# taz.de -- Israel feiert 70 Jahre Unabhängigkeit: Gretels Jahrhundert
       
       > Den 1. Weltkrieg, Weimar, die Nazizeit – das alles hat Gretel Merom
       > erlebt. Sie ist 105 Jahre alt. 1934 ging sie als überzeugte Zionistin
       > nach Palästina.
       
 (IMG) Bild: Gretel Merom im April 2018, aufgenommen in ihrem Altersheim im israelischen Haifa
       
       HAIFA taz | Vom Bahnhof am Strand aus führt die Straße in großen
       Serpentinen hinauf in die Karmel-Berge. Es geht steil aufwärts in Haifa,
       der Hafenstadt im Norden Israels. In einer Seitenstraße liegt das
       Elternheim Rischonei Hacarmel. Elternheime werden in Israel die Altenheime
       genannt, und dieses hier, betrieben vom Verein der mitteleuropäischen
       Einwanderer, ist ein besonders schöner Platz, mit einer großen
       Eingangshalle und von Gärten unterbrochenen Nebengebäuden.
       
       Gretel Merom sitzt in ihrem kleinen Apartment an einem Tisch und wartet
       schon auf die Besucher. Sie ist sehr klein und wirkt zerbrechlich, sie hat
       unendlich viele kleine Fältchen im Gesicht und strahlend blaue Augen.
       Gretel Merom, die unter dem Namen Gretel Baum in Frankfurt am Main
       aufgewachsen ist, steht in ihrem 106. Lebensjahr. Und sie ist wach,
       unglaublich wach.
       
       „Ich bin 1913 geboren worden. Ich erinnere mich dunkel an den Ersten
       Weltkrieg. Es gab keinen Kaffee und keine Butter. Viele Leute hatten nichts
       zu essen. Aber wir haben nicht hungern müssen. Mein Vater ist als
       Freiwilliger in den Krieg gezogen. Er war schon Jahre 50 alt und hätte
       nicht mehr gehen müssen. Wir hatten selbst in den Kriegsjahren immer eine
       Weihnachtsgans. Ein Kriegskamerad meines Vaters brachte sie zu uns.“
       
       Zwei Jahre nach der Geburt Gretels bekommt sie einen Bruder. Er erhält den
       Namen Rudolf. Viele deutsche Juden lassen sich wie Gretels Vater in ihrem
       Patriotismus nicht überbieten und ziehen für Kaiser und Vaterland in den
       Krieg. Norbert Baum kommt aus kleinen Verhältnissen aus Hasselbach im
       Taunus. Die Mutter Julie Baum entstammt der angesehenen Familie Geiger, die
       schon seit dem 17. Jahrhundert in Frankfurt ansässig ist. Das berühmteste
       Familienmitglied ist zweifellos Dr. Abraham Geiger (1810–1874), ein
       liberaler Rabbiner, der zu den Mitbegründern der Hochschule für die
       Wissenschaft des Judentums in Berlin zählt. Das Abraham Geiger Kolleg in
       Potsdam, an dem Rabbiner ausgebildet werden, erinnert mit seinem Namen
       heute an ihn. 
       
       ## Keine fromme Familie, dafür sehr deutsch
       
       „Unsere Famile war nicht sehr fromm. Wir haben auch keinen koscheren
       Haushalt geführt. Aber wir haben alle jüdischen Feiertage begangen. Mein
       Vater besaß ein Geschäft für Seide, feines Gewebe und Futterstoffe,
       Schneiderartikel en gros. Es ging uns recht gut. Wir hatten auch ein
       Kindermädchen. Wir wohnten im Reuterweg 73 im dritten Stock, ganz in der
       Nähe vom Opernplatz. Eigentlich war die Wohnung viel zu klein. Aber es war
       nicht genug Geld da. Wir hatten ein Wohnzimmer, ein Herrenzimmer, ein
       Esszimmer und ein Badezimmer und Küche und Vorratskammer natürlich. Aber es
       gab kein Kinderzimmer. Das Badezimmer war sehr groß, da haben wir Kinder
       geschlafen. Später habe in an der Wand im Esszimmer geschlafen. Es war sehr
       beengt.“
       
       Weihnachten wird auch für das christliche Kindermädchen gefeiert, das unter
       dem Dach wohnt. Die Baums zählen zu den etwa 30.000 jüdischen Frankfurtern.
       Allerdings bestehen in der Stadt zwei jüdische Gemeinden: die liberale
       Hauptgemeinde und die orthodoxe Austrittsgemeinde. In Letzterer sind eher
       jüdische Einwanderer aus Osteuropa organisiert, die vor allem in der
       Altstadt und im Osten leben, während das Gros der angestammten Frankfurter
       der Hauptgemeinde angehört – so wie die Baums. Viel von ihnen leben im
       wohlhabenderen Westend. 
       
       Gretel Merom kann sich noch an die Revolution von 1918 erinnern, als sie
       auf dem Schulweg einer großen Menschenmenge begegnet, die für und gegen die
       neue Republik demonstriert. Auch die Inflation von 1923 ist ihr im
       Gedächtnis geblieben, als der Vater beinahe sein Geschäft verloren hätte. 
       
       „Bei uns zu Hause ging es bürgerlich zu. Es gab einen großen Bücherschrank.
       Sobald ich die Buchstaben unterscheiden konnte, habe ich zu lesen begonnen,
       vor allem die Bücher, die meine Mutter weggeschlossen hatte. Meine Eltern
       verstanden sich als Deutsche. Sie waren im Centralverein der deutschen
       Juden organisiert. Vom Zionismus hielten sie überhaupt nichts. ‚Der ist für
       die armen polnischen Juden‘, hat meine Mutter immer gesagt.
       
       Jeden Morgen bin ich mit meinen Freundinnen zur Schule gegangen. Es spielte
       überhaupt keine Rolle, ob jemand jüdisch oder christlich war.“
       
       Gretel Baum besucht ab der Quarta die liberale Viktoria-Schule, die heutige
       Bettina-Schule. Weil sie so klein ist, wird sie „das Bäumche'“ genannt. 
       
       ## Wie Gretel Baum zur Zionistin wird
       
       „Deutsche Aufsätze habe ich sehr gern geschrieben. In Mathematik war ich
       dagegen eher schlecht. Und im Turnen war ich sehr gut. Ich wollte damals
       Tänzerin werden. Beinahe jeden Tag war ich im Palmengarten, denn dort wurde
       Musik gespielt. Ich bin dort auf die Bühne gegangen und habe getanzt.
       Häufig war ich in der Oper zu Gast. Die russische Meistertänzerin Anna
       Pawlowa als sterbenden Schwan habe ich niemals verpasst. Ich bin in die
       Tanzschule gegangen. Aber all das hat zu nichts geführt.“
       
       Im Gegensatz zu ihrem Bruder macht Gretel Baum in ihrem Elternhaus auf
       Opposition. Sie möchte koscher essen und setzt bei ihrer Mutter durch, dass
       sie keinen Schinken mehr vorgesetzt bekommt. Die Eltern reagieren mit
       Unverständnis. Nach der Inflation und dem fehlgeschlagenen Hitler-Putsch
       stabilisiert sich die Weimarer Republik, die Nazis gelten als
       Randerscheinung. Die Juden sind in Deutschland gleichberechtigte Bürger.
       Kaum einer von ihnen kann mit der Vorstellung einer Auswanderung nach
       Palästina etwas anfangen. 
       
       „Ich habe in den Sommerferien in der Schweiz einen jungen Mann
       kennengelernt. Ich fand ihn sehr nett und interessant. Wir sind zusammen
       spazieren gegangen, und er hat versucht, mich für den Zionismus zu
       indoktrinieren. Aber ich habe mir die Sache erst zu Hause gründlich
       überlegt. Dann bin ich Zionistin geworden. Ich ging unter dem Protest
       meiner Eltern zu den Heimabenden der zionistischen Jugendbewegung Kadimah.
       Einmal in der Woche haben wir einen Bundesabend abgehalten. Wir wollten ein
       sozialistisches Land in Palästina aufbauen. Zur Vorbereitung besuchte ich
       drei Monate lang die jüdische Haushaltsschule in Frankfurt und lernte
       kochen. Bei den Fahrten des Ju-gendbunds war ich nicht so oft dabei, ich
       war zu faul mitzugehen.“
       
       Gretel Baum liest die Schriften von Theodor Herzl, Simon Dubnow und Martin
       Buber. Bald leitet sie die Kadimah-Jugendgruppe. Die Eltern sind bestürzt.
       Der Vater ist so sehr gegen den Zionismus eingenommen, dass er am
       Sederabend den traditionellen Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“
       verweigert. Ende der 1920er Jahre stürzt die Wirtschaft ab und die Nazis
       gewinnen in Deutschland mehr und mehr an Bedeutung – für Gretel Baum ein
       weiterer Grund, ihrer Heimat den Rücken kehren zu wollen. Im Jahr 1932
       macht sie ihr Abitur und beginnt auf Wunsch der Eltern eine Lehre in einer
       Bank. Doch in Gedanken ist sie längst in Erez Israel. 
       
       „Nach der Machtübernahme der Nazis hat man erst bemerkt, wie viele Leute
       der NSDAP angehörten. Unser Deutschlehrer war plötzlich ein ganz großer
       Mann in der Partei. Ich hatte die Schule ja glücklicherweise schon
       abgeschlossen. Am 1. April 1933, dem Tag des Boykotts gegen jüdische
       Geschäfte, war ich in Frankfurt, aber ich weiß nicht mehr, wo. Ich weiß
       nur, dass ich froh war, dass ich bald wegkonnte. Mein Vater ist an diesem
       Tag ins Geschäft gegangen. ‚Ich habe keine Angst‘, hat er gesagt. Er ist
       verprügelt worden, und die Nazis haben das Geschäft beschmiert. Aber meine
       Eltern haben geglaubt, dass es nicht so schlimm werden würde. Sie dachten,
       das würde wieder vorübergehen. ‚Ich liebe Deutschland‘, hat mein Vater
       immer gesagt.
       
       Ich weiß noch, wie die Nazis die Friedrichstraße entlangmarschiert sind.
       Und ich kann dieses Lied immer noch auswendig: ‚Die Fahne hoch, die Reihen
       dicht geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt, den Bruder
       Erhard haben sie erschossen, er schreitet in unseren Reihen mit.‘ Stellen
       Sie sich vor, das habe ich bis heute behalten. Ich kann es nicht vergessen.
       Schrecklich.“
       
       Gretel Baum kündigt ihre Stelle bei der Bank. 1934 wandert sie ins
       britische Mandatsgebiet Palästina aus. Sie reist über Triest nach Jaffa.
       Der Dampfer heißt „Jerusalem“. Die allermeisten deutschen Juden bleiben zu
       diesem Zeitpunkt in Deutschland und hoffen, dass das Regime sich mäßigt. 
       
       ## Nazis an der Macht, Gretel erreicht Palästina
       
       „Eines Tages traf ich in Frankfurt zufällig eine ehemalige Mitschülerin.
       Sie fragte nach meinen Plänen. Ich antwortete: ‚Ich wandere aus.‘ Da hat
       sie gesagt: ‚Du bist verrückt!‘ Ja, ich wurde für verrückt erklärt. Aber
       ich war Zionistin, und es war meine Verrücktheit, aber ich hatte recht. Ich
       war so überzeugt, ich habe meine Eltern nicht verstanden. Meine Mutter war
       todunglücklich, als ich gefahren bin. Sie hat geweint. Ich mache mir heute
       Vorwürfe. Das hat mich damals überhaupt nicht berührt. Ich habe nur daran
       gedacht, dass ich jetzt weggehe.“
       
       Am 30. April 1934 landet die 21-Jährige Gretel Baum zusammen mit ihren
       Kameradinnen von der zionistischen Jugendgruppe in Palästina. Sie kommt
       zusammen mit zwei Freundinnen in ein Meshek Poalot, eine Farm für die
       landwirtschaftlichen Ausbildung junger Frauen. Gretel arbeitet in einer
       Orangenplantage und zieht von morgens früh bis abends spät mit einer Harke
       Gräben, die das Wasser halten sollen. Später wechselt sie in einen neu
       gegründeten Kibbuz. Es gibt kein persönliches Eigentum, selbst die
       Unterwäsche wird zur allgemeinen Nutzung ausgegeben, die Wäsche kollektiv
       einmal in der Woche ausgeteilt. Man schläft in Zelten oder Baracken. Es
       gibt einen Speisesaal für alle und Duschen für beide Geschlechter
       gemeinsam. 
       
       „Da habe ich in der Küche gearbeitet. Die wollten mich keine
       landwirtschaftliche Arbeit machen lassen. Ich habe zu gut gekocht. Ich
       lernte meinen ersten Mann kennen. Ich war verliebt, aber es war ein großer
       Fehler. Das Geld rann ihm durch die Finger.“
       
       1935 bekommen sie ein Baby, das sie Micha nennen. Auf Wunsch ihres Manns
       verlässt die Familie den Kibbuz und lebt in sehr einfachen Verhältnissen in
       der Nähe von Rischon LeZion. 
       
       „Ich hatte brieflichen Kontakt mit meinen Eltern in Frankfurt. Im Jahr 1936
       kam meine Mutter sogar nach Palästina zu Besuch. Aber es hat ihr nicht
       gefallen. Es war ihr alles zu anstrengend. Sie blieb ein paar Wochen,
       teilweise ist sie durchs Land gefahren. Aber die meiste Zeit waren wir
       zusammen. Und unsere Differenzen blieben.“
       
       Solche „Probereisen“ nach Palästina sind Mitte der 1930er Jahre nicht
       ungewöhnlich. Wohlhabendere deutsche Juden kommen ins Land, um zu schauen,
       ob ihnen Erez Israel als Emigrationsziel zusagt. Viele reisen angesichts
       der primitiven Verhältnisse enttäuscht wieder nach Deutschland zurück. Sie
       können nicht wissen, dass die Nazis schon wenige Jahre später den
       Massenmord beschließen. 
       
       ## Der letzte Brief der Eltern
       
       Mit Datum vom 15. Oktober 1941 richtet die Mutter ihren letzten Brief an
       Gretels Bruder Rudolf in den USA: 
       
       „Mein lieber Rudolf,
       
       wir erhalten erst heute Deinen Brief No. 8 vom 18. 9., und hat dieses Mal
       die Post wieder etwas länger gedauert. Wir erwarten nun weiter Deine
       Nachricht betr. Cuba, da die Sache sehr dringend ist und jeden Tag
       dringlicher wird. Du kannst Dir denken, dass wir in solcher Zeit sehnlichst
       auf Antwort warten, immer noch in der Hoffnung, dass es Dir gelingt, etwas
       für uns zu erreichen, denn das ist die einzige Hoffnung, die wir haben. Wir
       hören inzwischen, dass durch Washington die Anweisung gegeben wurde, in
       Berlin resp. Lissabon Visa für die U.S.A. zu erstellen. Es scheint in
       dieser Beziehung eine Möglichkeit zu geben. […] Hoffentlich hast Du
       angenehme Feiertage gehabt, und es geht Dir gut. Bleibe gesund und lasse
       baldigst von Dir hören, hoffentlich nur gutes. Mit innigen Grüßen und
       Küssen,
       
       Mutti“
       
       „Dieser letzte Brief verfolgt mich bis heute. Mein Bruder war in die USA
       ausgewandert. Ich konnte für meine Eltern kein Zertifikat für Palästina
       bekommen. Aber warum hat mein Bruder sie nicht rechtzeitig herausgebracht?
       Ich kann ihn leider nicht mehr fragen, denn er ist verstorben.“
       
       Julie und Norbert Baum werden mit dem ersten Deportationszug aus
       Frankfurt am Main am 19. Oktober 1941 zusammen mit mehr als 1.100 Menschen
       in das jüdische Getto Lodz im deutsch besetzten Polen verschleppt. Am 4.
       Mai 1942 wählt die Mutter aus Furcht vor einer weiteren Deportation den
       Freitod. Der Vater soll am 22. Februar 1942 verstorben sein. Aber das
       erfährt Gretel Merom erst viele Jahre nach dem Krieg. 
       
       Mit Kriegsbeginn geht Gretel Meroms Mann zur britischen Royal Air Force,
       und auch sie arbeitet bald für das britische Militär. Die Juden in
       Palästina haben beschlossen, die Alliierten im Kampf gegen Nazi-Deutschland
       vorbehaltlos zu unterstützen. Als Rommels Afrikakorps 1942 tief in Ägypten
       steht, befürchten zionistische Politiker, die Nazis könnten schon bald
       Palästina erobern. Doch die Wehrmacht wird im Herbst 1942 in Afrika
       geschlagen. 
       
       Nach Kriegsende trennt sich Gretel Merom von ihrem Mann. Die Juden in
       Palästina unterstützen den Teilungsplan der Vereinten Nationen und
       verlangen die eigene Unabhängigkeit, die Araber lehnen beides ab, und die
       Briten lavieren zwischen beiden. Die Spannungen wachsen. Gretel wird
       Mitglied der paramilitärischen Truppe Haganah. Am 14. Mai 1948, nach dem
       Abzug der letzten britischen Soldaten, erklärt David Ben Gurion die
       Unabhängigkeit des Staats Israel. Er spricht: „Der furchtbare Massenmord,
       der in unseren Tagen zur Vernichtung von Millionen von europäischen Juden
       geführt hat, hat wiederum in einer unwiderleglichen Weise den zwingenden
       Beweis dafür erbracht, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit in
       der Erneuerung des jüdischen Staatswesens im Land Israel sein Lösung
       finden müsse, in der Gründung eines Staates, dessen Tore jedem Juden offen
       stehen.“ Am selben Tag beginnt der Krieg der arabischen Nachbarländer gegen
       Israel. 
       
       ## Erinnerung an Israels Unabhängigkeitserklärung
       
       „Ja, die Unabhängigkeit! Jetzt feiert man schon den 70. Jahrestag! Das
       haben wir geschafft. Damals sind wir auf die Straße gelaufen und haben die
       ganze Nacht getanzt und gefeiert. Dann kam der Krieg. Alle Männer und viele
       Frauen mussten zum Militär. Ich musste nicht, weil ich einen Sohn hatte.
       Wir hatten alle nichts zu essen. Aber irgendwie ging es schon. Ich erinnere
       mich, dass ich gekocht habe, die Suppe habe ich mit meinem Sohn gegessen,
       und der Sohn hat am nächsten Tag das Fleisch bekommen. Es gab diesen
       schrecklichen Primus-Kocher. Der hat immer furchtbar gestunken. Ich
       arbeitete als Dienstmädchen. Ich musste die Wohnung sauber machen und Staub
       wischen. Aber ich habe diese Arbeit gehasst wie die Pest.Ich wohnte in
       Petah Tikva in einer kleinen Wohnung, aber ich konnte sie nicht bezahlen.
       Mit dem Geld gab es immer Zores. Erst als die Wiedergutmachung kam, habe
       ich zum ersten Mal wirklich Geld bekommen.“
       
       Israel ist in den 1950er Jahren ein armes Entwicklungsland. Viele
       Einwanderer aus dem Nahen Osten müssen in Zelten wohnen. Lebensmittel und
       andere Dinge sind rationiert, es gibt immer denselben Konservenfisch und
       denselben Käse zu essen. 
       
       „Ich habe diese Armut nicht so empfunden. Es war schwer, aber wir haben es
       überstanden. Ja, ich war stolz, dass Israel es geschafft hatte. Aber heute
       bin ich eigentlich viel stolzer als damals. Damals musste man sich viel zu
       sehr um das eigene Leben kümmern, als stolz zu sein. Heute bin ich sehr
       zufrieden. Ich bin zwar schon alt, und ich habe dauernd vor Augen, dass es
       mir schwer ist, zu leben, und schwer ist, zu sterben. Wenn mir jemand sagen
       würde, was nach dem Tod kommt, wäre ich damit sehr zufrieden. Aber keiner
       ist zurückgekommen.“
       
       1961 beginnt der Prozess gegen den Organisator des Holocaust, Adolf
       Eichmann, in Jerusalem. Die in Israel verdrängte Geschichte kommt wieder
       hoch. Eichmann wird zum Tode verurteilt und hingerichtet. 
       
       „Ich fand es furchtbar, dass er hingerichtet worden ist, aber es war
       irgendwie auch richtig. Es war ein schrecklicher Mensch. Ich weiß nicht, ob
       ich für die Todesstrafe gestimmt hätte. Aber er hat es wahrscheinlich
       verdient. Ich hatte mir geschworen, nie mehr mit einem Deutschen zu reden
       oder ihm die Hand zu geben. Aber dann habe ich einen jungen Mann
       kennengelernt, einen Deutschen, der mit einer Gruppe nach Israel kommen
       wollte, aber nicht einreisen durfte, weil der Eichmann-Prozess gerade
       stattfand. Roy Wiehn ist heute einer meiner besten Freunde.“
       
       Gretel Merom erinnert sich an den Sechstagekrieg im Jahr 1967. Doch sie
       glaubt, dass es besser gewesen wäre, Israel hätte die besetzten Gebiete
       gegen einen Frieden eingetauscht. Seit Jahrzehnten ist sie Mitglied der
       sozialdemokratischen Arbeitspartei. „Wir müssen Frieden machen. Vielleicht
       können wir die Araber überzeugen“, sagt sie. 
       
       Zuletzt arbeitet Gretel Meróm als Frendsprachensekretärin in einem
       Krankenhaus in Haifa. Sie heiratet erneut. 1988, da ist Gretel Merom 75
       Jahre alt, zieht das Ehepaar gemeinsam in das Elternheim Rischonei
       Hacarmel. Ihr Mann stirbt nur wenige Jahre darauf. Noch mit 95 Jahren
       schreibt sie ihre Lebenserinnerungen auf. Mehrfach ist Gretel Merom in
       ihrer alten Heimat Frankfurt zu Besuch gewesen. Die Aufnahme dort sei sehr
       freundlich gewesen. 
       
       „Aber es war schmerzhaft für mich, zum Haus meiner Eltern zurückzukehren.
       Das war schlimm. Weil sie meine Eltern umgebracht haben. Das kann ich ihnen
       nicht vergessen.“
       
       Frau Merom, ich habe noch ein letzte Frage. Wie schafft man es, so alt zu
       werden? 
       
       Das weiß ich nicht.
       
       Hatten Sie bestimmte Gewohnheiten? Etwa, kein Fleisch zu essen? 
       
       Nein.
       
       Keinen Alkohol zu trinken? 
       
       Ich habe gerne getrunken.
       
       Nicht zu rauchen? 
       
       Ich habe geraucht, bis ich 50 war, 30 Zigaretten am Tag. Ich weiß wirklich
       nicht, was mich so alt werden lässt.
       
       Und dann bittet Gretel Merom den Besucher, doch im nächsten Jahr wieder
       vorbeizuschauen.
       
       19 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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