# taz.de -- Ukrainer*innen in Berlin: Wachsende Sorgen und Ohnmacht
       
       > Hunderte Menschen demonstrierten am europäischen Tag der Solidarität mit
       > der Ukraine vor dem Brandenburger Tor. Die Sorge vor einer Eskalation
       > wächst.
       
 (IMG) Bild: Hunderte Menschen demonstrierten am Samstag in Berlin ihre Solidarität mit der Ukraine
       
       BERLIN taz | Der Sturm lässt die vielen ukrainischen Fahnen im Wind
       flattern, die den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor am
       Samstagnachmittag blau und gelb färben. Hunderte Menschen haben sich hier
       am Europäischen Tag der Solidarität mit der Ukraine versammelt, um den
       Abzug der russischen Truppen von der ukrainischen Grenze zu fordern.
       
       „Vor acht Jahren hat Russland den Krieg in der Ukraine angefangen, seitdem
       kämpfen wir dagegen. Solange Europa an unserer Seite steht, werden wir das
       weiter schaffen!“, ruft eine Rednerin durch das Mikrofon. Die Menschen
       applaudieren und halten Schilder mit dem Schriftzug „Stand with Ukraine“ in
       die Höhe. Als die Nationalhymne gespielt wird, unterhalten sie sich leise,
       einige singen mit, mit geschlossenen Augen, der Hand auf dem Herz und der
       Sonne im Gesicht.
       
       Nicht nur in Berlin, auch in zahlreichen weiteren Städten wie Leipzig,
       Hamburg, Budapest und Wien fanden am Samstag Solidaritätsdemonstrationen
       mit der Ukraine statt. Inga Pylypchuk von der Dialog-Plattform Kyjiwer
       Gespräche hat die Kundgebung vor dem Brandenburger Tor gemeinsam mit dem
       Zentralverband der Ukrainer in Deutschland organisiert. „Ich bin froh, dass
       trotz des Sturms so viele Menschen gekommen sind“, sagt sie
       freudestrahlend.
       
       2008 ist Pylypchuk von Kiew nach Berlin gezogen, um Literaturwissenschaft
       zu studieren. Mit den [1][Kyjiwer Gesprächen] will die 35-Jährige den
       Dialog zwischen Deutschland und der Ukraine vertiefen und die rund 24.000
       Berliner*innen mit ukrainischer Migrationsgeschichte sichtbarer
       machen. Dafür arbeitet sie derzeit an einer Plakatkampagne, die Anfang März
       in der U-Bahn starten soll. Eigentlich war die Aktion anlässlich 30 Jahre
       Unabhängigkeit der Ukraine geplant, nun dreht sich jedoch alles [2][um die
       aktuelle Krise].
       
       ## Ohnmacht und Sorge
       
       „Ich war vor zwei Wochen das letzte Mal in der Ukraine. Die Stimmung dort
       war erstaunlich ruhig“, erzählt Pylypchuk, deren Familie noch in Kiew
       wohnt. „Wir sind es gewohnt, nicht in Panik zu geraten, immerhin leben wir
       schon seit acht Jahren mit dem Krieg.“ Wie viele Ukrainer*innen ärgert
       sie sich, wenn in deutschen Medien von einem drohenden Krieg die Rede ist.
       „Das ist zynisch, es gibt schon längst einen Krieg“, sagt die
       Dokumentarfilmerin mit Blick auf die Tausenden Menschen, die dem Konflikt
       seit Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 zum Opfer gefallen sind.
       
       [3][Mittlerweile spitzt sich die Lage immer mehr zu]. „Die Unruhe wird
       immer größer“, weiß Pylypchuk aus Gesprächen mit ihrer Mutter. Sie reden
       oft miteinander, und immer öfter geht es um den Ernstfall. „Ich frage sie
       dann: Hast du genug Kerzen, falls der Strom ausfällt, hast du genug zu
       essen?“ Nach Berlin kommen will ihre Mutter aber nicht. „Ich fühle mich
       ohnmächtig, und ich mache mir Sorgen“, sagt Pylypchuk. Auch deshalb hat sie
       die Demonstration organisiert, um endlich etwas zu tun.
       
       Eine Forderung, die am Samstag immer wieder laut wird, sind
       Waffenlieferungen von Deutschland an die Ukraine. „Ich will natürlich
       nicht, dass Waffen eingesetzt werden“, sagt Inga Pylypchuk. „Aber wir
       müssen uns verteidigen können. Waffenlieferungen wären ein deutliches
       Signal an Putin, dass er ein friedliches Land nicht einfach mit seinen
       Truppen bedrohen kann.“ Was sie sich von der deutschen Zivilgesellschaft
       wünscht? „Informiert euch, seid solidarisch und geht mit uns auf die
       Straße.“
       
       ## Forderung nach Waffenlieferungen
       
       Maxim Gyrych ist am Samstag ebenfalls vor dem Brandenburger Tor. Er ist in
       Deutschland geboren, seine Familie wohnt in der Ukraine. „Meine Großeltern
       sind 2014 aus dem Osten geflüchtet. Sie sind sehr besorgt, andererseits
       kennen sie das schon“, sagt der 24-Jährige. Er hat sich gemeinsam mit
       anderen jungen Ukrainer*innen kürzlich in der Initiative Vitsche
       zusammengeschlossen, um ihren Protest gegen Russlands Bedrohung der Ukraine
       auf die Straße zu tragen.
       
       Eine Woche zuvor haben sie unter dem ironischen Motto „Danke für die Helme“
       gegen die deutsche Haltung im aktuellen Konflikt protestiert. „Deutschland
       sollte die Ukraine militärisch unterstützen“, sagt Gyrych. Dass es zu einer
       Invasion der Ukraine kommt, glaubt er zwar nicht, angesichts der jüngsten
       Auseinandersetzungen im Osten des Landes, bei denen am Wochenende mehrere
       Menschen starben, befürchtet er jedoch eine Zuspitzung der Lage im Donbass.
       „Wenn der Konflikt nur regional eskaliert, wird der Krieg weiter geleugnet
       und werden keine Sanktionen verhängt“, glaubt er.
       
       „Die Ukraine wird als Spielball der Interessen Russlands und der Nato
       betrachtet, ukrainische Interessen zählen nicht“, meint Gyrych. Er wünscht
       sich eine kritischere Auseinandersetzung mit Russland, auch innerhalb der
       Linken. Mit der Initiative Vitsche will er die Perspektive der
       Ukrainer*innen stärker in den Vordergrund rücken – und Stereotype
       aufbrechen. „Nicht alle Ukrainer sind konservativ. Wir sind keine
       verbitterten Nationalisten, sondern divers“, sagt er. So setze sich Vitsche
       auch für queere Interessen ein und versuche mit verschiedenen
       Veranstaltungen, den Berliner*innen die ukrainische Kultur näher zu
       bringen.
       
       ## Fluchtkoffer sind gepackt
       
       Dieses Ziel verfolgt auch Polina Atvi. Die 26-Jährige ist vor viereinhalb
       Jahren fürs Studium von Kiew nach Berlin gezogen und arbeitet mittlerweile
       in einem Wirtschaftsunternehmen.
       
       In ihrer Freizeit engagiert sie sich im [4][Kinoklub CineMova], einem
       Zusammenschluss „cooler ukrainischer Frauen“, wie sie sagt, die
       Regisseur*innen aus der Ukraine einladen und deren Filme vorführen.
       Früher ist Atvi oft mit ihren Freund*innen nach Kiew gereist, um dort
       tanzen zu gehen. Immerhin galt die Hauptstadt mit ihrer pulsierenden
       Techno-Szene lange als „das neue Berlin“. Seit der Reisewarnungen des
       Auswärtigen Amts fährt Polina allein nach Kiew.
       
       Neben einer militärischen Intervention macht sich die junge Frau auch
       Sorgen um die wirtschaftlichen Folgen des Konflikts. Noch wichtiger als
       Waffenlieferungen findet sie einen Stopp des milliardenschweren
       Erdgasprojekts Nord Stream 2. Dass die Ostseepipeline als
       Sanktionsinstrument gegen Russland eingesetzt wird, glaubt sie jedoch
       nicht, dafür sei zu viel Geld im Spiel, sagt Atvi.
       
       Ihre Familie bereite sich auf das Schlimmste vor, die Fluchtkoffer seien
       bereits gepackt. Sobald die Lage eskaliert, will Polina Atvi ihre Mutter
       nach Berlin holen. Sie sagt: „Wenn Millionen Ukrainer nach Europa fliehen,
       wird das mehr kosten, als Nord Stream 2 abzusagen.“
       
       20 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.kyiv-dialogue.org/de/
 (DIR) [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
 (DIR) [3] /Nachrichten-in-der-Ukrainekrise/!5836349
 (DIR) [4] https://ukkb.wordpress.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marie Frank
       
       ## TAGS
       
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