# taz.de -- Nachruf auf Judith Kerr: Es kommt kein Tiger mehr zum Tee
       
       > Judith Kerr, Flüchtlingskind aus Deutschland und gefeierte
       > Kinderbuchautorin in England, ist tot. Sie wurde 95 Jahre alt.
       
 (IMG) Bild: Die Schriftstellerin und Illustratorin Judith Kerr
       
       Ganze Generationen in England sind mit „The Tiger Who Came To Tea“
       aufgewachsen, dem Kinderbuch darüber, wie es an der Tür klopft und draußen
       ein Tiger steht, der Hunger hat und freundlich um Hilfe bittet. Er setzt
       sich mit der Mutter und den Kindern an den Tisch, frisst nach und nach
       alles Essbare im Haus und trinkt sogar die Wasserhähne leer. Als er geht
       und der Vater von der Arbeit kommt, merkt die Familie, dass nichts mehr da
       ist. Die Geschichte hat ein naheliegendes gutes Ende – und als Parabel
       darüber, wie das Unerhörte in den Alltag einbricht und man dann trotzdem
       klarkommt, hat sie sich auf Englisch millionenfach verkauft.
       
       Judith Kerr brachte diese Gute-Nacht-Geschichte für ihre kleine Tochter
       1968 zu Papier und wurde damit und mit weiteren selbst illustrierten
       Geschichten voller Tiere und Kinder zu einer der meistgeliebten
       Kinderbuchautorin Großbritanniens. In Deutschland ist die in Berlin
       geborene Tochter des berühmten jüdischen Theaterkritikers Alfred Kerr eher
       für ihre autobiografische Trilogie berühmt geworden, die sie später nach
       und nach verfasste: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, „Warten bis der
       Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“. Es geht um die Flucht ihrer
       Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1933, als sie selbst
       neun Jahre alt war – [1][erst in die Schweiz, dann nach Frankreich,
       schließlich nach Großbritannien.]
       
       Die neugierigen Kinderaugen und spannenden Reiseabenteuer des Anfangs
       verwandeln sich im Laufe der Jahre in einen zunehmend kritischen Blick auf
       ihr eigenes Großwerden im deutschen Bombenkrieg gegen London. Als sie im
       letzten, ziemlich verstörenden Buch als Fremde erstmals wieder das
       kriegszerstörte Nachkriegsberlin besucht, um kurz ihre verwitwete und
       kranke Mutter und ihren emporstrebenden Bruder zu sehen, bestätigt sie das
       in ihrem Entschluss, in London Wurzeln zu schlagen – mit ihrer eigenen
       Familie und Karriere, zunächst als Zeichnerin, später erst
       Schriftstellerin.
       
       ## Flucht ist vor allem Ankunft
       
       Es gibt nicht mehr viele Vertreter dieser Generation: die Flüchtlinge aus
       Europa und vor allem aus Nazideutschland in Großbritannien, die der
       britischen Standhaftigkeit gegen Hitler ihr Leben verdanken und auf der
       Insel blieben, und die sich wie Judith Kerr immer weigerten, aus
       Brexit-Gründen wieder einen deutschen Pass zu beantragen und damit dem Land
       untreu zu werden, das sie aufnahm. Sie fremdeln mit Deutschland, und
       Deutschland fremdelt mit ihnen.
       
       In Großbritannien sind sie längst Einheimische, eine Bereicherung. Judith
       Kerr hat in ihrem Werk die Lebensschicksale dahinter sichtbar gemacht – und
       damit die Lebensschicksale von Flüchtlingen insgesamt. Aus ihrem Leben
       heraus konnte Kerr das Erlebnis Flucht erzählen: als elementare
       Herausforderung, in der alle Selbstverständlichkeiten zerplatzen, die aber
       auch alles möglich macht. Flucht heißt nicht nur Weggang. Flucht heißt auch
       und vor allem: Ankunft.
       
       Ein wiederkehrendes Motiv bei Kerr ist die Abenddämmerung, wenn alle
       Lichter angehen und man durch den Trubel der Großstadt nach Hause kommt, wo
       es etwas zu essen gibt. Jeder auf der Welt, der jemals seine Heimat
       verlassen musste, ohne zu wissen was die Nacht bringt, weiß, wovon sie
       spricht.
       
       Der Tiger, der zum Tee kommt, kann auch als Fluchtursache gelesen werden,
       die abrupt das vertraute Leben beendet und die Familie zwingt, sich etwas
       zu essen zu suchen – ein Abenteuer, auf dessen Ausgang wie bei Judith Kerr
       Millionen von Menschen in ähnlichen Situationen heute vergeblich hoffen.
       „Also gingen sie hinaus in die Dunkelheit, und alle Straßenlampen
       leuchteten, und alle Autos hatten ihre Lichter an. Und sie liefen die
       Straße hinunter zu einem Café. Und sie hatten ein wunderschönes Abendessen
       mit Würstchen und Pommes und Eis.“
       
       Am Mittwoch ist Judith Kerr im Alter von 95 Jahren nach kurzer Krankheit
       gestorben.
       
       23 May 2019
       
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