# taz.de -- Wer im Nazi-Reich mitgemacht hat: Die Täter von nebenan
       
       > In Hamburg gibt es erstmals in Deutschland eine Datenbank mit NS-Tätern
       > und -Ermöglichern, die auch Straßennamen enthält.
       
 (IMG) Bild: Biederte sich in Briefen bei Hitler an, um Aufträge zu bekommen: Architekt Fritz Höger
       
       HAMBURG taz | Täter und Opfer waren sich nah im Dritten Reich. Sie waren
       Nachbarn, Chef und Untergebener, Schüler und Lehrer, NSDAP-Mitglied und
       Jude: Zeichnete man Täter-Opfer-Karten deutscher Städte, wären sie dicht an
       dicht gepunktet. Die eine Hälfte – die Opfertopographie – haben etliche
       Städte inzwischen mithilfe der „Stolpersteine“ Gunter Demnigs gezeichnet.
       Aber wie durchsetzt etwa Hamburg von NS-Verwaltungsbauten, Berufs- und
       Privatadressen von Tätern, Parteimitgliedern, Karrieristen, Profiteuren
       war, ist nur wenigen bewusst.
       
       Diese Lücke schließt jetzt – erstmals überhaupt in Deutschland – eine
       Datenbank der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung.
       „[1][Dabeigewesene]“ heißt sie und spannt den Bogen vom KZ-Kommandanten bis
       zu Verwaltungsbeamten und V-Leuten.
       
       Denn Rita Bake, die stellvertretende Leiterin der Zentrale, Historikerin
       und Projekt-Initiatorin, wollte den Kreis der Beteiligen breit ziehen und
       fand den Begriff „Mitläufer“ ungeeignet. Das sei eine
       Entschuldigungsvokabel der Täter, die ein halb bewusstes und somit halb
       schuldfähiges Hinterherhecheln suggeriere, sagt sie.
       
       Der Begriff „Bystander“ des Holocaustforschers Raul Hilberg sei da
       eindeutiger, sagt auch der Holocaustforscher Frank Bajohr vom Münchner
       Institut für Zeitgeschichte. „Das bedeutet, dass man mittendrin steht. Und
       in einer Ausgrenzungsgesellschaft ist jeder mittendrin – auch wenn der
       SS-Kommandant nicht gleichzusetzen ist mit dem geistigen Wegbereiter.“
       
       Trotzdem: Gerade weil der Täterbegriff so schwammig ist, hat Rita Bake sie
       alle hineingenommen – auch, um ganz aktuell zu sensibilisieren für Nuancen
       von Ausgrenzung. 760 Namens- und Ortseinträge enthält die Datenbank bis
       jetzt; 520 davon sind ausführliche, aus Forschung und Akten zitierende
       Personenprofile. Doch dabei soll es nicht bleiben: Das Projekt ist als work
       in progress gedacht. Hamburgs zeithistorische Forschungs- und
       Gedenkinstitutionen sind ausdrücklich aufgefordert, die Datenbank zu
       ergänzen.
       
       41 Schlagworte etwa zu Kultur, Justiz, Medizin, Hochschule, Kirche,
       Polizei, Presse und Senat enthält sie bislang, zudem 40 Straßennamen. Das
       alles ist unkompliziert per Suchmaske abrufbar. Und wer etwa in der
       Theodor-Heynemann-Straße wohnt, bekommt eine ausführliche Vita des bis 1951
       am Universitätsklinikum Eppendorf tätigen Gynäkologen zu sehen:
       Frenetischer Verfechter der Zwangssterilisation Behinderter – der „Eugenik“
       – ist er gewesen, dazu Fachmann für die schmerzhafte Tuben- bzw.
       Eileiterquetschung. 1936 monierte Heynemann bei der NS-Unterrichtsbehörde
       den Rückgang von Sterilisationszuweisungen; dem wurde stattgegeben.
       
       Heynemann war nicht der Einzige: Allein in Hamburg wurden während der
       NS-Zeit rund 22.000 Frauen zwangssterilisiert. Und das Ärztekollegium war
       solidarisch. Man bürgte füreinander, nach 1945 wurden die meisten
       anstandslos entnazifiziert und teils für Straßennamen vorgeschlagen.
       
       Unter ihnen war auch der Hygieniker Peter Mühlens, bis 1943 Chef des
       Hamburger Tropeninstituts. Mühlens hatte die 1941 im KZ Neuengamme
       ausgebrochene Fleckfieber-Epidemie genutzt, um an Häftlingen ein
       Malaria-Präparat zu testen, das Nervenlähmungen erzeugte. 1990 wurde
       Mühlens‘ Vita bekannt, und der Bezirk benannte die Straße um.
       
       Aber viele Täternamen prangen noch heute dort – und da müsse man genau
       hinschauen, sagt Detlef Garbe, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme:
       „Jemanden, der das System justiziabel oder ideologisch gestützt hat, kann
       man nicht auf diese Weise ehren.“
       
       Auch nicht den Architekten Fritz Höger, der das Chilehaus baute und
       anbiedernde Briefe an Hitler schrieb, um Aufträge zu bekommen. Doch der
       Högerdamm existiert bis heute; vielleicht ändert sich das jetzt, wenn
       Bezirke und Anwohner aufmerksam werden. Die Kulturbehörde jedenfalls plant
       kein Dekret von oben.
       
       Die Datenbank indes benennt auch Tätergebäude – das Pressehaus am Speersort
       etwa, gebaut 1938 für das Hamburger Tageblatt der NSDAP. Heute residiert
       dort die Wochenzeitung Die Zeit, aber die Tageblatt-Kogge, ein in Stein
       gemeißeltes Segelschiff vom NS-nahen Richard Kuöhl, der auch den
       umstrittenen „Kriegsklotz“ am Hamburger Dammtor schuf, ziert den Eingang
       noch. Das Deutschlandhaus am Gänsemarkt wiederum beherbergte in der NS-Zeit
       den Ufa-Palast. Leni Riefenstahls „Olympia“-Film und der antisemitische
       Film „Jud Süß“ erlebten dort bombastische Premieren.
       
       Solche Täterorte seien inzwischen recht gut erforscht, sagt Garbe. Seit
       Jahrzehnten schon gebe es ein städtisches Gedenktafelprogramm, das
       mittlerweile 40 Stätten von Verfolgung und Widerstand kenntlich mache. Die
       Datenbank könne allerdings Anregungen für weitere Erinnerungsorte geben.
       
       „Das Wichtigste an diesem Projekt ist aber seine Niedrigschwelligkeit“,
       sagt Garbe. Namen würden öffentlich genannt und nicht in elitären Studien
       oder Büchern versteckt. Das sei ein echter Akt der Bildung.
       
       Die Taten bekommen ein Gesicht: Zwar steht die Verkäuferin und
       SS-Aufseherin Johanna E. Anders, die Häftlingsfrauen misshandelte, für
       viele. Auch die Nachbarn im Wulfsdorfer Weg, die den SPDler Alfred Schär
       denunzierten, der später im KZ starb, waren keine exponierten Leute.
       Sondern unspektakulär, alltäglich, Leute wie du und ich.
       
       „Es ist kein Zufall, dass diese Forschungen erst nach dem Tod der Täter und
       ihrer Sympathisanten begannen“, sagt NS-Forscher Bajohr. „Erst in den
       1990er- Jahren hat sich die Bundesrepublik dem breiten Mitmachen und Firmen
       sich ihrer eigenen Geschichte gestellt.“ Im Übrigen erfordere es noch heute
       Mut, Namen zu nennen.
       
       Den hat jetzt auch die Hamburgische Bürgerschaft gefasst: Vor wenigen Tagen
       hat deren Präsidentin Carola Veit (SPD) initiiert, dass die nach 1945 im
       Stadtparlament präsenten Abgeordneten auf eventuelle NS-Vergangenheit
       untersucht werden. Anfang 2018 will man die Resultate in einer Ausstellung
       präsentieren. Dann wäre die Topographie vollständig. Stolpersteine jener
       Abgeordneten, die Opfer des NS-Regimes wurden, liegen seit 2012 vor
       Hamburgs Rathaus.
       
       8 Mar 2016
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.hamburg.de/ns-dabeigewesene/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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