# taz.de -- Vor Literaturnobelpreis-Entscheidung: Versuch eines Neuanfangs
       
       > Am Donnerstag werden gleich zwei Literaturnobelpreise vergeben – und die
       > Welt schaut gespannt, wie sich die Schwedische Akademie reformiert hat.
       
 (IMG) Bild: Diese weiße Tür wird sich öffnen, wenn die Literaturpreise verkündet werden
       
       STOCKHOLM taz | „Es gibt blaue Flecken und Bandagen“: So charakterisierte
       Mats Malm dieser Tage die Situation der krisengeschüttelten Schwedischen
       Akademie gegenüber dem Svenska Dagbladet, verwies aber darauf, dass „eine
       konstruktive Stimmung“ herrsche.
       
       Malm, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Göteborg, ist
       seit Juni ständiger Sekretär der Akademie. Wenn sich am Donnerstag Punkt 13
       Uhr im großen Saal der Alten Börse in Stockholm die berühmte weiße
       Flügeltür öffnet, vor der die Weltpresse wartet, wird es erstmals Mats Malm
       sein, der die diesjährigen LiteraturnobelpreisträgerInnen verkünden wird.
       
       Denn, ungewöhnlich, aber auch schon passiert: Es wird eine Doppelvergabe
       geben. Neben dem Preis für das Jahr 2019 soll auch der für 2018 nachgeholt
       werden. Ein ganzes Bündel an Skandalen hatte das Gremium seit Ende 2017 in
       seiner Existenz bedroht. „Die Institution liegt in Scherben“, konstatierte
       damals Dagens Nyheter, und die Süddeutsche titelte: „Ein Korb faules
       Gemüse“.
       
       ## Bombe von 1997
       
       Abgesehen davon, dass die Akademie nicht mehr arbeitsfähig war, war deren
       Ansehen so abgrundtief gesunken, dass die Nobelstiftung die Vergabe eines
       Nobelpreises für Literatur lieber ganz absagte. Die Gefahr war zu groß,
       dass eine Preisträgerin oder ein Preisträger den Preis abgelehnt hätte.
       „Das Vertrauen der Umwelt ist derzeit so gering, dass wir auf die
       Preisverleihung verzichten“, lautete im Mai 2018 die offizielle Begründung.
       Gelegt worden war die Bombe, die zwanzig Jahre später detonieren sollte,
       eigentlich schon im Jahr 1997.
       
       Damals veröffentlichte die Tageszeitung Expressen unter der Überschrift
       „Sexterror bei der Kulturelite“ und „Notruf einer jungen Frau an die
       Akademie“ Anklagen von fünf Frauen, die den Kulturfunktionär Jean-Claude
       Arnault beschuldigten, „übergriffig geworden“ zu sein. Er missbrauche seine
       Rolle als künstlerischer Leiter, um „Frauen auszunutzen und zu
       erniedrigen“. Doch es bedurfte offenbar erst der #MeToo-Bewegung, damit
       Konsequenzen folgten. Bei der Schwedischen Akademie wurde ein Brief mit
       konkreten Anschuldigungen damals einfach zu den Akten gelegt. Eine Reaktion
       gab es nicht.
       
       Als im November 2017 erneut 18 Frauen über ihre Erfahrungen mit Arnault
       berichteten und ihn der Vergewaltigung und sexueller Belästigungen
       bezichtigten, war das Echo ein anderes. [1][Die Anklagen gegen ihn hatten
       nun Folgen – auch strafrechtliche.] Arnault war zwar kein Akademiemitglied,
       aber einerseits [2][Ehemann von Katarina Frostenson], die im Gremium saß,
       und andererseits beruflich und finanziell eng mit mehreren
       Akademiemitgliedern verbunden.
       
       ## Sexuelle Übergriffe
       
       Und weil im Umfeld der Ermittlungen gegen ihn herauskam, dass man in der
       Akademie jahrelang von den sexuellen Übergriffen gewusst und diese gedeckt
       hatte, es außerdem Hinweise auf fragwürdige finanzielle Transaktionen und
       Korruption gab und Zeugen bestätigten, dass über Arnault die Namen von
       LiteraturnobelpreisträgerInnen vor der Bekanntgabe an ausgewählte Medien
       durchgestochen worden waren, wurde die gesamte Institution mit in den
       Skandalstrudel gerissen.
       
       Die Folge waren interne Beschuldigungen und Machtkämpfe. Mitglieder der
       eigentlich 18-köpfigen Akademie legten ihre Mitarbeit auf Eis oder traten
       ganz aus. Beim traditionellen feierlichen Jahresabschluss in Anwesenheit
       des Königshauses am 20. Dezember 2018 waren nur noch 7 der 18 Stühle
       besetzt. Ausschließlich mit Männern, 6 davon im Pensionsalter. „Sie
       ähnelten Schulbuben, die man beim heimlichen Rauchen erwischt hatte“,
       kommentierte ein TV-Journalist diese Gesellschaft. Viele der eingeladenen
       Gäste boykottierten das Treffen, darunter die Erzbischöfin der schwedischen
       Kirche sowie Parteivorsitzende, Verleger und Autoren.
       
       Die Akademie schien im 232. Jahr ihrer Geschichte am Ende zu sein. Zumal es
       einigen ihrer Mitglieder nach wie vor offenbar gänzlich an Realitätssinn
       fehlte. Arnault war im Dezember 2018 zu zweieinhalb Jahren Haft wegen zwei
       Fällen der Vergewaltigung verurteilt worden. Doch Horace Engdahl, zehn
       Jahre lang „ständiger Sekretär“ und eines der prominenteren
       Akademiemitglieder, lobte auch nach dieser Verurteilung weiterhin
       öffentlich seinen Freund. „Ein Vorbild für die männliche Jugend“, nannte er
       ihn einmal, äußerte sich verächtlich über die Gerichte und stellte infrage,
       ob es sich bei den Übergriffen, denen die Frauen ausgesetzt waren,
       überhaupt um Vergewaltigung gehandelt habe.
       
       ## Überfällige Entscheidung
       
       Es ist kein Geheimnis, dass die Nobelstiftung, die die Preisgelder zur
       Verfügung stellt und deren Geschäftsführer Lars Heikensten öffentlich
       darüber nachdachte, ob man nicht ein anderes Gremium mit der Preisvergabe
       betrauen sollte, es nur zu gern gesehen hätte, wenn Engdahl die Konsequenz
       gezogen hätte, zu der sich schließlich selbst Katarina Frostenson
       durchrang. Obwohl sie sich mindestens so uneinsichtig wie Engdahl zeigt,
       entschloss sie sich nach der rechtskräftigen Verurteilung ihres Ehemanns,
       doch ihren Stuhl zu räumen. Die überfällige Entscheidung wurde ihr mit
       einer finanziellen Abfindung versüßt, die sie lebenslang absichert.
       
       Doch Engdahl – wie alle Akademiemitglieder auf Lebenszeit gewählt –
       verweigerte zunächst diesen zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit des
       Gremiums eigentlich zwingenden Schritt. Bereits 2008 hatte er in der
       Literaturszene weltweit für Kopfschütteln gesorgt, als er sagte, die
       amerikanische Literatur könne sich wegen ihrer „Engstirnigkeit“ qualitativ
       nicht mit der europäischen messen, zumindest was künftige
       Nobelpreisentscheidungen angehe.
       
       Nachdem über Neuernennungen erstmals seit drei Jahrzehnten wieder alle 18
       Stühle der Akademie besetzt sind, darunter 6 mit Frauen, setzte sich die
       Nobelstiftung mit der Forderung durch, dass von nun an ein neues, um fünf
       „externe Sachverständige“ erweitertes Nobelkomitee der Akademie die
       PreisträgerInnen vorschlägt. Wobei die Akademiemitglieder des Komitees
       dabei „nicht direkt durch die Ereignisse der Vergangenheit kompromittiert
       sein sollen“. Engdahl, der dies zweifelsohne ist, musste das Gremium
       verlassen – offiziell auf „eigenen Wunsch“.
       
       ## Glaubwürdigkeit zurückgewinnen
       
       In den Kulturessorts schwedischer Medien wird nun spekuliert, ob sich mit
       den „Externen“ – zwei VerfasserInnen und drei Literaturkritikerinnen – die
       in den letzten Jahren oft kritisierte Auswahl der PreisträgerInnen ändern
       wird. Es herrscht die Meinung vor, dass man mit einer „sicheren“ Wahl
       darauf hoffen könnte, Glaubwürdigkeit zurückgewinnen zu können. Was dann
       beispielsweise auf die Kanadierin Margaret Atwood hinauslaufen könnte.
       
       Als Favoriten gelten aber auch deren Landsfrau Anne Carson, der Rumäne
       Mircea Cărtărescu und Maryse Condé aus Guadeloupe. Ihr war 2018 von einer
       mittlerweile wieder aufgelösten „Neuen Akademie“ nach einer weltweiten
       Abstimmung anstelle des ausgefallenen Nobelpreises [3][ein alternativer
       Literaturpreis verliehen worden].
       
       Aber ist das „Vertrauen“ in die Akademie eigentlich wiederhergestellt? Die
       Nobelstiftung hatte dies ja vor eineinhalb Jahren ausdrücklich als
       Voraussetzung für die erneute Verleihung von Literaturnobelpreisen durch
       „die Achtzehn“ genannt.
       
       „Absolut nicht“, sagt Bernhard Ellefsen, Literaturkritiker bei der
       norwegischen Wochenzeitung Morgenbladet. Mit dem Abgang und der Neuwahl
       einiger Akademiemitglieder und ein paar formellen Reformen „wurde das
       eigentliche Problem nicht angegangen“: „Für mich ist das so eine Art
       Donald-Trump-Logik. Früher hatten die Leute allein schon Konsequenzen
       gezogen, weil sie sich schämten. Heute bleibt man einfach im Amt sitzen.“
       Das werde vor allem an Horace Engdahl deutlich, „einem typischen
       Intellektuellen, der sich für Jean-Jacques Rousseau hält“, aber nun „wie
       ein Donald Trump endet“.
       
       Die einzig richtige Konsequenz der Nobelstiftung wäre gewesen, der Akademie
       das Recht zur Verleihung des Nobelpreises zu entziehen, meint Ellefsen:
       „Ich hoffe ja wirklich, dass sie einen Preisträger wählen, der Rückgrat
       genug hat, um den Preis abzulehnen. Aber ich befürchte, dass man außerhalb
       Nordeuropas zu wenig informiert ist, wie umfassend der Skandal eigentlich
       war.“ Olivier Truc, Skandinavien-Korrespondent von Le Monde, sieht das so
       ähnlich: „Man interessiert sich nicht dafür, wer in der Akademie sitzt,
       sondern nur dafür, wer den Preis bekommt.“
       
       9 Oct 2019
       
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