# taz.de -- Hans Georg Calmeyer: Retter und Täter zugleich
       
       > Während der deutschen Besatzung der Niederlande hat Hans Georg Calmeyer
       > Tausende von Juden gerettet. Glorifizieren muss man ihn deshalb aber
       > nicht.
       
 (IMG) Bild: Vor seiner Zeit in der „Entscheidungsstelle“: Hans Georg Calmeyer in den 1930er-Jahren
       
       OSNABRÜCK taz | Um Hans Georg Calmeyer ranken sich Legenden. Er sei der
       Oskar Schindler von Osnabrück, heißt es in Anspielung auf den
       Fabrikbesitzer, der rund 1.200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung
       bewahrte. Ein ethisch über jeden Zweifel erhabener Retter, ein selbstloser
       Heroe, ein mutiger Kämpfer für Selbstbestimmung und Gerechtigkeit.
       Tausenden Juden habe der Rechtsanwalt Calmeyer während der deutschen
       Besatzung der Niederlande das Leben gerettet, indem er sie vor der
       Deportierung in die Vernichtungslager bewahrt habe. Calmeyer selbst sprach
       nach Kriegsende von 17.000 Menschenleben. Aber mit Legenden ist es so eine
       Sache, und Calmeyer bildet da keine Ausnahme: Dass er vielen Juden geholfen
       hat, steht außer Frage. Doch von 17.000 geretteten Leben war er weit
       entfernt – und eine Lichtgestalt war er nicht.
       
       Die Geschichte begann im Frühjahr 1941. Der Osnabrücker Calmeyer, der am
       deutschen Einmarsch in die Niederlande als Wehrmachtssoldat teilgenommen
       hatte, wurde auf eigenen Antrag an das „Reichskommissariat für die
       besetzten niederländischen Gebiete“ abgeordnet, in die Besatzungsverwaltung
       nach Den Haag. Dort leitete er die Abteilung „Innere Verwaltung“ und damit
       die „Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus Verordnung 6/41“ – das
       „Judenreferat“. Die Abteilung war bis Herbst 1944 aktiv und zuständig für
       „rassische Zweifelsfälle“ der Gesamterfassung der jüdischen Bevölkerung des
       Landes. Ergaben sich Zweifel, ob jemand als „ganz oder teilweise jüdischen
       Blutes anzusehen ist“, konnte das die Rettung bedeuten. In Calmeyers
       Dienststelle ergaben sich oft Zweifel – mit Absicht. Wissentlich
       akzeptierte sie gefälschte Taufbescheinigungen und Verlustanzeigen für
       Personalausweise.
       
       Was den Anschein der Echtheit erweckte, wirkte. Anwälte waren daran
       beteiligt, Ärzte, Standesbeamte, Gutachter, Kirchengemeinden. Ein
       „ausgeprägtes Empfinden der Rechtlichkeit“ sei sein „Erbgut“ gewesen,
       schrieb Calmeyer in seiner autobiografischen Lebensbilanz von 1946/47, der
       auch die Zahl 17.000 entstammt. Seine Zweifelsfall-Entscheidungen habe er
       als „grundsätzlicher und erbitterter Gegner der deutschen
       Judengesetzgebung“ getroffen. In der NS-Zeit habe er sich ein
       „ungebrochenes Rückgrat“ erhalten.
       
       Yad Vashem, die Jerusalemer „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des
       Staates Israel im Holocaust“ hat Calmeyer 1992 für „beeindruckendes
       Einschreiten“ den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen, so
       wie Oskar Schindler. Und das ist nicht Calmeyers einzige Ehrung: Die Stadt
       Osnabrück hat einen Platz nach ihm benannt und ihm die
       Justus-Möser-Medaille verliehen, ihre höchste Auszeichnung.
       
       ## Treibstoff für die Legende
       
       Dabei war über die Person Calmeyer lange nur wenig bekannt. Ein Osnabrücker
       Lehrer, der mittlerweile verstorbene [1][Peter Niebaum], entriss ihn Ende
       der 1980er dem Vergessen. Er besuchte Archive, sprach mit Zeitzeugen,
       schrieb Bücher und wurde dabei durch die örtliche
       „Hans-Calmeyer-Initiative“ (HCI) unterstützt.
       
       Das Problem: Niebaum verklärte und vereinfachte, idealisierte und
       glorifizierte Calmeyer. Der Lehrer betonte das Positive, lieferte
       Treibstoff für die Legende. In einem Vortrag sagte er: „Dieser meditative,
       spirituelle, hochgradig empathiefähige, der emotiv richtig gepolte,
       emotional intelligente C. könnte zum Leuchtturm werden für Menschen seiner
       Zeit und für Nachgeborene.“
       
       Die Widersprüche in Calmeyers Biografie wurden erst durch nüchternere,
       wissenschaftlichere Forschung aufgezeigt. Durch die niederländische
       Historikerin und Juristin Petra van den Boomgaard zum Beispiel: Ihre erst
       gut drei Monate alte Dissertation – „Kein Jude an die Nazis. Wie gut 2.500
       Juden durch die Umgehung von Rassenvorschriften der Deportation entgangen
       sind“ – listet Zahlen, Zahlen, Zahlen auf. Die Zahl 17.000 ist allerdings
       nicht darunter. Es seien 2.866 Menschen gewesen, rechnet van den Boomgaard
       vor, die durch Calmeyer und seine Abteilung der Deportation entgangen seien
       und überlebt hätten. 65 Prozent der Anträge seien positiv beschieden
       worden, 25 Prozent aber auch abgelehnt worden, oft mit tödlichen Folgen. In
       den übrigen zehn Prozent der Fälle ist nicht klar, was passiert ist. Zudem
       sind Akten verloren gegangen oder wurden zerstört.
       
       Wer es auf die „Calmeyer-Liste“ schaffte, hatte gute Chancen. Das Ganze
       fiel natürlich auf die Dauer auf – auch der SS. Aber zu einer Revision
       durch das Reichssicherheitshauptamt kam es nicht mehr: Im Herbst 1944
       rückten die Alliierten, nach der Luftlande-Operation Market Garden, an Den
       Haag heran. Die „Aktion Schmidt“, die Beschlagnahme seiner Akten,
       unterblieb.
       
       Petra van den Boomgaard hält Calmeyer für „eine höchst ambivalente
       Persönlichkeit“. Sie resümiert: „Es stimmt, er hat Juden geholfen. Aber
       zugleich hat er als loyaler Repräsentant eines Okkupationsregimes
       funktioniert, und als solcher war er zugleich auch Täter.“ Denn nicht alle
       Anträge hat Calmeyer bewilligt – längst nicht alle. Wer abgelehnt wurde,
       ging in die Vernichtungslager. Hunderte waren das. Calmeyer hat niemanden
       aktiv auf die Todeslistes der Nazis gesetzt, aber er hat eben auch nicht
       alle von ihnen gestrichen. „Sollte das Ziel nicht in Gefahr gebracht
       werden“, sagte er 1946 selbst dazu, habe er „auch einmal nein sagen“
       müssen. Er habe „den leidenschaftlichen guten Willen“ nur „in den Grenzen
       des Möglichen“ einsetzen können.
       
       Petra van den Boomgaard plädiert deshalb für eine „kritische Hinterfragung“
       Calmeyers, „neutral und transparent“. Und dann sagt sie: „Leider sehe ich
       Tendenzen in Osnabrück, ihn zum Helden zu stilisieren. Aber das wäre völlig
       falsch. Das würde Calmeyer in keiner Weise gerecht.“ Zudem müssten die
       Osnabrücker mit internationaler Kritik rechnen: „Nicht wenige Historiker
       sehen Calmeyer ja eher skeptisch, zumal hier in den Niederlanden.“
       
       Dafür gibt es gute Gründe. Etwa die Kosten, die für Juden angefallen sind,
       die sich auf die Calmeyer-Liste setzen ließen. Zwar stellte die
       Entscheidungsstelle selbst nichts in Rechnung, aber die Umgehung der
       Meldeverordnung VO 6/41 war teuer. Anwälte, Ärzte und Gutachter erhoben
       teils extrem hohe Honorare, auch die Urkundenfälschungen waren nicht
       umsonst. „Das war in erster Linie eine Rettungsaktion für das wohlhabende
       Bürgertum“, sagt van den Boomgaard. „Diese Seite von Calmeyers Tätigkeit
       darf man nicht ignorieren.“
       
       Kritikwürdig ist auch Calmeyers Stellung zum Mischehenverbot: „Es nützt
       nichts, Juden zu zählen“, schreibt er im September 1941 in einem Vermerk
       für seinen Vorgesetzten, „wenn man es nicht verbietet, Mischlinge in die
       Welt zu setzen.“ Menschenfreundlichkeit sieht anders aus.
       
       Dass die Stadt Osnabrück derzeit darüber nachdenkt, Calmeyer zum Anlass
       einer neuen Dauerpräsentation in der Villa Schlikker des Museumsquartiers
       Osnabrück zu machen, eines „Friedenslabors“, findet van den Boomgaard gut.
       „Aber das darf sich dann nicht auf Calmeyer beschränken. Da sollte es um
       das gesamte Unrechts- und Terror-System gehen, für und gegen das er
       gearbeitet hat. Und um eine Perspektivierung auf das Hier und Heute.“
       
       Van den Boomgaard sitzt im Beirat, den das Osnabrücker Kultusdezernat dafür
       eingerichtet hat und sie wurde von der HCI zum Ehrenmitglied ernannt. Aber
       ihren kritischen Blick verliert sie nicht: „Ich bin Wissenschaftlerin, ich
       liefere Fakten. Daher frustriert es mich ein bisschen, dass es in dieser
       ganzen Diskussion manchmal gar nicht um die Fakten geht, sondern um
       Überhöhung, Profilierung.“
       
       In der Tat ist Calmeyer ein Mann der Ambivalenzen. Im Herbst 1933, zum
       Beispiel, wurde dem Strafverteidiger die Anwaltszulassung entzogen, denn er
       verteidigte auch Kommunisten – und er beschäftigte jüdisches Personal. Um
       die Zulassung zurückzuerhalten, machte Calmeyer geltend, er habe den
       Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 als Paramilitär der Schwarzen Reichswehr
       erlebt, eines rechtsnationalen Freikorps.
       
       Es glückte: Ab Mitte 1934 konnte Calmeyer wieder als Anwalt arbeiten.
       Später trat er dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund bei.
       Widersprüche. Sie begleiten Calmeyer bis zum Ende. Er sei, schreibt der
       Osnabrücker 1965 an den niederländischen Historiker Jacques Presser, „mit
       unser aller Schuld und unser aller Versagen bis heute nicht fertig
       geworden“.
       
       Vor dem Krieg war Calmeyer Rechtsanwalt, nach dem Krieg war er es wieder.
       „Man muss Mut haben.“, schrieb er am 7. Oktober 1947 in einem Brief an
       seine Frau Ruth. „Es gibt Dinge, die sein sollen.“ Und: „Man kann den
       Dingen immer nur entgegengehen, nicht ausweichen.“ Wer will, liest das als
       Erklärung seiner Arbeit in Den Haag. Wer will, sieht darin eine
       Selbstinszenierung. Vielleicht ist es nichts davon. Vielleicht ist es
       beides.
       
       22 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.calmeyer.de/fileadmin/user_upload/479/Calmeyer%20-%20Der%20Mensch%20(Vortrag%20von%20P.Niebaum).pdf
       
       ## AUTOREN
       
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