# taz.de -- Niko Paech über Postwachstum: Konsum nervt
       
       > Ist er ein Partykiller, Miesepeter, Apokalyptiker? Weniger zu
       > verbrauchen, kann den Genuss steigern, sagt der Ökonom. Er hält
       > Kapitalismus für eine „Zombiekategorie“.
       
 (IMG) Bild: „Es kann den Genuss steigern, weniger zu konsumieren. Man hat mehr Zeit für die Tätigkeiten, die einem wirklich wichtig sind.“
       
       taz: Herr Paech, was wirft man Ihnen am häufigsten vor? 
       
       Niko Paech: Dass ich ein Miesepeter sei, ein Partykiller, der die moderne
       Freiheit und Selbstverwirklichung einschränken wolle. Manche meinen gar,
       ich sei ein Apokalyptiker.
       
       Und was sagen Sie dann? 
       
       Dass ich ein Optimist bin.
       
       Sie prognostizieren den Untergang des Kapitalismus. Was ist daran
       erfreulich? 
       
       „Kapitalismus“ ist eine Zombiekategorie. Fragen Sie fünf
       Kapitalismuskritiker, was der Kapitalismus ist, dann bekommen Sie sechs
       Antworten.
       
       Aber wie immer man den Kapitalismus definiert – Sie sehen seinem Ende
       gelassen entgegen. Wieso? 
       
       Das Wirtschaftswachstum gerät an seine Grenzen. Rohstoffe und Umwelt werden
       knapp. Wir erleben nicht nur „Peak Oil“, sondern „Peak Everything“. Aber
       das ist keine Katastrophe. Die prosperierende Mittelschicht erstickt längst
       an ihrem immensen Wohlstand und kann nicht mal mehr ihre digitale Coolness
       glückstiftend verarbeiten. Konsum macht keine Freude, sondern strengt an.
       Das knappste Gut ist unsere Lebenszeit – die wir damit verschwenden, Waren
       herzustellen und zu kaufen, die wir nicht benötigen.
       
       Sie besitzen keinen Föhn, keine Mikrowelle, kein Auto und kaum neue
       Kleidung. Das alles habe ich auch nicht. Trotzdem glaube ich nicht, dass
       Konsumverzicht die Lösung ist. 
       
       „Verzicht“ ist das falsche Wort, weil es eine leidvolle Entsagung nahelegt.
       Dabei kann es den Genuss steigern, weniger zu konsumieren. Man hat mehr
       Zeit für die Tätigkeiten, die einem wirklich wichtig sind.
       
       Stimmt: Konsum kann nerven. Aber wenn alle ihren Konsum einschränken,
       bricht der Kapitalismus zusammen – und zwar chaotisch. Die Finanzkrise hat
       gezeigt, dass unser Wirtschaftssystem selbst kleine Einbrüche nicht
       verkraftet. Schon ein Minuswachstum von 5 Prozent hat 2009 Panik ausgelöst. 
       
       Welche Panik? Haben Sie etwas vom Einbruch 2009 gemerkt? Es wurden weiter
       Einfamilienhäuser gebaut und wurde weiter SUV gefahren. Wir haben die
       Komfortzone nicht verlassen. Nur die Medien haben es als eine Krise
       interpretiert.
       
       Die Konjunktur konnte nur stabilisiert werden, weil der Staat Milliarden
       Euro in die Wirtschaft gepumpt hat. Ohne diese Intervention wären Millionen
       Menschen arbeitslos geworden. 
       
       Das halte ich für übertrieben und blind gegenüber der Möglichkeit, die
       Arbeitszeit zu verkürzen und umzuverteilen. Okay, dann verlieren einige.
       Aber ich habe nie behauptet, dass es eine bessere Welt zum Nulltarif gibt.
       Im Übrigen haben wir absehbar sowieso keine Wahl. Das jetzige
       Wirtschaftssystem ist ökonomisch und ökologisch nicht zu stabilisieren.
       
       Sie wollen 50 Prozent aller Straßen schließen und 75 Prozent der Flughäfen
       abschaffen. Ganz konkret: VW hat etwa 260.000 Beschäftigte in Deutschland.
       Wovon sollen die künftig leben? 
       
       Selbst als radikaler Wachstumskritiker kann ich nicht einfach einen Konzern
       wie VW stilllegen; die sozialen Härten wären nicht aushaltbar. Doch ist der
       langsame Abschied von industrieller Bequemlichkeit unvermeidbar. Dieser
       Rückbau muss geordnet stattfinden – durch Arbeitszeitverkürzung. Wenn jeder
       Mensch nur noch 20 Stunden pro Woche arbeitet, bleibt genug Zeit, um
       ergänzende Formen der Selbstversorgung zu praktizieren, etwa Nahrung selbst
       anzubauen, Güter gemeinschaftlich zu nutzen oder Dinge zu reparieren.
       
       Sie gehen davon aus, dass eine Wirtschaft geordnet schrumpfen kann. Doch
       das funktioniert nicht. Sobald die Gewinne sinken, investiert niemand mehr
       – und die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. 
       
       Der tiefe Fall droht, wenn wir nicht vorbereitet sind. Deshalb benötigen
       wir Übungsprogramme und Rettungsinseln, auf denen trainiert wird, mit einem
       solchen Rückbau zurechtzukommen. Beispiele gibt es bereits: Urban
       Gardening, die Regio-Geld-Bewegung oder Repair-Cafés. Eine Avantgarde
       könnte vorführen, wie man mit weniger Geld, Markt, Banken, ohne
       Renditewirtschaft und mit weniger Wohlfahrtsstaat leben kann.
       
       Ein unfreiwilliges Modell dieser Art existiert bereits: Griechenland.
       Arbeitslose Athener gehen zurück in das Dorf ihrer Großeltern und bestellen
       dort mit Hacke und Esel Miniparzellen. 
       
       Was in Griechenland passiert, ist schlimm, eben weil es unfreiwillig und
       unvorbereitet eintrat. Was aber, wenn die Griechen in zehn Jahren
       selbstbewusst sagen können: Wir sind die Avantgarde, weil wir gemeistert
       haben, was andere noch vor sich haben?
       
       Griechenland ist jetzt so arm, dass viele Krebskranke nicht mehr richtig
       behandelt werden. Soll das die Zukunft sein? 
       
       Hier verwechseln Sie ein Verteilungs- mit einem Wachstumsproblem. Ein
       hinreichend geordneter Übergang zur Postwachstumsökonomie könnte die
       Gesundheitsversorgung sogar verbessern.
       
       Aber wie? Ihr Modell wirkt unausgewogen: Die kapitalistische
       Privatwirtschaft soll weitgehend verschwinden, aber der Staat soll seine
       Aufgaben weiter wahrnehmen. Er soll nicht nur Krebstherapien gewährleisten,
       sondern auch Renten zahlen. Es soll Bildung, Forschung, Bahnen und Busse
       geben. Wie soll das finanziert werden, wenn die Steuereinnahmen wegbrechen? 
       
       Viele Subventionen für Verkehr, Landwirtschaft und Industrie würden
       wegfallen. Manche Gesundheitsausgaben könnten sinken, wenn wir mehr
       Bewegung, weniger Stress und bessere Ernährungsgewohnheiten hätten. Unsere
       planwirtschaftliche Bildungspolitik ist ebenfalls überkandidelt. 50 Prozent
       der jungen Menschen sollen zu Akademikern ausgebildet werden. Aber an wen
       delegieren wir dann die physische Arbeit, die steigender Konsum
       voraussetzt?
       
       Sie selbst haben von der Bildungsexpansion in den 1970er Jahren profitiert.
       Diese Chance wollen Sie anderen verweigern? 
       
       Dann vergleichen Sie mal den Ressourcenaufwand des damaligen
       Bildungssystems mit dem heutigen: Wie viel an Flugreisen, digitaler
       Kommunikation, räumlicher oder technischer Ausstattung war damals
       erforderlich?
       
       Ihr Vorschlag wirkt altbekannt. Bereits vor dreißig Jahren gab es viele
       Aussteiger, die auf Konsum verzichteten. Die Grünen sind durch diese
       Alternativbewegung entstanden – mussten aber erkennen, dass es gar nicht
       einfach ist, den Kapitalismus abzuschaffen. 
       
       Die frühere Aussteigerbewegung war romantisch, wollte raus aufs Land. Mein
       Ansatz ist genau umgekehrt: Ich rede nicht von Stadtflucht, sondern von
       urbaner Subsistenz. Je mehr nichtindustrielle Versorgungsformen wir wollen,
       desto mehr soziale Vernetzung benötigen wir, die in hochverdichteten
       Metropolen eher zu finden ist.
       
       Sie begeistern Ihre Zuhörer und füllen viele Vortragssäle – aber die
       Parteien übernehmen Ihre Vorschläge nicht. Wie erklären Sie diesen
       Widerspruch? 
       
       Auch einige hundert Leute, vor denen ein Wachstumskritiker wie ich zuweilen
       redet, bleiben Teil einer Minderheit. Was die Parteien angeht: Die haben
       vor nichts mehr Angst, als konsumabhängige Wähler zu überfordern.
       
       1 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Herrmann
       
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