesut Özil tritt wegen Rassismus als Nationalspieler zurück. Die Debatte
       > ums „Deutsch sein“, die dahinter steckt, nervt, sagt Journalistin
       > Gülseren Ölcüm.
       
 (IMG) Bild: Mesut Özil wirft das Trikot und ist aus der Nationalmannschaft ausgetreten
       
       taz: Frau Ölcüm, nun holt Sie die Özil-Debatte sogar in Ihrem
       Portugalurlaub ein. Haben wir Turko-Deutsche eigentlich nie Urlaub von dem
       Problemkind Deutschland? 
       
       Gülseren Ölcüm: Gefühlt nicht. Ich habe Mesut [1][Özils Rücktritt aus der
       deutschen Nationalmannschaft] auf Twitter verfolgt und wurde überrannt mit
       Tweets und Kommentaren. Nur wenige haben darauf geachtet, was zwischen den
       Zeilen stand, und auf die korrekte Übersetzung der Erklärung von Özil aus
       dem Englischen.
       
       Oftmals wurde er mit „Was auch immer der Ausgang der vorangegangenen Wahl
       gewesen wäre oder auch der Wahl zuvor, ich hätte dieses Foto gemacht“
       zitiert, und das Zitat wurde auch nicht in den richtigen Kontext gesetzt.
       Gemeint war, dass Özil sich mit jedem beliebigen türkischen Präsidenten,
       der als Sieger aus der Wahl im Juni hervorgegangen wäre, gezeigt hätte. Es
       gehe ihm um die Anerkennung des Amtes, wie es im politischen Geschäft auch
       die Regel ist. Solche Nuancen sind wichtig. 
       
       Mich hat die Diskussion fassungslos gemacht. Mich nervt, dass jede*r meint,
       nun über Özil richten zu müssen. Egal, ob es um Sexismus oder Rassismus
       geht – die Leute ticken aus! Viele können nicht stehen lassen, dass ein
       Fußballspieler sagt, dass er aus der deutschen Nationalmannschaft austritt,
       weil er rassistisch angefeindet wurde. Man gesteht ihm die Erfahrung nicht
       zu und versucht sie zu relativieren. Ihm wird vorgeworfen, sich selbst zu
       einem Opfer zu stilisieren.
       
       Bei mir führt das mittlerweile zu dem Bedürfnis selbst zurückzuschießen und
       auszugrenzen, weil meine Erfahrungen nicht anerkannt werden. Als ich früher
       Nachhilfe gegeben habe, gab es sehr wenig umgängliche Kinder. Mein Chef hat
       mir ein Prinzip aus der Bildungspädagogik ans Herz gelegt:
       Verhaltensspiegelung. Da haben die Kids erst die Empathie entwickelt, zu
       spüren, was ihr Benehmen bei ihrem Gegenüber anrichtet. 
       
       Ich kenne den Reflex, aber das ist doch scheiße. In so einer Gesellschaft
       aus lauter Einzelkämpfer*innen will ich nicht leben.
       
       Oder es führt zu einer Solidarisierung der Ausgeschlossenen, wie man sie im
       Moment beobachten kann: Egal wie sehr die türkische Community in Bezug auf
       die türkische Politik gespalten ist, führt die Enttäuschung darüber, wie
       die Debatte um Özil geführt wird, zu einer gemeinsamen Haltung. 
       
       Aber eigentlich sollten alle, Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten,
       gemeinsam Stellung beziehen. Die deutsche Nationalmannschaft hätte sich
       geschlossen hinter Özil stellen müssen, so wie in [2][Schweden mit dem
       Nationalspieler Jimmy Durmaz]. Es ist schade, dass beim DFB niemand den
       Arsch in der Hose hatte zu sagen: Jetzt erst recht! Jetzt ein Teamfoto!
       
       Ich dachte bei der Erklärung von Özil nach der wochenlangen Hetze auch
       seitens von DFB-Funktionären wie Oliver Bierhoff: Endlich! Zeig ihnen den
       Mittelfinger! Gleichzeitig ist das ein emotionales Wirrwarr sondergleichen:
       Ich muss mich nun mit einem Menschen solidarisieren, der sich mit einem
       Diktator inszeniert hat, der wiederum Menschen, die mir wichtig sind,
       bedroht und einsperrt. 
       
       Vor ein paar Monaten habe ich den Film „Türken, entscheidet Euch“ gedreht,
       weil ich das Gefühl hatte: Ich muss mich zur türkischen Politik äußern.
       Aber was, wenn ich keine Lust darauf habe? Ich soll mich abgrenzen, aber
       wie? Indem ich mich mit einer Deutschlandfahne ans Brandenburger Tor stelle
       und die Nationalhymne singe? Darf ich meinen Urlaub einfach genießen, wenn
       ich ohne Unterbrechung sage, dass Erdoğan böse ist?
       
       Der deutschen Mehrheitsgesellschaft fällt es leichter, Menschen mit dem
       Label „Türk*in“ zu markieren, statt mit dem scheinbar wertvolleren Label
       „Deutsch“. SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli hat getwittert, dass sie sich
       trotz aller rassistischen Hetze, die sich um das Thema Özil breit gemacht
       hat, ihr „Deutschsein“ nicht rauben lasse. Was bedeutet Deutschsein für
       Sie? 
       
       Darauf werde ich wohl nie eine Antwort finden. Eigentlich bin ich in einer
       ständigen Identitätskrise. Als ich den Film gedreht habe, sagte die
       Redaktion: „Zeig doch mal dein türkisches Leben!“ Ich wusste nicht, was sie
       meinen. Ich ziehe morgens nicht eine deutsche oder türkische Socke an und
       bin dann das eine oder andere. Wissen Deutsche ohne Migrationshintergrund,
       was sie damit meinen? Wie konservativ ist es eigentlich, in einer
       globalisierten Welt im 21. Jahrhundert darüber sprechen zu müssen, was
       eigentlich Deutsch ist, wenn nicht einmal unser Essen und unsere Kleidung
       aus Deutschland kommen? Das sind Chiffren, die nicht mehr zu unserem Leben
       und zu unseren Gefühlen passen.
       
       Ich möchte die Kategorie „Deutsch“ von emotionalen Fragen trennen, weil es
       für mich eine ausschließlich politische ist. Das heißt: Ich habe genau
       dieselben Privilegien und Rechte, wie alle Menschen ohne
       Migrationshintergrund, vor allem auch das Recht, Scheiße zu bauen. Ich
       möchte, dass Özil ein Vollidiot sein kann, ohne dass er deshalb das
       vermeintliche Recht verliert, deutsch zu sein – weil er als hier geborener
       Mensch bedingungslos deutsch ist. In diesem Sinne bin ich deutsch, aber
       emotional gab es noch nie eine Zeit, in der ich so wenig Lust hatte, Teil
       dieser Gesellschaft zu sein. 
       
       Das denke ich manchmal auch und will es gleichzeitig nicht. Dieses Land ist
       mein Zuhause. Das möchte ich mir nicht nehmen lassen. Dennoch möchte ich
       auch nicht in solch einer Gesellschaft leben, in der ich ständig auf meinen
       Migrationshintergrund angesprochen werde oder auf Erdoğans nächste
       Amtshandlung. Manchmal möchte ich eine Isabell oder Julia sein –
       dazugehören, ohne aufzufallen.
       
       Isabell, Julia und ihre Eltern müssen keine Bedingungen erfüllen, um
       deutsch sein zu dürfen. Wer legt diese Bedingungen eigentlich fest und
       wozu? 
       
       Ich schätze an unserer Gesellschaft sehr, dass sich Menschen an Regeln
       halten. In anderen Ländern habe ich das manchmal nicht so erlebt.
       
       Uli Hoeneß hat sich nicht an Regeln gehalten und gibt nun trotzdem seinen
       Senf dazu. Ist Hoeneß deutsch, oder muss er erst einen Integrationstest
       machen? 
       
       Ich kann nur über mich sagen: Ich bin integriert. Ich äußere Meinung, nehme
       aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, engagiere mich ehrenamtlich, ich
       habe eine Ausbildung gemacht und zahle Steuern. So sehe ich das auch bei
       Özil. Die Feinheiten, wer mehr oder weniger integriert ist, will ich gar
       nicht festsetzen. Jeder Mensch hat einen anderen Background, egal ob mit
       oder ohne Migrationshintergrund. Da muss man auf jede*n Einzelne*n schauen
       und sich fragen: Was hat dieser Mensch erreicht?
       
       Es sollte aber auch nicht darum gehen, was jemand erreicht hat und wie sich
       jemand eingebracht hat. Das könnte nur dann eine Bedeutung haben, wenn es
       gleiche Startbedingungen gäbe, keine strukturelle Benachteiligung am
       Bildungs- und Arbeitsmarkt. Wir sollten den absurden Begriff „Integration“
       abschaffen. 
       
       Vielleicht. Das Wort ist oft fehl am Platz, weil es andere Menschen
       ausgrenzt. Wenn ich mit meinem deutschen Freund ein Kind bekomme, muss es
       sich dann auch noch integrieren, weil Muttis Eltern aus der Türkei
       eingewandert sind? Wann hört das auf? Auf der einen Seite sind solche
       Begriffe und Kategorien wichtig, um sich im Diskurs über Migration
       zurechtzufinden. Wichtiger finde ich jedoch, dass wir als Gesellschaft
       wieder zueinander finden. Ich wünsche mir, dass wir uns wieder auf
       Gemeinsamkeiten besinnen – sei es beim Thema Geflüchtete, AfD oder eben
       Deutsch-Türk*innen.
       
       Sollten wir dann bei der nächsten WM für Deutschland mitfiebern? Mir ist
       das schon in diesem Jahr nicht mehr gelungen. 
       
       Ich war kurz davor, mir ein Özil-Trikot zu kaufen. Aber davon profitiert
       wieder nur der DFB (lacht). Es kommt darauf an, wer mitspielt, aber unter
       den derzeitigen Umständen würde ich nicht mitfiebern. Bei der diesjährigen
       WM hätte ich mich aber gefreut, wenn die deutsche Mannschaft gewonnen
       hätte.
       
       24 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nach-Debatte-um-Foto-mit-Erdoan/!5523134
 (DIR) [2] /DFB-Fussball-WM-und-Rassismus/!5521723
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Seyda Kurt
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Lesestück Interview
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Recep Tayyip Erdoğan
 (DIR) Rücktritt
 (DIR) Deutscher Fußballbund (DFB)
 (DIR) Deutsche Fußball-Nationalmannschaft
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
 (DIR) Mesut Özil
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar Özil kuschelt mit Erdoğan: Keine Rechtfertigung für Hass
       
       Angeblich hat Özil den türkischen Präsidenten Erdoğan zu seiner Hochzeit
       eingeladen. Können sich die Hater nun bestätigt fühlen? Nein.
       
 (DIR) DeutschtürkInnen über Özil: Hört uns zu!
       
       Zu Mesut Özil hat jeder eine Meinung. Meist sprechen weiße alte Männer.
       Hier äußert sich die migrantische Community.
       
 (DIR) Kommentar Identität und Integration: Die Özil-Debatte ist eine Neiddebatte
       
       Özil selbst sagt, er habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches.
       Das ist eindeutig zuviel des Guten. Denn Deutschsein ist zeitaufwendig.
       
 (DIR) Reaktionen auf Mesut Özils Rücktritt: Grüne kritisieren Seehofer und DFB
       
       Özil trainiert in Singapur für Arsenal. In Deutschland schlagen seine
       Rassismus-Vorwürfe weiter hohe Wellen. Die Grünen erinnern an einen
       „fatalen“ Seehofer-Spruch.
       
 (DIR) Fußballspieler Mesut Özil: Mensch Mesut
       
       Krisenmanagement in seiner schlechtesten Form: Warum der Fall Özil
       eskalierte und welche Schuld der Fußballprofi daran trägt.
       
 (DIR) Mesut Özil und die Deutschen: Heimat Anatolien
       
       Die Mehrheit der türkischstämmigen Deutschen fühlt sich eher der Türkei
       verbunden. Die Gründe dafür liegen bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft.
       
 (DIR) Ein launiger Nachrichtenüberblick: Es ist heiß!
       
       Die Welt brennt. In Griechenland und Schweden ganz konkret, eher
       theoretisch in den Debatten um Özil, Trump und die Verrohung der
       Gesellschaft.
       
 (DIR) Kolumne Lügenleser: Was erlauben Özil?
       
       Nun, da er sich geäußert hat, passt es den Özil-Kritikern auch wieder
       nicht. Für den multikulturellen Nachwuchs ist das ein fatales Signal.
       
 (DIR) Mesut Özils DFB-Rücktritt: Maskulinismus besiegt Melancholie
       
       Der DFB-Rücktritt des Weltklassespielers Özil ist auch ein Triumph der
       Alphamänner im Feldherren-Fußball. Seine Körpersprache passte ihnen nie.
       
 (DIR) Reaktionen auf Rücktritt aus DFB-Team: Die Türkei feiert Özil
       
       Social Media und Politik sind sich selten einig. Doch mit Özil hat die
       türkische Regierung einen Unverdächtigen gefunden, der ihre Thesen stützt.
       
 (DIR) Kommentar Özil und Nationalelf: DFB? Versagt, alle zurücktreten!
       
       Der Rücktritt von Mesut Özil ist nur ein erster Schritt. DFB-Chef Grindel
       sollte ihm folgen, genau wie Manager Oliver Bierhoff und Trainer Joachim
       Löw.
       
 (DIR) Kommentar Rücktritt aus der Nationalelf: Danke, Özil!
       
       Nicht einmal einer der weltbesten Fußballer ist als Deutscher gut genug.
       Mit dieser Botschaft spricht Mesut Özil leider vielen Migranten aus dem
       Herzen.
       
 (DIR) Mesut Özil rechnet ab: Der Fall Özil ist ein Fall Grindel
       
       Einer der wichtigsten DFB-Nationalspieler tritt zurück: Mesut Özil will den
       deutschen Rassismus nicht mehr ertragen.
       
 (DIR) Nach Debatte um Foto mit Erdoğan: Mesut Özil tritt zurück
       
       Mesut Özil verlässt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Er wirft
       Verbandschef Reihard Grindel und der DFB-Führung Rassismus vor.