# taz.de -- Pläne für Kindl-Areal in Neukölln: Was braut sich da zusammen?
       
       > Auf dem Gelände der Ex-Brauerei soll ein Kulturstandort entstehen, an dem
       > auch neue Wohnformen ausgetestet werden. Das wird den Kiez verändern. Nur
       > wie?
       
 (IMG) Bild: Hier passiert was. Aber was?
       
       17.360 Quadratmeter – eine Fläche größer als zwei Fußballfelder, mitten in
       Berlin. Was könnte man damit alles anstellen? Das ist in Neukölln derzeit
       eine aktuelle Frage: Mitten im Rollbergkiez, zwischen Hermann- und
       Karl-Marx-Straße, ist auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei noch
       viel Platz. Das Gelände liegt nicht weit vom Rathaus Neukölln, ist umgeben
       von der Rollbergsiedlung mit Sozialbauten aus den 1960er und 70er Jahren
       genauso wie von historischen Häusern in der Boddinstraße. Bis vor elf
       Jahren wurde hier noch im großen Stil Bier gebraut wurde. Und was kommt
       jetzt?
       
       Diese Frage stellt sich zurzeit Angelika Drescher. Die 47-Jährige mit dem
       schwäbischen Einschlag in der Stimme ist Architektin, seit September
       letzten Jahres aber auch Geschäftsführerin der Vollgut UG, einer
       Gesellschaft, der das Gelände gehört. Die Firma wiederum ist eine
       100-prozentige Tochter der Schweizer Stiftung Edith Maryon, die sich die
       „Förderung sozialer Wohn- und Arbeitsstätten“ auf die Fahnen geschrieben
       hat. Vollgut, der kuriose Name der Gesellschaft, entstand nicht aus
       Eigenlob: „Der gesamte Gebäudebestand, den man kaum sieht, weil er aus vier
       Untergeschossen besteht, war früher unter anderem ein Vollgutlager“,
       erklärt Drescher. „Dort wurden die vollen Bierfässer gelagert.“
       
       Diese riesigen Räume warten darauf, mit Leben gefüllt zu werden – zumindest
       teilweise. 38.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche sind es insgesamt, was
       der Grundfläche aller bereits bestehenden Räume entspricht. Ein
       Getränkehandel, eine 10.000 Quadratmeter große Kartbahn, der queere Club
       SchwuZ, die Event-Location Vollgutlager und Lagerflächen verschiedener
       Ateliers sind da schon untergebracht. Trotzdem ist noch reichlich Platz für
       weitere Ideen.
       
       ## Wohnen und Wirtschaften
       
       Den will Drescher nutzen: „Wir versuchen, eine gute Mischung entstehen zu
       lassen.“ Das soll mit zwei Vorhaben gelingen: Das Projekt mit dem
       unspektakulären Namen „Alltag“ will neue Wohnformen ausprobieren; zum
       anderen will man in einem „Circular Economy Lab“, das auf den Namen
       „Rollberg“ hört, andere Formen des Wirtschaftens praktisch erkunden.
       
       Im „Alltag“ sollen Menschen in gemeinschaftlichen Strukturen wohnen – aber
       nicht für immer, sondern auf Zeit: „Die Idee ist, dass die Leute keine
       Hotel-Überflieger sind, die dann nur das hippe Neukölln für sich entdecken
       und aussaugen“, so Drescher. Als Nutzer sind etwa Organisationen im
       Gespräch, die Flüchtlinge unterbringen wollen. Auch betreutes Wohnen sei
       denkbar, „durchaus in Nachbarschaft mit Pensionsgästen“.
       
       Wer es am Ende wird, dürfte sich im nächsten halben Jahr konkretisieren.
       Aber auch, wenn das „Alltag“ kein klassisches Hotel wird – funktionieren
       soll es ähnlich: „Das unterliegt dann nicht dem normalen Mietrecht, sondern
       dem Beherbergungsrecht“, erklärt Drescher. Was auch bedeutet: Menschen, die
       dort leben, sind gesetzlich deutlich schlechter geschützt als bei einem
       normalen Mietvertrag.
       
       Das zweite Projekt konzentriert sich vor allem auf den Umgang mit
       Ressourcen und neue Arten der Abfallwirtschaft. „Hier entsteht eine Art
       Kreislaufhaus namens Rollberg, das von jungen Forschern und Start-ups
       betrieben wird“, erklärt Drescher. Auf die schon jetzt vorhandene Halle
       sollen später weitere Stockwerke gebaut werden, in denen Wohnraum entsteht,
       der ebenfalls in den Kreislaufgedanken mit einbezogen wird.
       
       Sowohl das „Alltag“ als auch das Kreislaufhaus „Rollberg“ werden als
       experimenteller Geschosswohnbau im Rahmen des Sondervermögens Infrastruktur
       der wachsenden Stadt (Siwa) vom Senat gefördert. Damit einher geht die
       Verpflichtung, 20 Jahre lang einen bestimmten Anteil der Wohnungen zu einer
       Nettokaltmiete von anfangs 6,50 Euro pro Quadratmeter an Menschen mit
       Wohnberechtigungsschein zu vermieten.
       
       Innerhalb der 20 Jahre steigt diese Miete bis auf 8,50 Euro; danach darf
       sie im Rahmen geltender Gesetze normal erhöht werden. „Derzeitiger
       Planungsstand ist, dass der Anteil mietpreisgebundener Wohnungen in den
       Vorhaben von 50 bis 100 Prozent variiert“, erklärt Martin Pallgen, Sprecher
       der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Ob es beim Vollgut eher 50 oder
       eher 100 Prozent werden, könne er aber wegen des frühen Planungsstandes
       noch nicht sagen.
       
       Eine Garantie für günstigen Wohnraum wollen die Vollgut-Macher nicht geben,
       „um nicht zu viele Begehrlichkeiten zu wecken“, sagt Angelika Drescher. „Da
       werden aber ganz sicher nicht hochpreisige Eigentumswohnungen entstehen.“
       Trotzdem wisse sie, dass es wahrscheinlich zu einer Aufwertung kommen
       werde: „Am Vollgut soll diese Aufwertung unmittelbar allen Nachbarn
       zugutekommen. Das ist mit Sicherheit zu schaffen.“ Sie wird sich an diesem
       Versprechen messen lassen müssen.
       
       ## Bebauungsplan steht
       
       Für das Projekt „Alltag“ und das Circular Economy Lab gibt es bereits einen
       Bebauungsplan – darüber, was sonst entstehen soll, bislang nur grobe
       Vorstellungen: ein Kulturstandort, gemischt mit Wohnen und sozialen
       Einrichtungen. „Im Moment sind wir noch dabei, kennenzulernen, was alles da
       ist“, so Drescher. In jedem Fall wollen sich die Vollgut-Macher der
       Öffentlichkeit nicht verschließen – und das auch ganz praktisch: So soll
       auf dem bislang nur wenig genutzten Gelände ein Stadtplatz entstehen, und
       alles soll besser zugänglich werden.
       
       Ein erster Schritt: der Bau der sogenannten Kindl-Treppe, die das Gelände
       auch von der Neckarstraße erschließt – bislang kam man von dort wegen einer
       großen Mauer nicht auf das Gelände. Am Samstag, dem Tag des Städtebaus,
       wird sie eröffnet: „Mit einem großen Nachbarschaftsfest, zu dem alle
       jetzigen Nutzer etwas beitragen und wir alle aufs Gelände locken wollen“,
       erzählt Drescher.
       
       Nach dieser symbolischen Öffnung soll dann auch ganz praktisch mit der
       Nachbarschaft kooperiert werden: „Im Weiteren wollen wir Ideen sammeln, uns
       Vorschläge der bestehenden Nutzer und der Nachbarschaft anhören und auch
       ein breiteres Forum schaffen“, verspricht Angelika Drescher. Wie bindend
       die Vorschläge der Nachbarschaft sind oder wie die Entscheidungen darüber,
       was das Gelände einmal beherbergen soll, konkret getroffen werden, bleibt
       aber offen: „Für weitere Entscheidungen lassen wir uns Zeit.“
       
       ## Netz von Berliner Projekten
       
       Was man erwarten kann und was eher nicht, darüber können in Berlin auch 13
       andere Orte Auskunft geben. Ob der Schokoladen in Mitte, das Ex-Rotaprint
       im Wedding oder die Rigaer Straße 78 in Friedrichshain – all diese Objekte
       sind schon seit Jahren im Besitz der Stiftung Edith Maryon. 113 Projekte
       betreut sie in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Ungarn und Frankreich.
       Das klingt ein bisschen nach Immobilien-Multi – im Gegensatz zu solchen hat
       sich die Maryon-Stiftung aber die „Förderung sozialer Wohn- und
       Arbeitsstätten“ auf die Fahnen geschrieben.
       
       Gegründet wurde sie vor 25 Jahren „aus Hobby, ja als Spaß“, erzählt
       Geschäftsführer Christoph Langscheid. „Wir waren ein Freundeskreis, in dem
       alle mit Bauen und Immobilien zu tun hatten, und schon damals haben wir
       Fehlentwicklungen beobachtet.“ Man habe kaum Startkapital gehabt – trotzdem
       ließ Arbeit nicht lange auf sich warten: „Wir waren selber erstaunt, wie
       viele Projekte und Möglichkeiten durch Netzwerke reinkamen“, sagt
       Langscheid.
       
       Heute kümmert sich die Stiftung in Berlin um 14 Projekte. „Unser Fokus ist,
       die Immobilien, Grund und Boden langfristig zu halten und für Gemeinwohl im
       weitesten Sinne zur Verfügung zu stellen“, so Langscheid. „Grundstücke
       erwerben, bauen und Eigentum veräußern – das ist ausgeschlossen!“ Einen
       Masterplan für Berlin gebe es aber nicht: „Das wäre schlimm!“
       
       Die meisten bisherigen Mieter in den Objekten der Stiftung können nichts
       Schlechtes berichten: „Sehr zufrieden“ ist zum Beispiel Elektroinstallateur
       Detlef Bahr, der seit 15 Jahren mit seiner Firma auf dem
       Ex-Rotaprint-Gelände seinen Sitz hat. Die Miete sei niedrig, und es habe
       auch keine großen Erhöhungen gegeben. Auch Chris Keller vom Schokoladen in
       Mitte betont: „Es sind ehrenhafte Geschäftspartner, was uns betrifft.“ Zwar
       sei die Stiftung ein „harter Verhandlungspartner“ gewesen – aber immer auch
       fair: „Wir sind zufrieden.“
       
       Ganz anders geht es vielen BewohnerInnen des Wohnhauses Bornholmer Straße
       50/Jülicher Straße 30 im Wedding: Dort führt die Stiftung Edith Maryon laut
       eigener Auskunft gerade „eine behutsame Minimalsanierung durch, die mit den
       Bewohnern abgestimmt wurde, soweit es geht.“ Viele MieterInnen waren und
       sind jedoch dagegen, obwohl die Stiftung betont, auf kostentreibende
       Maßnahmen wie den Einbau eines Aufzugs, den Anbau von Balkons oder den
       Ausbau des Dachgeschosses zu verzichten. Die Nettokaltmiete würde trotzdem
       auf 6 bis 8 Euro pro Quadratmeter steigen – was teilweise einer Verdopplung
       der jetzigen Miete entspräche, wie die BewohnerInnen kritisieren. Die
       Stiftung klagt seit mehreren Jahren auf Duldung der Modernisierung – was
       dann doch eher an das Verhalten eines Immobilien-Multis erinnert statt an
       eine gemeinnützige Stiftung, deren Ziel die „Förderung sozialer Wohn- und
       Arbeitsstätten“ ist.
       
       Es wird sich zeigen müssen, wie die Stiftung weiter auf dem Gelände der
       ehemaligen Kindl-Brauerei agiert. In jedem Fall wird das Vollgut nicht das
       letzte Projekt der Maryon-Stiftung sein. Zwar sagt Geschäftsführer
       Christoph Langscheid: „Wir haben nie etwas Konkretes geplant als Stiftung,
       sondern haben einfach das gemacht, was auf uns zukam.“ Ausschließen, dass
       in Berlin schon bald das nächste Projekt ansteht, will er deshalb nicht.
       „Aber es gibt natürlich auch andere Städte, und es gibt auch noch die
       Schweiz, wo wir unseren Sitz haben.“ Langweilig wird es Langscheid also
       bestimmt nicht. „Ich bin gespannt, was kommt“, sagt er. Das gilt für die
       NeuköllnerInnen garantiert genauso.
       
       21 May 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaas-Wilhelm Brandenburg
       
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